Der Mythos der Realität – Medea (I/BRD/F 1969)

Zum 200. Geburtstag wurde die Schlacht von Jena-Auerstedt 2006 als Kissenschlacht nachgestellt. Ob der Initiator Pasolini-Fan ist, entzieht sich meines Wissens, aber doch zieht sich der Geist Pasolinis durch eine solche Aktion. Filme wie „Das 1. Evangelium nach Matthäus“, „Edipo Re“ oder eben Medea sind von Menschen in lächerlichen Kostümen bevölkert. Musik von anderen Kontinenten und anderen Zeiten liegt über dem Geschehen, die Kameraarbeit erinnert teilweise an zweitklassige Dokumentation. Das Paradigma der historischen Genauigkeit, der Realitätsdarstellung wird mit Füßen getreten. Alles sieht künstlich und vieles billig aus. Aber man sollte sich nicht täuschen, es liegt kein Budgetproblem vor. Genau in diesem Umgang mit der Realität liegt die Klasse dieser Filme. Es wird dem Zuschauer nicht vorgegaukelt, ein historisches Geschehen zu verfolgen, nein … wenn der Zuschauer diese Illusion haben möchte, dann muss er sie selbst aufbauen, sonst sieht er nur schlechte Schauspieler, die mehrfach in provinzielle Theaterumkleiden gefallen sind. Doch gerade durch diese „verfehlte“ Illusion liegt das Augenmerk auf dem Unterschied zwischen einer „objektiven“ Realität und dessen fiktionalen Aufbereitung/Verarbeitung in Form einer Geschichte. Damit ist Pier Paolo Pasolinis Bruch mit dem Neorealismus nicht weniger radikal als der Antonionis oder Fellinis, in deren Schatten er als „Skandalregisseur“ sein Dasein zu fristen scheint.

„Medea“ behandelt nun vornehmlich auch dies, die Lücke zwischen Mythos und Realität, Bild und Sprache, Gefühl und Ratio, Antike und Moderne. Natürlich geht es auch irgendwo um Jason, Argonauten und goldene Vliese. Am Anfang predigt ein Kentaur zum aufwachsenden Jason und erzählt von Göttern, dass Jasons Thronfolge durch dessen Onkel verhindert wird und über Mythos und Realität. Dass nur der Mythos die Realität erschaffen könne, denn Fiktion hält die Realität zusammen. Er redet bis Jason das Reich der Moderne, des Verstandes verlässt, in dem er aufgewachsen ist, um Thronfolger zu werden. Er begibt sich in das Land der Bilder, des Mythos und der Gefühle und das heißt Schweigen. Schweigen für lange Zeit. Ein Schweigen, dass mit den Vorstellungen von den entsetzten Gesichtern von Schülern und Studenten, die dachten, sie könnten den Film gucken, damit sie das Buch von Euripides nicht lesen müssen, angefüllt sind. Denn was folgt ist harte, Sitzfleisch erwartende Kinokost.

Über weite Strecken ist Medea ein Film ohne gesprochenes Wort, dem man nur mit Konzentration die Grundgeschichte abkämpfen kann: Medea (gespielt von Maria Callas Callas) hilft Jason das goldene Vlies zu rauben. Er wird trotzdem kein Thronfolger und hat zwei Kinder mit Medea. Nach zehn Jahren verlässt er sie, um in ein anderes Königreich einzuheiraten. Doch an Euripides ist Pasolini kaum interessiert. Die Geschichte bildet nur den Rahmen für die symbolisch aufgeladenen Bilder zur Erörterung der Beschaffenheit der Wahrnehmung der Realität. Besonders der Arbeit von Ennio Guarnieri (Kamera) und Nino Baragli (Schnitt) ist es zu verdanken, dass der Film eine fremde, magische Welt zeigt … eine Welt der Gefühle und des Traums. Niederschmetternde, monumentale Bilder wechseln sich ab mit besagten symbolisch überladenen oder geradezu lächerlich billigen Aufnahmen. Der Schnitt hinterlässt Fragen, statt diese zu beantworten. Rationell nicht immer zu erfassen, versucht „Medea“ die poetische Annäherung an das Problem der Kommunikation zwischen Gefühl und Verstand.

Bevor Jason also seine Frau und Kinder verlässt, taucht der Kentaur wieder auf und predigt: zwischen Jason, dem Verstand, und Medea, dem Gefühl, liegt eine Lücke. Medea versucht aus Liebe, diese zu schließen, endet aber entfremdet von sich und enttäuscht von ihrem Geliebten, der sich von ihr abwendet. Hass wächst in ihr heran. Sie kehrt zu ihren Wurzeln zurück, wie sie sagt. Die Bilder übernehmen wieder die Macht und Medea ergreift mit ihnen die Macht über die Welt. Das Bild von Medea wird mit den Bildern von Landschaften und Geschehen überlagert. Der Blick der Callas lässt keinen Zweifel, die Welt steht unter ihrem Bann … in ihrer Vorstellung. Doch gerade die Vorstellungen geben ihr die Macht, die Welt zu beeinflussen. Damit fängt sie an, eine Sprache zu sprechen, die auch Jason versteht, die Sprache des Schmerzes.

„Medea“ ist nicht gerade ein Unterhaltungsfilm, wenn man dies erwartet, wird man wohl am ehesten angeödet sein. Wenn man sich aber darauf einlässt, erhält man einen bemerkenswerten Film, der versucht, Gefühl ebenso wie Verstand anzusprechen.

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