Kontrapunkt: Berlinale 2011

Vom 17. bis 20. Februar weilte ich in Berlin zum größten Publikums-Filmfestival der Welt. Neben den folgenden Kritiken sei Folgendes resümierend notiert:
1.) „Berlinale Shorts“ sind zu 75% gewöhnungsbedürftig, was die Filmauswahl angeht.
2.) Filme nur aufgrund ihres Handlungsortes (Berlin) aufzuführen, ist kein Argument.
3.) Etwas weniger International- und mehr Glamour-Politik würde bei der Filmauswahl nicht schaden.

Rundskop (B 2011)
Bullhead
, Sektion: Panorama

Von einer nichtsnutzigen, ihre Kinder verziehenden Alkoholikerfamilie, die in „Die Beschissenheit der Dinge“ nur Unsinn im Kopf hat, über eine Band in „Ex Drummer“, dessen Mitglieder kranke, abgestumpfte Familienmitglieder daheim haben und perverse sexuelle Veranlagungen aufweisen bis hin zum am Asperger-Syndrom leidenden Online-Rollenspieler in „Ben X“: Menschliche Abgründe und schwelende Ängste sind im belgischen Kino jüngeren Datums keine Seltenheit. So auch nicht in „Rundskop“, hinter dessen spannender Thrillerfassade sich ein tiefgreifendes Psychodrama verbirgt. Viehzüchter Jacky (Matthias Schoenartz) hat nach einer schicksalsträchtigen Auseinandersetzung in seiner Kindheit (welch verstörende Sequenz!) seiner Männlichkeit und mit Hormonen zu kämpfen, die er nicht nur seinen Tieren verabreicht. Mit dem eigenen zum Scheitern verurteilten sexuellen Begehren und den Machenschaften der Hormonmafia konfrontiert, gerät er in einen tödlichen Strudel aus Fleisch, Gewalt und Tod. Einige einen Kult an der Körperlichkeit abfeiernde Nahaufnahmen (auch in Zeitlupe) atmen in dem etwas inhaltsarmen Langfilmdebüt von Videoclip-Regisseur Michael R. Roskam eine archaische visuelle Kraft, welche ebenso wie die schwermütige Streichermusik meist das düstere, jederzeit entfesselbare, aggressive Temperament der Hauptfigur greifbar macht, ab und an jedoch etwas zu bedeutungsschwanger daherkommt. Ein zum Teil verstörend gewalttätiges Spiegelbild männlicher Urgewalt. Intensiv spürbares, physisches Kino in Reinkultur!

Lipstikka (IL/GB 2010)
Odem
, Sektion: Wettbewerb

Dass es nicht unbedingt einen Karriereexodus darstellen muss, wenn man in seiner Jugend in einer peinlichen Erotikklamauk-Reihe schauspielerisch begonnen hat, beweisen Heiner Lauterbach mit diversen „Schulmädchen-Report“-Auftritten und Jonathan Sagall, der in allen acht „Eis am Stiel“-Filmen mitwirkte. In seinem Langfilmdebüt „Kesher Ir“ und auch mit „Lipstikka“ blieb er dem Sujet zwischenmenschlicher Sexualbeziehungen zwar treu – jedoch stets auf dem Niveau einer gewichtigen Auseinandersetzung. Mit geschickt eingesetzten, zahlreichen Rückblenden erzählt er hier die Geschichte zweier palästinensischer Frauen, die in Ramallah zusammen zur Schule gehen, sich anfreunden, ineinander verlieben, sich trennen und schließlich Jahre später in London wieder aufeinander treffen. Doch während die ehemals schüchterne Lara (Clara Khoury) in einer scheinbar glücklichen, aber von Körperlichkeiten freien Ehe liebt, sucht die freimütige Inam (Nataly Attiya) immer noch nach Halt und Sicherheit im Leben. Prägend für beide ist die abweichende Erinnerung an eine Begebenheit in Jerusalem mit zwei israelischen Soldaten während der ersten Intifada. Subtil und leise, aber dennoch aufwühlend und verstörend fernab jeglicher Romantik erzählt Sagall eine traumatische Geschichte, die die Leben der beiden Frauen auf verschiedene Arten zerstörte. Ein schweres Thema und ein Film, der in Israel hitzige Debatten auslöste, aber in ausgeblichenen Bildern unprätentiös umgesetzt.

Life in a Day (USA 2011)
Das Leben in einem Tag
, Sektion: Panorama

Ca. 4600 Stunden von Privatpersonen eingesandtes, selbstgedrehtes Videomaterial wurde für dieses filmische Experiment gesichtet, knapp 90 Minuten davon schafften es in diese Aneinanderreihung kurzer Alltagepisoden verschiedener Menschen am 24. Juli 2010. Ist Regisseur Kevin Macdonald seit „The Last King of Scotland“ schon kein Unbekannter mehr, so sind es Produzent Ridley Scott und die Internetseite YouTube, die als Förderer auftritt, noch viel weniger. Umso weniger verwundert es, dass diese Homevideo-Kompilation nicht nur durch die Einsendungen, sondern auch von außen strukturiert wurde. Professionelle Kamerateams wurden für Zeitraffer von Naturaufnahmen und Statements an die entlegensten und internetfreiesten Winkel der Erde geschickt, drei zu beantwortende Fragen strukturieren den mal thematisch, mal assoziativ montierten Film. Dass suggestive pathetische Musik insbesondere im letzten Teil („Wovor hast du Angst?“) besonders auffällig eingesetzt wird und somit den ohnehin beklemmenden Handyvideos der letztjährigen Loveparade-Katastrophe eine fröstelnd emotionale Dimension hinzufügt, ist dabei jedoch nach dem vorangegangenen Wohlfühlschnipseln ein Glücksfall, was die Bandbreite der Emotionen angeht. Am Ende steht die Erkenntnis einer jungen Frau, dass sich keiner für sie interessiert und dieser Tag kein besonderer war. Diese trotz allem gewagte Dokumentation, die Homevideos und professionelle Aufnahmen nebst Musikuntermalung zu einem authentischen Ganzen formt, ist ein beeindruckendes Web-2.0-Filmdokument.

Darüber hinaus gesehen – kurz notiert:

Bombay Beach (Panorama): Zum Teil in erfrischend-frecher Videoclip-Ästhetik fotografierte Dokumentation über eine Familie an einen aussterbenden, surrealen Ort: einem Wüstensee in Kalifornien. Nicht zuletzt dank der Musik von Bob Dylan einfühlsam und nah dran an den Menschen.
The Forgiveness of Blood (Wettbewerb): Subtiles albanisches Familiendrama um die Wahrung des Kanun (Gewohnheitsrecht) durch einen Jungen, nachdem sein Onkel einen verfeindeten Nachbarn getötet hat. Tradition und Moderne, Eingesperrtsein und Freiheit werden im Verhalten der Kindergeneration dabei unprätentiös gegenübergestellt und kulminieren in einem Ende bar jeder Klischees.
Unknown Identity (Wettbewerb – außer Konkurrenz): Ein Agent mit Gedächtnisverlust (Liam Neeson) wird von den eigenen Reihen durch die Straßen Berlins gehetzt. Die lokale Situierung dieses zutiefst durchschnittlichen Agententhrillers und ein paar Stars, die mitspielen, waren wohl auch die ausschlaggebenden Kriterien dafür, dass das mit filmischen Stolperdrähten gestrafte Werk – Konstruiertheiten en masse; blöde Dialoge, insbesondere von Ex-Stasi-Mann Bruno Ganz – überhaupt laufen durfte.
Coriolanus (Wettbewerb): Ebenso ambitionierte wie durch ausladend lange Dialoge im Theaterstil anstrengende und enorm an dem zuvor durch Handkamera suggeriertem Tempo einbüßende Shakespeare-Verfilmung. Ralph Fiennes kann sein ganzes Können ausspielen, doch hätte er besser daran getan, den Stoff nicht ins Heute zu übertragen, was u. a. angesichts eines moderneren Demokratieverständnisses adäquat einfach nicht so recht funktionieren will.

Kontrapunkt: Angst und Schrecken

Diese Woche war ebenso furchtbar wie das wechselhafte Wetter. Nur (Magister-)Arbeit, soweit das Auge reicht und das Schlimmste dabei: Kein Lichtblick am Ende des 100-Seiten-Horizonts. Wie passend also, dass diese düstere Gemütslage auch die Filme bestimmte, die diese Woche dazu dienten, mich davon abzulenken.

The Last House on the Left (USA 2009)

Noch furchteinflößender als die Tatsache, dass die Kapitalisten vom Cinestar einmal mehr die Preise angezogen haben, so dass man auch am Kinotag mindestens 4,50 Euro oder noch mehr löhnen muss, wenn man denn “weiter oben” als in den vordersten vier Reihen sitzen will, ist dieses Remake des gleichnamigen Underground-Horrorklassikers von Wes Craven.

Ein Gangstertrio nimmt zwei knackige Mädels, die der Weichei-Sohn des Obermackers zum Kiffen eingeladen hat, als Geiseln und fährt mit ihnen in den Wald, um „Spaß zu haben“. Eine stirbt, die Andere kann schwer verletzt fliehen. Da das Auto der marodierenden bösen Buben kaputt ist, suchen sie für die Nacht ganz friedlich Unterschlupf bei einer nebenan wohnenden Familie, nicht ahnend, dass die zu dem flüchtigen Mädel gehört und Mami und Papi rachsüchtig sind. Die Handlung hat bei 109 Filmminuten einige Längen und die Charaktere sind den Genre-Konventionen entsprechend schlicht gezeichnet, aber spannend ist das ganze zum Teil arg sadistische Treiben immerhin. Wobei das infantil-krösige Mikrowellen-Entfremdungs-Finale extrem unnötig wirkt.

Silent Hill – Willkommen in der Hölle (CDN/F/J 2006)

Regisseur Christophe Gans (“Crying Freeman”) und Autor Roger Avary (“Die Regeln des Spiels”) verstehen eigentlich ihr Handwerk. Umso erstaunlicher, dass bei „Silent Hill“ grundsätzliche Regeln des Filmemachens missachtet werden: Es gibt keine Exposition, der Zuschauer wird gleich in das Geschehen um eine Mutter (Radha Mitchell), die ihr schlafwandelndes Psycho-Kind sucht, geworfen.

Alle Charaktere des Films – inklusive der komplett verschenkte Sean Bean als Vater – sind uns mangels jeglicher Charakterzeichnung scheißegal. Die meisten mysteriösen Geschehnisse um sich verändernde Räume bleiben unerklärt – dafür muss man wohl das Spiel gezockt haben. Logik gibt’s auch nicht, wenn Mutti vor der Polizei davondüst (warum eigentlich?) oder auf der Suche nach ihrer verschwundenen Tochter im Geisterstädtchen Silent Hill ständig dahin rennt, wo es am dunkelsten ist und die meisten Geister und sonstige böse Gestalten rumhängen. Und von dem blödsinnigen Ende, das keines ist, möchte ich gar nicht erst anfangen. Abseits der durchaus gelungenen, gruseligen Horror-Atmosphäre ein ziemlich geistloser Spuk-und-Mystery-Kack.

Der Untergang (D/I/A 2004)

Oder: Bernd Eichinger produziert mal wieder eine ausladende Geschichtsstunde. Zweieinhalb Stunden Zeit nahm sich Regisseur Oliver Hirschbiegel, um komplex die letzten Tage des Dritten Reichs zu inszenieren. Als Fixpunkt diente dabei Hitlers Sekretärin Traudl Junge (dargestellt von Alexandra Maria Lara), auf deren Erinnerungen „Der Untergang“ teilweise basiert. Doch das Vorhaben scheitert an den sehr vielen eingeführten historischen Figuren und deren Schicksalen, die man zeigen wollte, die aber in diffus nebeneinander stehenden Szenen einer homogenen Narration eher im Wege stehen.

Hitler wird von Bruno Ganz als Mensch gezeichnet, der zwischen Größenwahn und Verbitterung zusehends durch seinen Realitätsverlust im Glauben an den Endsieg auffällt und die vielen dunklen Bilder im Führerbunker erzeugen in Verbindung mit den nahezu ausgelassenen Freudenorgien in der Reichskanzlei und einigen brutalen Kriegsszenen ein groteskes Tableau des Schreckens. Dies ist als originell zu bezeichnen und bleibt ebenso wie Traudl Junges rahmende Ausführungen im Gedächtnis haften, der ambitionierte, aber anstrengende Rest jedoch nicht.