Phantasie und Realität einer vertrockneten Ehefrau auf den Stufen zur Postmoderne oder Sex, Drogen und Stadtguerilla oder Der Tod des Terrorismus in der Anonymität der Berliner Twilight Zone der Siebziger oder Der feuchte Schritt beziehungsweise der Ständer der Bourgeoisie beim Anblick des Unbekannten – Kleinhoff Hotel (I/MC 1977)

[…] die Wiederholung des Triebs ist die Wiederholung des Scheiterns. (Slavoj Žižek)

Die Kamera fährt durch ein leeres Hotelzimmer. Eine Frau hat es gerade verlassen. Die Kamera zeigt mit einem kurzen Schwenk das gesamte Zimmer, in dem der Zuschauer alleine zurückgelassen wurde. Sie fährt dann langsam auf einen Schlitz zu, der sich zwischen einer verschlossenen Tür und deren Rahmen befindet. Durch diesen Spalt hatte die Frau das Nachbarzimmer beobachtet. Das Hotel ist das Kleinhoff Hotel in Berlin, indem die Frau eine kurze, aufregende Zeit erlebte, bevor sie in den Hafen der Ehe einlief und seitdem einem geregelten Leben nachging. Als sie ihren Flug verpasste und damit ihr Leben auch nur minimal aus der Bahn geworfen wurde … sicherlich nicht ganz zufällig … da führte sie ihre Sehnsucht dorthin zurück, an den Ort vergangenen Glücks. Einen Ort, der ihre Phantasie beflügelte. Die kleine Ritze mit Blick ins Nebenzimmer eröffnete ihr eine neue Welt. Eine unsichere, gefährliche Welt, eine Welt, in der sich alle ihre Sehnsüchte verwirklichen. Dort lebt ein untergetauchter Terrorist, der sich nicht nur vor dem Zugriff der Staatsgewalt versteckt, sondern auch vor seiner Organisation. Dort nimmt er Drogen, hat Sex und lebt ein zügelloses, selbstzerstörerisches Leben in Verzweiflung. Doch charismatisch ist er und durch diesen kleine Furche ist er ein Held, der für alles steht, was in ihrer Welt als verkommen gilt. Er hat die Macht, all dies Erdrückende, Langweilige aus den Fugen zu heben. Ihre glühenden Lenden verwandeln den vielleicht sogar realen Raum vor ihr in einen schwülstig-düsteren Wunschtraum.

Die Kamera beweist dem Zuschauer, dass er nun alleine ist. Dass er im Raum des Phantasierens alleine zurückbleibt. Die Kamera fährt zu der kleinen Öffnung und der Zuschauer blickt das erste Mal alleine in diese Phantasiewelt. Er sieht wie die Frau eintritt und eine Affäre mit dem Terroristen beginnt. Der Zuschauer ist nun unvermittelt der Phantast. Ohne die Frau hat er keine Ausrede mehr und wird mit seinem Voyeurismus konfrontiert … mit den eigenen glühenden Lenden und der Lust, das Verbotene zu beobachten und zu wünschen. Gleichzeitig hat er eine Frau vor sich, die diesen Ort verließ und ihrer Phantasie nachgeht. Der Blick durch die kärgliche Kluft über der Tür ist wie eine kleine Utopie der Trieb- und Selbsterfüllung. Der kurze und effektive Gang der Frau, enthält auch einen subtilen Zuruf, auf das jeder seine Träume erfülle.

Die Kamera wird von Gábor Pogány bedient. Dies tat er in der zweiten Hälfte der Siebziger Jahre für Carlo Lizzani. Zu einer Zeit als Poliziottesco und Giallo langsam ihre Kraft und Frische verloren und auch das italienische Kino auf eine tiefe Krise zusteuerte. Die italienische Gesellschaft befand sich schon darin. Umgreifende Kriminalität und Terroristen wie die Brigate Rosse (die Roten Brigaden) waren dabei, Italien entgleisen zu lassen. Unsicherheit herrschte. Die Utopien der Befreiung, welche die Jugend in den 60ern im Westen von der allgemeinen Freiheit und vom Ende der Geschichte im allumfassenden Wohl träumen lies, verwandelten sich unter den enttäuschenden Erfahrungen in Verzweiflung, Resignation und Raserei. No Future und Punk klopfen an die Tür. Und in dieser Zeit drehte besagter Carlo Lizzani Kleinhoff Hotel. Einen Film, der einen desillusionierten Blick auf einen Terroristen wirft, der sich in seinen Träumen verloren hat und in den  unbefriedigenden Versprechungen von Sex und Drogen eine neue Erfüllung sucht. Er ist am Ertrinken. Den Schmerz über die verlorenen Phantasien, die ihm nur noch mit entstellten Fratzen verspotten, versucht er abzutöten. Gleichzeitig aalt er sich in seinem Leid. Carlo Lizzani führt eine Welt voller Schmerzen und Enttäuschungen vor. Eine Welt, die über den Terroristen hinaus an Bedeutungen verliert, da der Rückprall der Hoffnungen an der Realität viele Menschen orientierungslos zurückließ.

Die Kamera fängt einen Film ein, der vielleicht ein Konglomerat des italienischen Kinos seit den 50ern darstellt, gleichzeitig aber auch nach neuen Wegen sucht. Carlo Lizzani, der 1951 seinen ersten eigenen Film drehte, hatte viele Richtungen in dieser Filmlandschaft erlebt. Er schrieb die Drehbücher zu neorealistischen Schlüsselwerken wie Riso amaro (Bitterer Reis, I 1949) oder Germania anno zero (Deutschland im Jahre Null, I 1948). Er erlebte das Aufbrechen des Neorealismus‘  in alle möglichen Richtungen der Moderne (Fellini, Antonioni, Pasolini) und den Erfolg der Commedia all’italiana aus nächster Nähe. Er drehte Italo-Western und legte mit Banditi a Milano (Die Banditen von Mailand, I 1968) einen Grundstein für die Poliziottesco. Seine Episode aus Amore e rabbia (Liebe und Zorn, I/F 1969) ist bisher das rauschhafteste Eskalieren filmischer Möglichkeiten, die ich im italienischen Film bisher sah. Kleinhoff Hotel fasst das nun alles zusammen. Nebeneinander stehen die Zurückhaltung, das Kunstfertige und das Elliptische des italienischen Kinos in der Moderne sowie das exploitative, triebhafte in der Darstellung von Sex und Gewalt. Nur Sporen und Schlapphüte sind nirgends zu sehen. Es ist ein Film, der mit dem Vergangenen abschließt und es in sich aufsaugt. Dabei platzt er aber nicht aus allen Nähten. Im Gegenteil ist er entschlackt, reduziert und wie hingeschleudert. Das Schöne im Kino eines Carlo Lizzani ist seine unaufgeregte Aufgeregtheit, die hier einen ihrer Höhepunkte erreicht.

Die Kamera schwenkt gegen Ende des Filmes durch das Zimmer des Terroristen. Die Frau hat es gerade verlassen. Der Terrorist liegt bewusstlos auf dem Bett. Sonst ist das Zimmer verlassen. Die Kamera zeigt mit einem kurzen Schwenk durch das Zimmer, dass der Zuschauer mehr oder weniger alleine zurückgelassen wurde. Sie fährt dann langsam auf den Schlitz zu, der sich über einer Tür befindet, vor der ein Schrank steht. Der Blick durch den Spalt zeigt eine Frau, die in ihr Zimmer zurückkehrt, packt und geht. Die Kamera schwenkt zurück durch das ganze Zimmer und bleibt vor dem Fenster stehen. Der Zuschauer schaut der Frau nach, die in ein Taxi steigt. Sie hat ein Abenteuer erlebt, doch dieses endete in der Desillusion. Die glänzende Welt der Selbstzerstörung, war nicht so romantisch wie gedacht, sondern einfach selbstzerstörerisch. Hinter der Phantasie warteten ein zerstörter, weinerlicher Held und keine Erfüllung. Die Verwirklichung der Phantasie vervollständigte sie nicht und brachte keine Erlösung aus dem Schmerz des Seins und schloss auch nicht die Lücke des Bewusstseins, das immer etwas vermisst, etwas auszusetzen hat und sich immer etwas Schöneres vorstellen kann. Die Kamera blickt durch die kleine Ritze und sprengt die Bedeutung. Die Spiegelung dieser einfachen Kamerafahrt öffnet den ganzen Film. Die Utopie bleibt bestehen und wird ein ewiger Prozess. Ausgelutscht verlässt sie ihre vergangene Phantasie und geht in ihre neue … das ruhige, geregelte Leben. Dort wartet aber nur der nächste Wunschtraum eines erfüllenden Lebens. Der Blick der Kamera enthält auch diese Sehnsucht des Terroristen nach diesem ruhigen Leben. Nur der Zuschauer bleibt immer gefangen in seinem eigenen Raum, von dem aus er träumt. Die Kluft liegt immer vor uns. Die Utopie einer Wunscherfüllung kann es so nicht geben.

Die Kamera blickt den ganzen Film über durch die kleine Öffnung. Immer wieder ändern sich die Blickwinkel und die Räume, von welchem aus geschaut wird. Dort geht immer etwas anderes vonstatten: Sex, Drogen, Mord und Seelenstriptease. Die sich ständig wechselnden Winkel verhindern jede Möglichkeit, Kleinhoff Hotel festzunageln. Dieser schmierige kleine Film gleicht einem Labyrinth der Blicke, Phantasien und Deutungen. Jeder kann sich in diesem verirren und jeder kann einen anderen Ausgang aus diesem Spiegelkabinett finden.