Kontrapunkt: Dr. Caligari vs. Dr. Parnassus

Zwischen beiden Filmen liegen knapp 90 Jahre Filmgeschichte. Von daher stellt sich schon von vornherein die Frage, ob es überhaupt fair ist, den Klassiker des Expressionismus und… nun ja… ein Werk von Terry Gilliam miteinander zu vergleichen. Doch nicht nur im Filmtitel („Das Kabinett des Dr. …“) bestehen Parallelen. Die titelgebenden Figuren sind hier wie dort Schausteller, welche ein dunkles Geheimnis umwebt und beide Filme lassen uns in vollkommen neue Welten eintauchen. Doch genau in letzterem Punkt unterscheiden sie sich erheblich voneinander.

Während weniger Regisseur Robert Wiene als seine Filmarchitekten Walter Reimann, Walter Röhrig und Hermann Warm die Seeelenlandschaften der Hauptfigur(en) mit fragwürdigem geistigen Gesundheitszustand nach außen trugen und somit eine fantastische Welt in die Realität hinein implementierten, sind in Gilliams Werk persönliche Geisteswelt und Realität strikt geschieden. Mit dem Eintreten in einen Spiegel öffnet sich diese Welt der Imaginationen, Wünsche und Triebe, wird „außen“ von „innen“ getrennt. Zunächst einen seltsamen, aus flachen Pappmaché-Bäumen bestehenden Wald durchkreuzend – daran hätten Reimann und Co. durchaus Gefallen gefunden – gelangen die Menschen des zahlenden Publikums in die Sphären ihres Unterbewusstseins, des bunten Märchens ihrer Fantasie. Diese fasziniert und lässt all jene Unzulänglichkeiten in Dialogen und Drehbuch vergessen, die sich während der „Real-Szenen“ dabei umso deutlicher abzeichnen.

Natürlich präsentiert uns der stets zur überdrehten Hektik neigende Gilliam diese Welt als visuelles Knallbonbon, setzt Logik und Größenverhältnisse außer Kraft. Tarsem Singh hatte jedoch mit „The Cell“ einige Jahre zuvor ähnliche, ebenso fremde wie fantastische Welten geschaffen, in denen ebenso wie hier neben der strahlenden Erfüllung von Wunschvorstellungen auch der Wahn, neben dem Bunten auch das Böse zu finden war. Das Motiv dort war die Geisteskrankheit oder Psychose, das Motiv hier ist der Teufel (launig dargestellt von Tom Waits). Der Handlungsraum ist bei Gilliam die scheinbar unendliche Welt, während Wiene eine einzige Stadt genügt. Gilliam entzaubert dabei seine eigenen Bilder, verortet sie als Extraordinäres im tristen Alltag der Schausteller, die nur noch wenige Menschen mit ihren Künsten und Zaubertricks zu fesseln vermögen. Wer dahinter eine Analogie zum Kino und die einbrechenden Umsatzzahlen vermutet, liegt richtig. Das Publikum und Gilliam, der sich spätestens seit „Brothers Grimm“, seinem schlechtesten Film, als Zelluloid-Zauberer versteht, haben – kommerziell gesehen – ein angespanntes Verhältnis. Und während „Dr. Caligari“ seinerzeit zum internationalen Kassenerfolg avancierte, spielte „Dr. Parnassus“ weltweit bisher gerade seine Produktionskosten wieder ein.

Durch seine internationale Bekanntheit wirkte „Dr. Caligari“ ebenso wie weitere Produktionen des Deutschen Expressionismus ihrerzeit stilprägend, beeinflussten insbesondere die Beleuchtungsmethoden des Film Noir sowie des modernen Horrorfilms. „Dr. Parnassus“ jedoch bleibt ebenso wie sein ambitionierter Regisseur ein Gesicht in der Menge. Die Narration beginnt, sich in den Szenenfolgen der Logik zu entledigen – Collin Farrell als Heath Ledger-Ersatz hetzt durch seine zerbrechende Imaginationswelt. Gilliam schwingt auf zum furiosen Bildersturm, bietet visuelle Effekte aus dem Computer en masse und offenbart die Seelenlosigkeit hinter den Bildern, während es Wiene und seinen Filmarchitekten mangels digitaler Technologie aber mit perfekter handwerklicher Technik gelang, die Vision im Kopf des Zuschauers tatsächlich entstehen zu lassen. Während „Dr. Caligari“ noch der Ort der Imagination, die Welt hinter dem Spiegel war, stellt sich „Dr. Parnassus“ davor auf, um sich mit einer Verbeugung für jene gute Show zu bedanken, die er selbst leider nicht mehr leisten konnte.

Kontrapunkt: Deutscher Expressionismus

Diese im Kern von 1919 bis 1924 dauernde und nur im Deutschland der Weimarer Republik verbreitete filmische Stilrichtung, bleibt nach wie vor die einzige, welche sich nachhaltig auf das internationale Kino auswirkte. Schiefe Architekturen, von Angst geprägte Stimmungen, harte Hell-Dunkel-Kontraste sowie die Themen der missbrauchten Autorität, des mysteriösen Anderen oder absonderlicher Lebensformen bestimmen die Vertreter dieser Werke, die hier in einem ersten Überblick vorgestellt werden sollen.

Das Cabinet des Dr. Caligari (D 1919)

Der mysteriöse Jahrmarktschausteller Dr. Caligari (großartig sinister: Werner Krauss) schickt im fiktiven Ort Holstenwall einen von ihm willenlos gemachten Somnambulisten los, zu töten. Stilbildender als die etwas zu statische Regie von Robert Wiene ist das Bühnenbild von Hermann Warm, Walter Röhrig und Walter Reimann, wobei vor allem letzterer als Maler zahlreiche gezeichnete Entwürfe für die Kulisse beitrug. Der komplett preisgünstig im Atelier gedrehte Film lebt von seiner Künstlichkeit, seinen schiefen und überdiemsnional empor ragenden Bauten mit abstrakten Formen, die – entsprechend der Thematik des Films – wirken, als seien sei der im Chaos versunkenen Welt eines verwirrten Geistes entsprungen. Aufgemalte, zackige Schatten, schiefe Häuser und verwinkelte Innenräume suggerieren eine von Angst verprägte, nach außen getragene Vorstellungswelt. So verwundert es auch nicht, dass letztendlich die originelle und bis heute in ihrer Omnipräsenz nicht wieder erreichte Form des expressionistischen Dekors über den etwas wirren Inhalt triumphiert. Weitere Ausführungen von mir dazu bei MovieMaze.

Der Golem, wie er in die Welt kam (D 1920)

Die Kulissen von Hans Poelzig, welcher eine alte mittelalterliche Stadt mit engen Straßen und hervorspringenden Erkern ebenso wie gewölbeähnliche Innenräume mit unregelmäßigen Spitzbögen und länglich zulaufenden, gotischen Fenster schuf, gehören zu den eindrucksvollsten Bauten des filmischen Expressionismus. Auch Paul Wegeners Leistung als künstlich geschaffener Lehmmensch Golem, seine Paraderolle, ist in dieser mit Märchenelementen angereicherten Fantasy einmal mehr angsteinflößend. Doch leider stößt der latent vorgetragene Antisemitismus des auf einer Sage basierenden Films bitter auf. Die gezeigten jüdischen Gottesdienste gleichen Teufelsbeschwörungen, die Erweckung des Golems zum Schutz der Juden erfolgt mittels „dunkler Mächte“. Schließlich wird der Golem, welcher als höriges Werkzeug Tod und Zerstörung anrichtet, von einem kleinen blonden Mädchen vor dem riesigen Tor zum Judenghetto gestoppt, welches an das Rassenideal eines 13 Jahre später an die Macht kommenden Regimes erinnert.

Nosferatu, eine Symphonie des Grauens (D 1922)

Eine eindrucksvolle, aber auch unautorisierte Verfilmung von Bram Stokers Roman, die beinahe aufgrund eines Gerichtsurteils vernichtet worden wäre. Dabei ist der Einfluss des filmischen Expressionismus nicht von der Hand zu weisen, doch nimmt Regisseur F.W. Murnau hiermit jenen naturalistisch-romantischen Stil vorweg, welcher auch sein Werk „Faust – Eine deutsche Volkssage“ (1926) durchzog. Gefilmt wurde sehr häufig außen, an Originalschauplätzen, Aufnahmen im Atelier treten seltener hinzu. So sind neben den sich an der Wand abzeichnenden, riesigen Schatten des nahenden Vampirs Graf Orlok und der am Strand neben zahlreichen Kreuzen wartenden Ellen (der Frau des ausgeschickten Maklers Hutter) – Szenen, die man durchaus als expressionistisch bezeichnen kann – auch zahlreiche Naturaufnahmen zu sehen, die in den Film Eingang fanden. Wie in den anderen hier besprochenen Filmen wird im Kern wieder eine Geschichte um missbrauchte Autorität und obskure Lebensformen erzählt, wenn Vampir Graf Orlok den Makler Knock gefügig macht, damit er seinem triebhaften Interesse an Ellen nachgehen kann.