Fluchtpunkt (I) – Sterne an den Mützen (H 1968)

„Die Welt ist schlecht, das Leben schön, was ist daran nicht zu verstehn?“ (Der Plan)

(Halb)nackte Soldaten werden durch die russische Steppe gejagt. Schießwütige Soldaten sind hinter ihnen her. Eigentlich hat Csillagosok, katonák (im deutschen Sprachraum originalgetreu als Sterne an den Mützen veröffentlicht, etwas freier übersetzt als „The Red and the White“ im englischen) kaum mehr an Handlung zu bieten. Weißgardisten nehmen irgendwo in der Nähe der Wolga im Jahr 1919 Rotgardisten gefangen und weil eine einfache Exekution nicht genug Lust an der eigenen Macht verspricht, wird den Gefangenen befohlen, sich auszuziehen und zu fliehen. Vorher wird ihnen aber noch mitgeteilt, dass in 15 Minuten die Jagd auf sie beginnt. Nicht dass die Rotgardisten anders handeln würden, sobald sie die Oberhand gewännen, denn nicht Hass oder (konter-)revolutionärer Eifer treibt den allgemeinen Sadismus an, sondern schlicht und einfach die Möglichkeit, die Macht es tun zu können. So beginnt die Jagd in einer verfallenen Palastanlage, die mehr Mythos als Realität ist. Eine verlassene Anlage voller griechisch-römisch anmutender Säulen, mit einer erhabenen russischen Kirche und anderen Bauten, welche Bilder oder nur das Gefühl einer längst vergangene Epoche voll Weisheit, Liebe und Gerechtigkeit im Zuschauer aufkeimen lässt, als ob es eine solche je gegeben hätte. Durch diese Abbildungen von vergangener Erhabenheit laufen Menschen, welche den profansten ihrer Gefühle folgen. Sinnlos demütigen sie sich und ihr Umfeld.

Jancsó Miklós verzichtet bei der Darstellung dieses Reigens fast komplett auf eine Diegese, eine mehr oder weniger abgeschlossene Erzählung. Ständig wechselnde Darsteller laufen durch die unwirklichen Bilder. Je nach Situation versuchen sie den Qualen zu entgehen, deren Hauch sie schon auf sich spüren, oder sie sind es, die ihr Gegenüber malträtieren. Ihr Handeln wird dabei nicht von den Uniformen, in denen sie stecken, bestimmt, sondern durch Willkür. Folglich bleibt unberechenbar, was als Nächstes geschehen wird. Werden die Gefangenen skrupellos getötet, gejagt oder freigelassen oder werden sie einfach nur zu einem Walzertanz in den Wald mitgenommen? Die quasi Auftragsarbeit zum 50jährigen Jubiläum der Oktoberrevolution zeigt keine guten Kommunisten, welche den Weißen menschlich überlegen sind (auch wenn sie tendenziell etwas besser davon kommen). Jancsó verzichtet auf Propaganda. Die Soldaten sind beiderseits verabscheuenswürdig und mitleiderregend. Er wandelt den russischen Bürgerkrieg in ein absurdes Trauerspiel… über den Krieg, die Menschen und die Willkür der Macht. Er entwirft ein absurdes Puzzle, das keinen Sinn ergibt und genau darin seinen Sinn findet. Denn der Fluchtpunkt der Menschen verliert sich im nirgendwo. Die Soldaten flüchten, doch das Ziel der Flucht zerrinnt ihnen immer wieder zwischen den Fingern. Denn egal wohin sie fliehen, nirgends finden sie Ruhe. Folglich ist Sterne an den Mützen nicht nur ein Film gegen den Krieg. Er handelt von Menschen auf der Suche nach Frieden und Freiheit. Doch überall finden sie nur Gewalt und Unterdrückung… entweder als Opfer oder als Täter, denn sobald sie die Macht haben, sind sie nur auf Vergeltung und Machtausübung aus. Die Perspektive des Films wird somit umso hoffnungsloser, denn er verortet das Problem nicht im Krieg, sondern im Menschen.

Doch so hoffnungslos, wie der Blick auf die Handlungen vermuten lässt, ist Sterne an den Mützen nicht, schließlich erzählen die Bilder eine andere Geschichte. Eine Geschichte angefüllt mit Schönheit und voller Geheimnisse. Vor allem die langen, ballettartigen Einstellungen – hier taucht Jancsós Markenzeichen das erste Mal auf – sind das komplette Gegenteil von Realismus. Die dargestellte Welt wird durch diesen sich nicht abwendenden Blick nicht fester, sondern rätselhafter. Schnitte haben meist den Sinn, die Szenerie auszuleuchten… Fragen über das Umfeld erst gar nicht aufkommen zu lassen. Doch statt zu zeigen, wer den Menschen im Bild solche Angst einjagt, auf wen hinter oder neben der Kamera sie schauen, wer dort spricht, was dort passiert, hält die Kamera auf das, was sie uns sehen lassen will. Der Rest bleibt der Phantasie überlassen. Auf diese Weise entsteht nicht nur eine eigenwillige Art von Spannung, sondern auch eine mystische Aufladung der Bilder, welche mehr denn je nicht bleiben können, was sie sind, sondern Rätsel werden, welche durch unsere Vorstellungen gefüllt werden.

Eingeklammert von zwei Trauer erfüllten Bildern über das Schicksal der Menschen (in dem Film) zeigt Jancsó uns gleichmütig eine wunderschöne Welt, die keinen Sinn ergibt … außer wir geben ihr einen. Am originellsten geschieht dies in der Mitte des Films in einem dichten Birkenwald. Wie ein Gefängnis wirkt er, wie eine riesige, nicht enden wollende Ansammlung von Gitterstäben, welche die Menschen gefangen hält. Doch dies wirkt nicht bedrückend, sondern leicht und voll süßer Zärtlichkeit. So zwingen die Weißgardisten einige Krankenschwestern in diesem Wald zu einem Tanz… einen Tanz der Pflegerinnen, welchen sie sich nur anschauen. Am Ende dürfen die Damen gehen und verschwinden genauso in diesem mythischen Gefängnis der Natur, wie der Offizier, welcher es anordnete. Doch was dieser Tanz sollte, dass bleibt sein Geheimnis. Er nimmt es mit in dieses luftige Verlies seiner Seele, welches wir vor uns sehen. Was sich darin befindet, können wir nur erahnen.

Absurde Macht – Die Hoffnungslosen (H 1966) & Die Tage von ’36 (GR 1972)

Zwei Filme, zwei Gefängnisse, keine Protagonisten. Menschen auf der Leinwand gibt es zwar einige, doch keiner schafft es, aus den kalten Zwängen seiner Umgebung auszubrechen, denn in beiden, Filmen & Gefängnissen, herrscht eine kalte, antiindividuelle Absurdität. In dem einen werden die Insassen mit brutalen, undurchsichtigen Spielchen manipuliert und entmenschlicht und in dem anderen ringen Politiker bis zur Lächerlichkeit mit einem unsichtbaren Feind: ihrer eigenen Hilflosigkeit. Der eine Film ist vom Ungarn Jancsó Miklós und der andere vom Griechen Theo Angelopoulos. Beide sind für ihre langen Einstellungen und Plansequenzen berühmt und berüchtigt. Trotzdem haben ihre Filme und Stile nicht viel gemeinsam… außer, dass beide oft die verschiedenen Gesichter der Macht inszeniert haben.

Bei dem einen handelt es sich um Szegénylegények (der deutsche Titel ist je nach Ort und Zeit „Die Hoffnungslosen“ oder „Die Männer in der Todesschanze“, wobei der Erste dem ungarischen Titel mehr entspricht. Im Englischen gibt er sich ähnlich variantenreich. Am bekanntesten ist er wohl als „The Round-Up“). Die Handlung spielt sich irgendwo im Nirgendwo der ungarischen Puszta ab… wahrscheinlich im Jahr 1869. Der revolutionäre Geist von 1848 hat sich verflüchtigt. Die Einzigen, welche den österreich-ungarischen Machthabern Widerstand leisten, sind Verbrecher und Wegelagerer. Um diese zu brechen, gibt es zahlreiche Mittel. Eines wird in Die Hoffnungslosen vorgeführt. Ein labyrinthartiges Gefängnis mit Höfen und zahlreichen Einzelzellen, in denen sich die Gefängnisdirektion arglistige Spielchen mit den Insassen erlaubt. Zum Beispiel gibt es da Gajdar János, der seine Hinrichtung verhindern kann, wenn er jemanden im Gefängnis findet, der mehr Menschen getötet hat als er und diesen ans Messer liefert. Immer verzweifelter und offensichtlicher wird er zum Handlanger der Obrigkeit.

Gajdar ist der Einzige, der annähernd die Züge eines Hauptdarstellers hat, doch Jancsó ist nicht an Einzelschicksalen interessiert, sondern an Strukturen. Folglich bleibt diese Geschichte auch nur Episode in einem Film, der hauptsächlich aus Menschen besteht, die durch ein Gefängnis geführt und vom Handeln der Machthaber verspottet werden. Die Häftlinge werden vor Leichen gestellt und befragt. Keine Antwort, kein Geständnis scheint die Fragesteller zu überraschen. Alles scheint schon bekannt und das Abringen der Beichte scheint nur zur Demütigung der Befragten zu dienen. Darüber hinaus werden sie natürlich gegeneinander ausgespielt. So wird Gajdar, in einem Strudel aus Hoffnung und Verachtung gefangen, genutzt, um Informationen zu sammeln und um seine Mörder als Nächste in diesen Strudel zu ziehen. Doch Informationen sind nur der augenscheinliche Nutzen. Vor allem sind Gajdar und seine Leidensgenossen die Objekte von Spott und Erniedrigung… wie Ertrinkende, die nach dem Strohhalm greifen, der ihnen immer wieder vor der Nase weggezogen wird, werden sie mit diabolischer Hinterlist verlacht. Der Film spiegelt so die Struktur der Unterdrückung. Allein das endlose Führen der Gefangenen durch die Gänge und Höfe des Gefängnisses, durch die Weite der Puszta zum ausgelagerten Verhörraum, lässt ihr Ausgeliefertsein nur umso deutlicher erscheinen.

Stilistisch ist der  Film noch nicht durch die endlosen, ballettartigen Kamerafahrten geprägt, die Jancsó berühmt machten. Trotzdem ist er äußert elegant inszeniert. Allein die wunderschönen, leicht überbelichteten Bilder sind nicht nur ansehnlich, sondern reflektieren auch die Auslieferung, die totale Beleuchtung, die kein Versteck zulässt. Vor allem aber ist Die Hoffnungslosen ein Wunder an Dezenz. Denn der Zuschauer bekommt die Willkür der Macht und das realitätsverzerrende Gefühl der fehlenden Sicherheit der Insassen selbst zu spüren… mit leicht zu übersehenden Mitteln. So hat der Film keinen Score, nur das ständige Zwitschern von Vögeln in einem Land ohne Bäume, ohne Behausungen für Vögel. Wie in der Wüste von „Der englischen Patient“ stimmen Bild und Ton nicht überein, ohne dass es sofort ins Bewusstsein springt. Trotzdem entwickelt es seine Wirkung. Daneben ist es insbesondere der Schnitt, der diese Verzerrung erfahren lässt, der keinerlei Sicherheit in der Zeiterfahrung zulässt. Nach manchen Schnitten können Sekunden vergangen sein oder Stunden, vielleicht auch Tage. Mit Sicherheit kann man es nicht sagen. Noch nicht einmal ob tatsächlich diese Brüche in der Kontinuität stattfanden. Verwirrt ist man trotzdem. Verwirrt und der Macht der Bilder ausgeliefert.

Bei dem zweiten Film handelt es sich um ????? ??? ’36 („Die Tage von ’36“). Den Auftakt bildet ein Attentat auf einen Politiker. Ein ehemaliger Drogenschmuggler und Polizeiinformant wird daraufhin verhaftet und in ein Gefängnis gesteckt. Doch auf ausdrücklichen Wunsch des Premierministers kommt er dort in keine Zelle, sondern in ein relativ luxuriöses Zimmer. Als der Minister seinen Schützling in der Vollzugsanstalt besucht, zieht der Häftling eine Pistole und versucht seine Freilassung zu erpressen. Regierung wie Gefängnisdirektion wollen und vor allem können sich nicht erpressen lassen, weil die Opposition nur auf Schwächen lauert. Sie sind dazu verdammt, den Premierminister retten zu müssen. Doch je länger die Befreiung auf sich warten lässt, desto mehr entgleitet ihnen die Situation.

Auch Die Tage von ’36 hat keine Filmmusik und lange, bewegte Einstellungen, doch Angelopoulos‘ Stil ist mehr durch eine spröde Bildsprache als durch die verschnörkelte Schönheit Jancsós gekennzeichnet. Die Geschichte des Films muss sich der Zuschauer aus den wenigen Gesprächen erkämpfen. Mit quälend langen Einstellungen zeigt er Menschen, die sich hinter Fassaden aus Pomp verstecken, der durch Angelopoulos‘ Kamera wie die Ausstattung einer Schulaufführung aussieht. Er zeigt Menschen, die denken, dass sie bedeutende oder listige Dinge tun, doch sie gleichen hilflosen Hamstern in einem Laufrad. Allein der Bruder des Häftlings, der versucht, in einem geschlossenen Gefängnishof vor den Wärtern davon zu laufen, verdeutlicht diese klägliche Machtlosigkeit. Immer eine riesige Wand hinter sich, wirkt sein Fluchtversuch nur albern und lächerlich. Doch er ist nur einer von vielen.

Aus dieser Hilflosigkeit gewinnt der Film nun seine Anmut. Denn hinter den hyperrealistischen, kargen Bildern mit der brutal untererzählten Geschichte steckt eine Komödie, eine Groteske…  so offensichtlich wie eine Gefühlsregung auf Steven Seagals Gesicht. Hat man es aber erst einmal verstanden, kommt man aus dem Lachen nicht mehr raus. Dann geht es dem Zuschauer wie dem Politiker im Film, der die ganze Zeit betrübt nach unten guckt und nichts sagt. Als Offiziere und Politiker todernst die Befreiung des Ministers planen, verfällt er plötzlich in einen Lachkrampf. Er erträgt die Lächerlichkeit dieses kläglichen Ernstes nicht mehr und muss den Raum unter ungläubigen Blicken verlassen. Was Die Tage von ’36 nun auszeichnet, ist genau dies, die Fassaden der Macht mit der Ernsthaftigkeit zu zeigen, mit der sie sich selbst wahrnimmt, aber gleichzeitig legt er die Hilflosigkeit dahinter bloß. Und hat man sich erst einmal darauf eingelassen, fallen einem auch plötzlich die teilweise comic-artigen Schnitte und der Witz auf, der fast schon an Monty Python erinnert. So zeigt Angelopoulos auf eindrückliche Weise einen Staat, der am Rande des Verfalls steht, und dadurch nicht nur Griechenland in den Tagen von 1936.