Gescheiterte Träume Teil 1 – Ein andalusischer Hund (F 1929) & Das goldene Zeitalter (F 1930)

„Diese Nacht träumte ich – nicht von Literatur – diese Nacht träumte ich, daß ich nicht träumte. Und ich behaupte, daß für die Besessensten von uns eigentlich nur fehlende Alpträume wirkliche Alpträume sind. Im Leeren kreisend, könnte unser Geist sich nicht damit abfinden, gar nicht mehr zu kreisen. Und in der Gemeinschaft unserer Gedanken, Zuneigungen und Abneigungen wirkt die Geschichte von diesem Mann fort, der während einer Hungersnot seine Kinder aß, um ihnen den Vater zu erhalten.“,[1] sagte René Crevel in einem der unzähligen Texte, in dem die Surrealisten einzufangen versuchten, was sie denn eigentlich wollten. Und was wollten sie? Alpträume! Träume! Ekstase! Wahnsinn! Absurdität! Witz! Schmerz! Abenteuer! Kurz: alles, nur nicht die Biederkeit des Realismus und des Alltags. Sie wollten aus ihren eingefahrenen Wegen aufgeschreckt werden und sie wollten keine billigen Erklärungen für ihre Handlungen zulassen. Sie wollten mehr Tiefe als der Realismus ihnen aufzwängte.

Albert Camus sagt, dass sie das konkrete Irrationale und den objektiven Zufall wollten.[2] Doch da sollte er etwas genauer sein. Denn sie wollten das Irrationale, aber nicht den Zufall. Der Unterschied zwischen den beiden ist der gleiche wie zwischen jemanden, der auf die Straße geht und blindlings los schießt, und dem Gedicht, dessen Wörter aus einem Hut gezogen werden. Das Eine ist schrecklich, das Andere egal. Es ist aber auch der Unterschied zwischen Un chien andalou und L’âge d’or.

Un chien andalou (Ein andalusischer Hund) entstand aus der Verbindung zweier Träume … einem von Luis Buñuel und einem von Salvador Dalí. Zusammen erarbeiteten sie ein Drehbuch: „Das Drehbuch wurde innerhalb von einer Woche nach einer sehr einfachen Regel geschrieben, für die wir uns in voller Übereinstimmung entschieden hatten: keine Idee, kein Bild zuzulassen, zu dem es eine rationale, psychologische oder kulturelle Erklärung gäbe; die Tore des Irrationalen weit zu öffnen; nur Bilder zuzulassen, die sich aufdrängten, ohne in Erfahrung bringen zu wollen, warum.“[3] Daraus entspross eine wilde Achterbahnfahrt durch das Unterbewusste zweier Träumer. Die 18 Minuten des Films sind angefüllt mit Bildern, die das Fehlen eines rationell nachvollziehbaren Plots nicht weiter schmerzlich machen. Grob geht es um Lust… um einen Mann, der durch ein gewalttätiges Schauspiel (eine Frau spielt mit einer abgetrennten Hand) Lust bekommt… Lust nach einer Frau… Lust, die ihn mit Wahn beherrscht… Lust, die nur von seiner Zivilisation zurückgehalten wird… Lust, die die romantische Liebe als öden Langweiler entlarvt… grob.

Motiv auf Motiv wird aneinandergereiht: das aufgeschlitzte Auge, die Ameisen auf der Hand, der Mund, der aus dem Gesicht des Mannes verschwindet und an dessen Stelle die Achselhaare der Frau treten und so fort. Aber was diesen Film das Wunder eines guten surrealen Films gelingen lässt, ist der Zusammenhang zwischen den Bildern und Motiven, die zwar ambivalent und nicht schlussendlich interpretierbar bleiben, aber nie beliebig sind. Überall ist die Faszination für die wohlige Angst vorm Sex zu spüren. Buñuel, der im Alter froh war, endlich seinen Sexualtrieb los zu sein, war ebenso wie der asexuelle Dalí[4] von diesem Thema beherrscht und sie waren ihr Leben lang davon gezeichnet. Man merkt Herzblut und Besessenheit an jeder Stelle des Films, da beide diese für die Thematik besaßen. So schafften sie es, den Zuschauer tief zu treffen und Un chien andalou weiß auch bis heute mit seinem Reigen des sexuellen Wahnsinns zu fesseln.

Ganz anders L’âge d’or (Das goldene Zeitalter). Laut Buñuel soll es sich bei diesem Film ebenso um die Darstellung einer amour fou handeln, so sagt er zumindest in der Dokumentation „A propósito de Buñuel“. Doch in diesem Wust aus willkürlich zusammengewürfelten Ideen lässt sich keine Stringenz finden. Es scheint, dass Buñuel ein paar antiklerikale, antibürgerliche Ideen übrig hatte, die mal mehr, mal weniger interessant sind. Diese setzte er nach dem Erfolgsmuster von „Un chien andalou“ wieder zusammen, nur dass er erheblich dezenter inszenierte. Durch diese Beliebigkeit im Vortrag fehlt die Dringlichkeit des andalusischen Hundes… vor allem das Gefühl, dass sich die Ideen aufgedrängt hätten, ist sehr selten zu spüren. Vielleicht fehlte ihm die Zusammenarbeit mit Dalí, der nur per Brief einige Motive einreichte und später irgendwie richtig zu Protokoll gab: „Ich wäre willens gewesen, einen hundertmal größeren Skandal auszulösen, aber aus ‘wesentlichen Gründen’ – umstürzlerisch eher aus Übermaß an katholischem Fanatismus als aus naivem Antiklerikalismus.“[5]

Grob geht es um einen Mann, der brutal ist, öffentlich über Frauen herfällt und vielen bürgerlichen Menschen auf verschiedene Weise auf die Nerven geht. Meist geschehen aber Dinge ohne diesen Mann: ein Bauernwagen fährt durch einen Salon, ein Mann erschießt sein Kind, weil es ihm den Tabak aus der Hand schlägt oder es wird offenbart, dass Jesus an den 120 Tagen von Sodom teilgenommen hat. Die Belanglosigkeit wird aber an einem Punkt im Film deutlich, wenn eine Frau sagt, dass es schön ist, die eigenen Kinder zu töten. Das Problem ist, dass man ihr nicht glaubt, denn zu keinem Zeitpunkt weiß der Film, das Gefühl von Aufrichtigkeit zu vermitteln. Sie scheint es nur zu sagen, weil es ein provozierender Satz ist, aber nicht weil es ihr wirklich Spaß machen würde, so einen Satz auch nur zu denken. So ist L’âge d’or wunderlich genug, um in der Stunde Laufzeit nicht  übermäßig zu langweilen, aber auch nicht interessant, schön oder aufregend genug, um Genuss oder Erstaunen hervorzurufen… eben wie Tristan Tzaras Hutgedicht.


[1] Crevel, René: Über die Naivität, in: Karlheinz Barck (Hrsg.): Surrealismus in Paris 1919 -1939, Ein Lesebuch, Leipzig 1990, S. 61-62, S. 61.

[2] Camus, Albert: Der Mensch in der Revolte, Hamburg 1969, S. 115.

[3] Buñuel, Luis: Der letzte Seufzer, Berlin/Köln 2004, S. ? (im Kapitel zu “un chien andalou”).

[4] Hier könnte man so viele bekannte, ermüdende Dinge schreiben, wieso er asexuell war, deshalb nur eine poetische Annäherung: Georges Bataille hat in eben dem Jahr der Veröffentlichung von „Un chien andalou“ Dalís Bild Le jeu lugubre (Das finstere Spiel) als Feier einer/der Kastration interpretiert. So schreibt er: „Die Statue links wiederum personifiziert die ungewöhnliche  Befriedigung, die aus der plötzlichen Kastration bezogen wird […] Die Hand, durch die die Männlichkeit des Kopfes verdeckt wird, ist eine typische Regelverletzung, die für Dalís Malerei typisch ist, wo die Personen, die meist ihren Kopf verloren haben, ihn nur unter der Bedingung wiederfinden, daß sie vor Entsetzen Grimassen schneiden. Daher sei es erlaubt, in allem Ernst zu fragen, wie es um jene steht, die hier zum erstenmal die geistigen Fenster weit aufgehen sehen und die dort ein kastriertes, poetisches Wohlgefallen ansiedeln, wo nichts weiter als die schreiende Notwendigkeit aufscheint, Zuflucht zur Schande zu nehmen.“ (zitiert nach: Descharnes, Robert und Néret, Gilles: Dalí, Das malerische Werk, Köln 2001, S. 143.) Der folgende Bruch von Dalí und den Surrealisten mit Bataille ist wohl nicht darauf zurückzuführen, dass er weit daneben lag.

[5] zitiert nach: Descharnes, Robert und Néret, Gilles: Dalí, Das malerische Werk, Köln 2001, S. 189.