Absurde Macht – Die Hoffnungslosen (H 1966) & Die Tage von ’36 (GR 1972)

Zwei Filme, zwei Gefängnisse, keine Protagonisten. Menschen auf der Leinwand gibt es zwar einige, doch keiner schafft es, aus den kalten Zwängen seiner Umgebung auszubrechen, denn in beiden, Filmen & Gefängnissen, herrscht eine kalte, antiindividuelle Absurdität. In dem einen werden die Insassen mit brutalen, undurchsichtigen Spielchen manipuliert und entmenschlicht und in dem anderen ringen Politiker bis zur Lächerlichkeit mit einem unsichtbaren Feind: ihrer eigenen Hilflosigkeit. Der eine Film ist vom Ungarn Jancsó Miklós und der andere vom Griechen Theo Angelopoulos. Beide sind für ihre langen Einstellungen und Plansequenzen berühmt und berüchtigt. Trotzdem haben ihre Filme und Stile nicht viel gemeinsam… außer, dass beide oft die verschiedenen Gesichter der Macht inszeniert haben.

Bei dem einen handelt es sich um Szegénylegények (der deutsche Titel ist je nach Ort und Zeit „Die Hoffnungslosen“ oder „Die Männer in der Todesschanze“, wobei der Erste dem ungarischen Titel mehr entspricht. Im Englischen gibt er sich ähnlich variantenreich. Am bekanntesten ist er wohl als „The Round-Up“). Die Handlung spielt sich irgendwo im Nirgendwo der ungarischen Puszta ab… wahrscheinlich im Jahr 1869. Der revolutionäre Geist von 1848 hat sich verflüchtigt. Die Einzigen, welche den österreich-ungarischen Machthabern Widerstand leisten, sind Verbrecher und Wegelagerer. Um diese zu brechen, gibt es zahlreiche Mittel. Eines wird in Die Hoffnungslosen vorgeführt. Ein labyrinthartiges Gefängnis mit Höfen und zahlreichen Einzelzellen, in denen sich die Gefängnisdirektion arglistige Spielchen mit den Insassen erlaubt. Zum Beispiel gibt es da Gajdar János, der seine Hinrichtung verhindern kann, wenn er jemanden im Gefängnis findet, der mehr Menschen getötet hat als er und diesen ans Messer liefert. Immer verzweifelter und offensichtlicher wird er zum Handlanger der Obrigkeit.

Gajdar ist der Einzige, der annähernd die Züge eines Hauptdarstellers hat, doch Jancsó ist nicht an Einzelschicksalen interessiert, sondern an Strukturen. Folglich bleibt diese Geschichte auch nur Episode in einem Film, der hauptsächlich aus Menschen besteht, die durch ein Gefängnis geführt und vom Handeln der Machthaber verspottet werden. Die Häftlinge werden vor Leichen gestellt und befragt. Keine Antwort, kein Geständnis scheint die Fragesteller zu überraschen. Alles scheint schon bekannt und das Abringen der Beichte scheint nur zur Demütigung der Befragten zu dienen. Darüber hinaus werden sie natürlich gegeneinander ausgespielt. So wird Gajdar, in einem Strudel aus Hoffnung und Verachtung gefangen, genutzt, um Informationen zu sammeln und um seine Mörder als Nächste in diesen Strudel zu ziehen. Doch Informationen sind nur der augenscheinliche Nutzen. Vor allem sind Gajdar und seine Leidensgenossen die Objekte von Spott und Erniedrigung… wie Ertrinkende, die nach dem Strohhalm greifen, der ihnen immer wieder vor der Nase weggezogen wird, werden sie mit diabolischer Hinterlist verlacht. Der Film spiegelt so die Struktur der Unterdrückung. Allein das endlose Führen der Gefangenen durch die Gänge und Höfe des Gefängnisses, durch die Weite der Puszta zum ausgelagerten Verhörraum, lässt ihr Ausgeliefertsein nur umso deutlicher erscheinen.

Stilistisch ist der  Film noch nicht durch die endlosen, ballettartigen Kamerafahrten geprägt, die Jancsó berühmt machten. Trotzdem ist er äußert elegant inszeniert. Allein die wunderschönen, leicht überbelichteten Bilder sind nicht nur ansehnlich, sondern reflektieren auch die Auslieferung, die totale Beleuchtung, die kein Versteck zulässt. Vor allem aber ist Die Hoffnungslosen ein Wunder an Dezenz. Denn der Zuschauer bekommt die Willkür der Macht und das realitätsverzerrende Gefühl der fehlenden Sicherheit der Insassen selbst zu spüren… mit leicht zu übersehenden Mitteln. So hat der Film keinen Score, nur das ständige Zwitschern von Vögeln in einem Land ohne Bäume, ohne Behausungen für Vögel. Wie in der Wüste von „Der englischen Patient“ stimmen Bild und Ton nicht überein, ohne dass es sofort ins Bewusstsein springt. Trotzdem entwickelt es seine Wirkung. Daneben ist es insbesondere der Schnitt, der diese Verzerrung erfahren lässt, der keinerlei Sicherheit in der Zeiterfahrung zulässt. Nach manchen Schnitten können Sekunden vergangen sein oder Stunden, vielleicht auch Tage. Mit Sicherheit kann man es nicht sagen. Noch nicht einmal ob tatsächlich diese Brüche in der Kontinuität stattfanden. Verwirrt ist man trotzdem. Verwirrt und der Macht der Bilder ausgeliefert.

Bei dem zweiten Film handelt es sich um ????? ??? ’36 („Die Tage von ’36“). Den Auftakt bildet ein Attentat auf einen Politiker. Ein ehemaliger Drogenschmuggler und Polizeiinformant wird daraufhin verhaftet und in ein Gefängnis gesteckt. Doch auf ausdrücklichen Wunsch des Premierministers kommt er dort in keine Zelle, sondern in ein relativ luxuriöses Zimmer. Als der Minister seinen Schützling in der Vollzugsanstalt besucht, zieht der Häftling eine Pistole und versucht seine Freilassung zu erpressen. Regierung wie Gefängnisdirektion wollen und vor allem können sich nicht erpressen lassen, weil die Opposition nur auf Schwächen lauert. Sie sind dazu verdammt, den Premierminister retten zu müssen. Doch je länger die Befreiung auf sich warten lässt, desto mehr entgleitet ihnen die Situation.

Auch Die Tage von ’36 hat keine Filmmusik und lange, bewegte Einstellungen, doch Angelopoulos‘ Stil ist mehr durch eine spröde Bildsprache als durch die verschnörkelte Schönheit Jancsós gekennzeichnet. Die Geschichte des Films muss sich der Zuschauer aus den wenigen Gesprächen erkämpfen. Mit quälend langen Einstellungen zeigt er Menschen, die sich hinter Fassaden aus Pomp verstecken, der durch Angelopoulos‘ Kamera wie die Ausstattung einer Schulaufführung aussieht. Er zeigt Menschen, die denken, dass sie bedeutende oder listige Dinge tun, doch sie gleichen hilflosen Hamstern in einem Laufrad. Allein der Bruder des Häftlings, der versucht, in einem geschlossenen Gefängnishof vor den Wärtern davon zu laufen, verdeutlicht diese klägliche Machtlosigkeit. Immer eine riesige Wand hinter sich, wirkt sein Fluchtversuch nur albern und lächerlich. Doch er ist nur einer von vielen.

Aus dieser Hilflosigkeit gewinnt der Film nun seine Anmut. Denn hinter den hyperrealistischen, kargen Bildern mit der brutal untererzählten Geschichte steckt eine Komödie, eine Groteske…  so offensichtlich wie eine Gefühlsregung auf Steven Seagals Gesicht. Hat man es aber erst einmal verstanden, kommt man aus dem Lachen nicht mehr raus. Dann geht es dem Zuschauer wie dem Politiker im Film, der die ganze Zeit betrübt nach unten guckt und nichts sagt. Als Offiziere und Politiker todernst die Befreiung des Ministers planen, verfällt er plötzlich in einen Lachkrampf. Er erträgt die Lächerlichkeit dieses kläglichen Ernstes nicht mehr und muss den Raum unter ungläubigen Blicken verlassen. Was Die Tage von ’36 nun auszeichnet, ist genau dies, die Fassaden der Macht mit der Ernsthaftigkeit zu zeigen, mit der sie sich selbst wahrnimmt, aber gleichzeitig legt er die Hilflosigkeit dahinter bloß. Und hat man sich erst einmal darauf eingelassen, fallen einem auch plötzlich die teilweise comic-artigen Schnitte und der Witz auf, der fast schon an Monty Python erinnert. So zeigt Angelopoulos auf eindrückliche Weise einen Staat, der am Rande des Verfalls steht, und dadurch nicht nur Griechenland in den Tagen von 1936.