Verblümte Lügen – Ordet (DK 1954)

In „A Hundred Years of Japanese Film” unterscheidet Donald Richie zwischen zwei Formen der Realitätsdarstellung im Film: der Repräsentation und der Präsentation. Die Kunsttradition des Westens bis Ende des 19. Jahrhunderts ist die Repräsentation, die Nachahmung der Wirklichkeit. Das Kunstwerk versucht seine Künstlichkeit zu verstecken und so den Eindruck direkter Wirklichkeit zu erreichen. Im Film ist dies der Realismus: unauffällige Schnitte ohne erzählende Montage, alltägliche Geschichten einfacher Menschen, dezenter Musikeinsatz und so fort. Kurz, Filme die den Anschein einer direkten Wiedergabe der „objektiven“ Realität erreichen wollen.

In der Moderne und im traditionellen Japan wird Kunst eher als Präsentation verstanden. Ikebana oder japanische Gärten sind hier hilfreiche Beispiele. Ein Urwald hatte im traditionellen Japan nichts natürliches. Erst der Eingriff des Menschen, der ihn Form und Sinn gibt, lässt Natur entstehen. So ist es im präsentativen Film erst die menschliche Aufbereitung, die aus Sicht einer repräsentativen Kunsttradition als Verfremdung wahrgenommen wird, die Wirklichkeit entstehen lässt. Überspitzt gesagt, erst Montage, expressionistische Schatten, Surrealismus, wilde Schießereien, Musical-Einlagen, seltsam redende Zwerge usf. können die Wirklichkeit des Menschen erfassen und erfahrbar machen.

Sicherlich sind diese beiden Positionen sehr grob und die Grenzen verlaufen fließend, darüber ist sich Richie auch im Klaren, aber doch sind sie sehr hilfreich … und auch sehr subjektiv, womit wir endlich bei Ordet (“Das Wort”) angelangt sind. Es ist Carl Theodor Dreyers vorletzter Spielfilm und typisch für sein Spätwerk, das nur vier Filme in drei Jahrzehnten umfasst. In diesem setzt er sich auf einem dänischen Bauernhof in den zwanziger Jahren mit Glauben, Religion und Christentum auseinander.

Auf dem Borgenhof lebt der alte Morten Borgen mit seinen drei Söhnen. Der Älteste, Mikkel, und seine schwangere Frau Inger stehen kurz davor, ein weiteres Kind zu bekommen. Der zweite Sohn, Johannes, ist während des Theologiestudiums verrückt geworden und hält sich für Jesus persönlich. Der jüngste Sohn, Anders, hat sich in die Tochter des Schneiders Peter Petersen verliebt und möchte diese heiraten. Das Problem dabei ist, dass Morten und Petersen tief verfeindet sind, da sie die geistigen Oberhäupter zweier im Dorf konkurrierenden evangelischen Glaubensbekenntnissen sind. Der Film ist aber kein weiterer Romeo & Julia-Aufguss, sondern eine Meditation über den Glauben. Alle drei Handlungsstränge stellen die Frage nach der Wahrhaftigkeit von Glauben, nach dem Wert des Glaubens fürs Leben und dem Wert des Lebens für den Glauben. Interesse an Religion, und wenn es nur der Glaube an den Atheismus ist, sollte man für diesen Film haben.

Der Stil des Films stellt nun einen wichtigen Schlüssel für das Verständnis der Handlung dar. Lange Einstellungen, wenig Musik und eine irgendwie doch alltägliche Geschichte – es scheint klar, dass es sich um einen realistischen Film handelt. Doch der Realismus ist sehr spröde, das Schauspiel extrem hölzern, die Dialoge werde noch steifer vorgetragen, als sie  es sowieso schon sind. Die Figuren agieren wie Roboter, die ihren Text aufsagen. Jedes Leben ist aus ihnen gewichen. Sie scheinen in den entrückten Bildern auf der Leinwand gefangen zu sein… wie in ihrem Leben. Der Film besteht aus Gemälden trostlosen Seins. Tristesse kann kaum eindrucksvoller dargestellt werden. Der psychologisierende Stil des Kammerspiels, auf den der Film basiert, wird so von Dreyer ad absurdum geführt. Die Worte, die eigentlich die Menschen charakterisieren sollen, bleiben an der toten Oberfläche der leblosen Figuren. Und genau das ist der Punkt, an dem man sich entscheiden muss: ist der Realismus des Films gescheitert oder vielleicht soll es gar nicht realistisch sein? Entweder sind die Schauspieler und das Drehbuch schlecht oder diese verzerrende Form, dieser Expressionismus soll zeigen, dass die Religiosität der Figuren nur eine Maske ist, die ihre innere Leere verdecken soll.

Doch es gibt einen Moment nach dreiviertel des Films, der mehr noch als die von Edvard Munch inspirierte Kamera und das Schauspiel zeigen, dass Dreyers Realismus nicht scheitert, sondern dass Ordet gar nicht realistisch sein möchte. Nachdem der Tod auf dem Borgenhof zugeschlagen hat und Johannes verschwindet, verschwindet mit ihm der karge Stil Dreyers. Douglas Sirk scheint die Regie an sich gerissen zu haben. Die Filmmusik trieft plötzlich aus den Boxen, Wischblenden wo man hinschaut, aber vor allem scheinen die Menschen plötzlich wie zum Leben erweckt. Doch sie haben nicht zu einer tiefen Erfahrung des Lebens gefunden, sondern versuchen nur ihre weitere Leere und ihre Hilflosigkeit mit Melodramatik zu überdecken. Darüber hinaus ist der Film aber in dieser Sequenz viel realistischer, wie eine Erlösung beobachtet man die Belebung der Menschen, nur um wenig später zu erkennen, dass man getäuscht wurde. Die Figuren fallen wieder in den alten Trott. So kann dieser kurze Teil als sarkastischer Kommentar über die Lüge des Realismus-Eindrucks verstanden werden, denn: „Film, das ist 24 mal in der Sekunde Lüge, und weil alles Lüge ist, ist es auch die Wahrheit. Und, dass Wahrheit eben Lüge ist, das gibt jeder Film preis. Es ist nur, dass im Film Begriffe die Lüge tarnen und sie als Wahrheit erklären. Das ist für mich die winzige und einzige Utopie.“, wie Fassbinder Eddie Constantine in “Die dritte Generation” sagen lässt. Dreyer tarnt dabei, gerade in dem er die Tarnung auffliegen lässt. Er zeigt, dass er die Dinge nicht zeigt, wie sie sind, und macht das Erlebnis seiner Filme nur umso größer, da wir ihm nur umso mehr glauben.

Am Ende steht ein Film von monumentaler Größe, eigensinnig und wunderschön inszeniert, und mit dem radikalsten Ende, mit dem man in der zweiten Hälfte des 21. Jahrhundert einen Film beschließen kann.

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