We move forward – Snowpiercer (ROK/USA/F)

Snowpiercer

Ob bewusst deswegen gewählt oder nicht, ein genialer Schachzug ist das Casting von Chris Evans in Snowpiercer auf jeden Fall. Anders als den übrigen Filmsuperhelden seiner Generation ist Evans Captain America eine Naivität und Ehrlichkeit zu eigen, wie sie im Goldenen Comic-Zeitalter über die Panels flog und mit Christopher Reeve auf der Leinwand landete. Captain America, der in Joe Johnstons Abenteuer wohl nur von Marvel und zaghaften Drehbuchautoren davon abgehalten wurde, Hitler persönlich zu vermöbeln, mag neben arroganten Göttern, dauerironischen Milliardären und an sich selbst zweifelnden Wissenschaftlern als Utopie in Menschengestalt erscheinen. So nehmen wir Evans die Rolle des Messias Curtis in Bong Joon-hos neuem Film ohne Hintergedanken ab. Curtis ist kein Winston Smith oder Sam Lowry, kein kleines Licht, das durch einen Zufall in den Widerstand gegen ein repressives System gerät. Curtis ist auserwählt und so begrenzt Bong die Vorgeschichte auf einen kurzen Prolog, der von gescheiterten Maßnahmen gegen die globale Erwärmung erzählt. Verkörpert werden diese durch drei Flugzeuge, die den blauen Himmel in einem Akt menschlicher Selbstüberschätzung mit Kondensstreifen unter sich aufteilen und eine weltweite Eiszeit herbeiführen. Nur der Zug Snowpiercer, ein Perpetuum mobile erfunden vom genialen Wilford, umrundet viele Jahre später die lebensfeindliche Erdoberfläche. Die Glücklichen, die sich vor dem Kältetod in das Gefährt retten konnten, wurden einer sprichwörtlichen Klassengesellschaft zugeordnet. Wer ohne  Ticket an Bord kam, hat sein Leben in Armut und Unterdrückung zu verbringen. Ein Upgrade ist nicht vorgesehen. Hier, am hintersten Teil des Zuges, treffen wir Curtis an, der, ohne den üblichen Erweckungsmoment, welcher solchen Geschichten meist erklärend vorangeht, den Aufstand plant. Sein Ziel: Die Kontrolle über die Maschine erlangen, die den Snowpiercer antreibt. “We move forward”, lautet sein mehrfach wiederholter Schlachtruf. “Yes, we can”, möchte man ihm als Antwort zurufen.

Abteil für Abteil gilt es zu erobern und so erinnert Bong Joon-hos Blockbuster bisweilen an einen in die Horizontale verlegten “The Raid” oder “Dredd”. Mehr noch als diese beiden reinen Actionfilme lebt Snowpiercer von der Ungewissheit, was die Aufständischen im nächsten Wagon erwartet. Wird es ein Blick auf die Oberschicht oder die geballte Gegenwehr derselben? Egal, was hinter den Türen lauert oder welche Opfer zurückbleiben, es muss weitergehen, immer weiter nach vorne, wie auch der Zug zum wiederholten Male eine Schneise durch Eis und Schnee fräst, wie groß auch das Hindernis vor ihm ausfällt. Dieser dynamischen Grundidee entsprechend ist “Snowpiercer” ein enorm unterhaltsamer Film, der seinen ausgeklügelten Action-Setpieces in jedem Level eine Variation zuteil werden lässt, weshalb sie nie monoton oder ermüdend wirken. Kein anderer Regisseur reicht momentan an Bong Joon-ho heran, wenn es gilt, die Anforderungen eines Blockbusters uneitel den eigenen künstlerischen wie sozialkritischen Ambitionen einzuverleiben und eine erstaunlich homogene Synthese dieser andernorts widersprüchlichen Impulse auf die Leinwand zu bringen. Selbst den jüngsten Filmen von Guillermo del Toro und Alfonso Cuarón kann dieses Lob nicht mehr ohne weiteres zugesprochen werden. Und wenn es einen Genrekollegen gibt, den “Snowpiercer” in Erinnerung ruft, dann Cuaróns sieben Jahre alten “Children of Men”.

Bong Joon-ho, Chronist der Verdrängung, stellt seine Protagonisten regelmäßig vor die Wahl, sich dem eigenen Versagen zu öffnen. In den Kriminalgeschichten “Memories of Murder” und “Mother” nehmen sie im übertragenen Sinne Reißaus, in “The Host” ganz praktisch, wenn Koreas verschwiegene Vergangenheit in Monstergestalt hinter ihnen her jagt. Curtis, dessen Erinnerungen sich auf sein Leben im Zug beschränken, fügt sich mit “Snowpiercer” ohne großen Widerstand in Bongs Heldenkabinett ein, das in der Filmografie eines anderen Regisseurs nur für Bösewichte taugen würde. Sein rücksichtsloses Streben an die Spitze um der Veränderung willen ahmt im Grunde die Bewegung des Zuges nach, was seiner “Heldenfahrt” eine Doppeldeutigkeit verleiht, die den meisten Blockbuster-Heroen verwehrt bleibt. “We move forward.” Aber was passiert, wenn man an der Spitze angekommen ist?

“Snowpiercer” geht dieser Frage nicht aus dem Weg, ebenso wenig wie sich Bong und seine Co-Autorin Kelly Masterson auf einfache Freund-Feind-Darstellungen verlassen. Wie schon in seinen vorherigen Filmen beweist sich der Humanist im Einsatz der Großaufnahme, die dem quälenden Schmerz repressiver Gewalt im ausdrucksstarken Gesicht von Ewen Bremner ebenso zärtliche Achtung schenkt, wie den von der Macht verzerrten und verzehrten Zügen der kaum wieder zu erkennenden Tilda Swinton. Das starke Ensemble um Go Ah-sung, Song Kang-ho, Vlad Ivanov und Octavia Spencer kommt da wie gelegen und so verliert Snowpiercer den Mensch in dieser mit allen Mitteln auf den Fortschritt drängenden Rebellion nicht aus den Augen. Ein weiträumiges Kammerspiel ist Bong Joon-ho gelungen, eine dystopische, aber tagesaktuelle Zukunftsvision, die sich nicht davor scheut, mit ihrem clever gecasteten Helden eine der erzählerischen Grundfesten des Unterhaltungskinos zu entblößen. Der als nahezu sakrales Wunderwerk gefeierte Snowpiercer ist schließlich nur ein Zug. Und der fährt im Kreis.

Snowpiercer
(c) MFA

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