Kontrapunkt: Eine Höhlenexpedition in die weibliche Seele

Nachdem mir vergangene Woche mit High Lane – Schau nicht nach unten! ein eher mediokrer Genrebeitrag über den Weg lief, der bei The Descent – Abgrund des Grauens viel abkupferte und wenig selbst erfand, bekam ich Lust, den noch einmal zu schauen. Dieses Mal darauf achtend, fiel mir dabei die in Horrorfilmen beinahe schon typische Kodierung der Frauenfiguren ebenso ins Auge wie das Maß, in welchem „The Descent“ darüber hinausgeht. Klar, vordergründig betrachtet bleibt am Ende auch hier die Traumatisierte, die sich im richtigen Moment als clever und wehrhaft entpuppt, übrig, und Dummheiten (Karte absichtlich im Auto liegen lassen, tsts) werden bestraft, doch offenbart sich hinter diesem Standardrepertoire im Subtext eine tiefere Bedeutungsebene. Diese möchte ich versuchen offenzulegen, doch zugleich der Hinweis: Abgeschlossen ist die Deutung des Films damit nicht, sondern dies ist lediglich eine Interpretationsmöglichkeit. Lesern, die den Film noch nicht gesehen haben, sei dieser Text dabei aufgrund zahlreicher Spoiler nicht ans Herz gelegt.

Betrachtet man die Figurenkonstellation in „The Descent“, so wird schnell klar, dass sich zwischen den weiblichen Protagonisten gleich zu Beginn ein Konfliktherd auftut. Dieser besteht zunächst nur zwischen Sarah (Shauna Macdonald) und Juno (Natalie Jackson Mendoza). Sarah hat bei einem Unfall ihren Ehemann Paul und ihr Kind verloren, Juno hat sie bei der Trauer gleich danach ziemlich schnell allein gelassen. Dieser Konflikt wird später noch verschärft, als Juno bei einem Angriff der Mutanten aus Versehen Beth (Alex Reid) tötet, diejenige der sechs Frauen umfassenden Höhlenexpeditionsgruppe, welche Sarah damals – vor einem Jahr – am meisten beigestanden hat. Beth ist es auch, die Sarah aus einem einstürzenden Schacht zieht, sie nicht allein lässt. Dem Einsturz dieses Schachts geht jedoch ein schlüpfriger Witz Beths unmittelbar voraus („Wie bringt man eine Zitrone zum Orgasmus?“). Aus dieser Thematisierung des Sex, und sei es auch nur scherzhaft, resultiert das Hereinbrechen des Unheils in Form der nicht ausgelebten Libido. Selbiges gilt auch für den Autounfall zu Beginn, bei dem Sarah Ehemann und Kind verliert. Sarah spricht mit ihrer Tochter auf der Rückbank unmittelbar vor dem Unfall darüber, dass sie doch auch einmal Jungs zu ihrer anstehenden Geburtstagsfeier einladen könne, der geistesabwesend wirkende Paul denkt über seine unterdrückten Gefühle für Juno nach. Bezeichnender Weise werden Paul und Tochter bei dem Unfall von phallusartigen Metallstangen durchbohrt. Diese sexuelle Aufladung kann in beiden Fällen also nicht ohne Konsequenzen geduldet werden.

Fortan, mit dem Tod ihres Kindes, hat Sarah immer wieder surreal erscheinende Träume von ihrer Tochter, wie sie die Kerzen ihres Geburtstagskuchens auspustet. In Sarahs Gedanken ist sie real. Doch in den Mutanten in der Höhle, die dem weiblichen Sextett nach dem Leben trachtet, scheint ihre Tochter eine pränatale Manifestation im Realen gefunden zu haben. Diese Mutanten sind „unvollständig“, können nicht sehen, ihr Körper scheint nicht fertig geformt. Sie gleichen ungeborenen Kindern, Föten, die im wahrhaftigsten Sinne nie das Licht der Welt erblickt haben. Sie leben in einer feuchten Höhle, gleich dem Bauch ihrer Mutter. In diese Höhle dringen die sechs Frauen während ihrer Höhlenexpedition ein und greifen in das Leben der Mutanten, sozusagen der „Ungeborenen“ ein, die endlich die Möglichkeit sehen, sich an ihnen zu rächen, gegen die „Abtreibung“ zu wehren. „Abtreibung“ kann dabei sowohl mit dem Tod von Sarahs Tochter (durch Sarahs sexuell aufgeladenen Dialog; so verschuldete sie indirekt den Unfall) als auch mit dem emanzipierten Lebensstil der Frauen konnotiert werden. So bleibt das lesbisch aufgeladene Verhältnis zwischen der letztlich in ihrer Libido unbefriedigten Juno (schließlich ist der begehrte Paul tot) und der burschikosen Holly (Nora-Jane Noone) ungeklärt, aber schwingt latent über den gesamten Film hinweg mit.

Juno ist es auch, die ihr Im-Stich-Lassen Sarahs bei der Trauerarbeit wieder gut machen und dafür sorgen will, dass diese ihr Trauma nach einem Jahr durch die gemeinsame Höhlenexpedition endlich überwinden kann. Doch Sarah kann nicht über ihre Trauer hinwegkommen, sie nimmt immer noch Tabletten und ist gebrochen. Als sie schließlich in der Höhle im Angesicht der Bedrohung durch die Mutanten herausfindet, dass Paul und Juno mehr füreinander empfunden haben („Love every day“-Kette), schlägt dieser psychisch fragile Umstand in Todessehnsucht und blinde Zerstörungswut um. Hätten beide Frauen zusammen unter Umständen gegen die Rache der „Ungeborenen“ bestehen können, so rammt Sarah Juno schließlich aus Rache einen Haken ins Bein, der sich fluchtunfähig werden lässt und verlässt sie. Sarah hat indes mit ihrer Schuld den „Ungeborenen“ gegenüber abgeschlossen, verspürt nur noch Hass gegen sie und sich selbst. Auffällig: Sie fällt auf der Flucht vor einem weiblichen Mutanten in ein riesiges Loch, welches aufgefüllt ist mit dem Blut der Opfer. Sarah besinnt sich ihrer Menstruation, ihrer Fruchtbarkeit, ihrem Recht auf Selbstbestimmung (auch gegen ihre Rolle als Mutter) und sagt der Unterdrückung (Tod) ihrer Auffassung von Weiblichkeit den Kampf an. So träumt sie ein letztes Mal von ihrer Tochter, als sie sich damit abgefunden hat, dass dieser Kampf, das Beharren auf Selbstbestimmung, nur den eigenen Tod bedeuten kann, weil sie sich mit ihrem Innersten der Weiblichkeit (die Höhle als Analogie zum Uterus) konfrontiert sieht. Eine Verweigerung und ein Kampf gegen die eigene Natur, ihre eigene Sexualität und Libido, den sie nicht gewinnen kann.

Das ist nur eine in der Filmkritik oftmals angerissene, aber selten ausdeklinierte Deutungsweise des Films, der abgesehen davon ein ziemlich spannender, klaustrophobischer und ziemlich fieser Horrorthriller geworden ist. Für Freunde des Genres also ein klarer Tipp!