Wollmilchcast #99 – Bombshell & Nightlife

Die Frauen, die gegen die sexuelle Belästigung von FOX News-Boss Roger Ailes erfolgreich vorgingen, stehen im Mittelpunkt von Bombshell. Wie funktioniert die Empathiemaschine Kino mit Figuren wie Megyn Kelly (Charlize Theron) und Gretchen Carlson (Nicole Kidman), die FOX’ rechtskonservativem Drall vertreten haben? Das fragen wir uns im Gespräch über das MeToo-Drama. Außerdem stürzen wir uns ins Nightlife mit Elyas M’Barek und Frederick Lau, der im Grunde Victoria ins Zentrum des deutschen Mainstream-Kinos versetzt. Unter anderem dabei: unsere Vision von Simon Verhoevens Suspiria. Viel Spaß!

Shownotes:

  • 00:01:27 – Bombshell von Jay Roach (2019)
  • 00:36:59 – Nightlife von Simon Verhoeven (2020)
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Kontrapunkt: Genialität goes Ghettoslang – “Victoria”

Heiße Spanierin nachts in Berlin mit Sonne, Boxer und Blingbling unterwegs
Die Spanierin Victoria (Laia Costa) ist in Berlin mit Sonne (Frederick Lau, links) und seiner Gang unterwegs.

In einem Berliner Club lernt die Spanierin Victoria (Laia Costa) nach einer durchtanzten Nacht eine Männerclique kennen. Sie lässt sich vom Charme von Sonne (Frederick Lau), Boxer (Franz Rogowski) und Co. mitreißen und feiert mit ihnen noch etwas auf einem Hochhausdach, bevor die vier Freunde einen Anruf bekommen. Boxer ist einem ehemaligen Knastkumpel noch einen Gefallen schuldig. Victoria springt als Fluchtfahrerin ein – und gerät in einen Strudel der eskalierenden Gewalt.

Zwei Stunden in Berlin, gefilmt in einer 130-minütigen Plansequenz ohne einen einzigen Schnitt: „Victoria“ begeistert durch eine herausragende organisatorische Leistung und Übersicht, für die Kameramann Sturla Brandth Grøvlen vollkommen zu Recht auf der diesjährigen Berlinale mit dem Silbernen Bären ausgezeichnet wurde. Immer nah dran an den Figuren und am Geschehen ist der Thriller eine ungemein intensive Erfahrung. War an einigen Stellen mutmaßlich der Ton nicht zu gebrauchen, wurde pragmatisch einfach sphärische Musik unter die Bilder der beweglichen Kamera gelegt. Schließlich war Victoria einst auch Klaviervirtuosin, bevor sie drei Monate zuvor nach Berlin kam und bisher keinen Anschluss fand.

Laia Costa ist auch das emotionale Zentrum des Films. Mal frech und verführerisch, mal pflichtbewusst und mit großem Herz, am Ende ebenso verliebt wie verzweifelt dient sich als Seismograph der Stimmungen zwischen Euphorie und Angst. Mit ihrer natürlich anmutenden Schüchternheit bildet sie einen Kontrapunkt zu den flachen Charakteren der „eingeborenen“ Berliner Jungs, die sich gegenseitig mit „Digga“ ansprechen oder eine Stunk verursachende Meute als „Hurenkinder“ beschimpfen. Während die Regie von Sebastian Schipper („Absolute Giganten“) wohl überlegt und ausgeklügelt ist, fehlt dem Drehbuch besonders in solchen Ghettoslang-Dialogzeilen der letzte Schliff an authentischer Milieuzeichnung.

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Doch sei’s drum: „Victoria“ ist ein junges, erfrischendes Stück deutsches Genre-Kino, das den Zuschauer beinahe schon physisch die Ereignisse dieses chaotischen frühen Morgens miterleben lässt. Enorm packendes Kino also – wenn auch mit kleinen Schönheitsfehlern.

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Titel: Victoria
Regie: Sebastian Schipper
Laufzeit: ca. 136 Min.
FSK: ab 12
Kinostart: 11. Juni

Diese Rezension ist erstmals gestern auf der Filmseite im Buch “Tipps und Termine” der Mitteldeutschen Zeitung erschienen.