Wenn Traditionen nur Erfindungen sind, dann leben wir wohl in einer permanenten Revolution. Das heißt wohl, dass wir wohl dann die Revolution erfinden müssen!
In 36 Stunden werde ich etwas tun, was mein Leben wohl nicht direkt ändern wird. Nichtsdestotrotz wird es eine sehr bedeutende Handlung sein. Ja, wirklich. Als Mensch, der für die zeremoniellen Aspekte des Lebens eine gewisse Affinität hat, würde ich wohl dieses Ereignis irgendwie feiern wollen… und gut in seiner zeremoniellen Inszenierung vorbereiten. Aber aus Erfahrung weiß ich nun, dass manche Menschen ihre Dissertation abgeben und ein paar Tage zuvor: ein Bewerbungsgespräch vermasseln, auf große, bedeutende und kleine nicht so bedeutende Feiern gehen, viel Alkohol trinken, viel Fleisch auf Grillparties essen und zum Frühstück Zombie-Filme und Holocaust-Filme gucken! Klingt absolut nicht zeremoniell!!! Ist es wohl auch nicht.
Ich hingegen lief heute bei Wind und Wetter, nun vor allem bei Matsch und -3 Grad zu meinem Lieblingskino, dem besten Programmkino im thüringischen Bermudadreieck. Kurz nach neun an einem Dienstag kann man auf den Straßen viele komische Leute sehen: zum Beispiel junge Damen, die auf merkwürdige Art Selbstgespräche führen. Oder einen entfernten Bekannten eines Kumpels, den man auf irgendeiner verrückten Feier im Frühling getroffen hatte, und das weit jenseits des fünften Bieres! Solche Leute meinen es nett, halten jedoch die Zeitplanung auf. Und so kam ich zu spät, nein nicht zu spät an sich, aber trotzdem zu spät nach meiner Berechnung ins Lichthaus in Weimar. Ticket und Edelstoff geholt, aber der Saal 2 war schon freigegeben und die besten Plätze waren schon weg (zweite Reihe Mitte; ich bekam zweite Reihe mit linker Ausrichtung). Wen sah ich im Kino? Ja, zunächst eine Mitarbeiterin der Unibibo in Jena… und die Dame, die Selbstgespräche führte. Eine Kostprobe aus Tom Waits‘ “Night on Earth”-Soundtrack und drei Trailer später fing der Film an. Ich kenne mich mit Street-Art nicht wirklich aus, aber der Trailer von Exit Through The Gift Shop war einfach dermaßen cool gewesen. Auch die Musik! Nun denn… der Film war tatsächlich cool. Er war sehr lustig. Er war sehr absurd und passte irgendwie zu meiner Grundstimmung. Thierry Guetta, ein Franzose in L.A., fing irgendwann an, alles mit seiner Kamera festzuhalten (wirklich ALLES! Auch die Kloschüssel, bei der gerade die Spülung getätigt wurde). Über seinen Cousin “Space Invader” kommt er auf die Idee, Straßen-Künstler zu filmen, und sie bei ihrer Arbeit zu unterstützen. Und er filmte… und filmte… und filmte…
So viel zum ersten Teil. Irgendwann hatte er alle Künstler begleitet, die es so in London und L.A. und in Frankreich und wo auch immer gibt. Bis auf… Banksy. Durch einen Zufall wird Guetta zu dessem Chauffeur und Mobiltelefon-Berater, und fängt auch an, ihn zu filmen. Banksy findet das irgendwie toll, seine Mitarbeiter nicht so. Egal… Irgendwann meint er, dass Thierry (so heisst übrigens ein Verwandter von mir!) vielleicht einen Film über Straßenkünstler zusammenschneiden sollte. Großes Problem: Thierry hat hunderte von unbeschrifteten Kassetten und hat niemals daran gedacht, wirklich eines Tages mit dem Material etwas anzufangen. Nichtsdestotrotz schneidet er einen Film zusammen. Das Resultat: ein 90-minütiger Trailer der so aussieht, als würde ein Speedfreak durch “900 Kanäle” [so im Film] zappen. Banksy und Co. sind not amused. Sie merken, dass Thierry tatsächlich das ist, was er anscheinend oberflächlich ist: ein zugegeben harmloser psychisch Gestörter mit einer Kamera. Deshalb nimmt Banksy die Sache mit dem Film selbst in die Hand. Und so entstand sozusagen der Film! Wie “meta”: Film im Film, der neu geschnitten wird… und so… Damit Thierry nichts mehr mit seiner Kamera anstellt, rät ihm Banksy, nach L. A. zurück zu reisen und dort ein bisschen Straßenkunst zu machen.
Und da fängt der dritte Teil an: die Verwandlung von Thierry Guetta in Mr. Brainwash. Diese/r fängt/fangen an, selbst Straßenkunst zu machen. Irgendwann (sprich: nach sehr kurzer Zeit) beginnt er, sich selbst ernst zu nehmen und geht zur Massenproduktion über. Und dann geht er dazu über, eine Ausstellung zu organisieren, nach dem Vorbild von Banksys erster L. A.-Ausstellung… nur halt größer und mit mehr Kunstwerken und und und. Dabei sind ihm seine Netzwerke in der Straßenkunstszene zwecks Propaganda sehr nützlich. Mit ein bisschen geschicktem Marketing entsteht ein großer Hype um MBW (Mr. Brainwash). Die Organisatoren seiner Ausstellung merken zwar, dass der Typ keine Ahnung von Kunst und keine Ahnung von Logistik für eine Kunstausstellung hat. Macht nichts: die Leute stürmen seine Austellung, er wird gefeiert und feiert sich selbst: “Warhol has passed away, but I‘m here.” Zurück bleiben die etwas angepissten wahren Straßenkünstler, die weiterhin mit wenig Kohle und einem halblegalen Status leben müssen. Fin!
Dieser Film war handwerklich und künstlerisch sehr viel besser gedreht als praktisch alle Dokus, die unsere Welt überschwemmen, mit ihren blöden dummen Reenactments und co. Dabei handelt es sich ja nicht einmal um eine Doku! Ich kenne nicht so viele Biopics: “Control” hatte mir sehr gut gefallen, aber das ist auch wirklich ein Kunstfilm. Ich denke, dass viele Biopics nicht an diesen Film rankommen können! Dabei ist Exit Through The Gift Shop kein Biopic!
Irgendwie habe ich gerade diesen Film so beschrieben wie einen Thriller über einen Trickbetrüger… oder wie eine Coming-of-age-Komödie, die irgendwie zum Horror-Trip wird… oder wie ein Morgan-Spurlock-Film, bei dem es darum geht, sich 30 Tage nur von Kleister und Sprühfarbe zu ernähren?
Nun denn… mein Schreibfluss wird langsamer und ich muss zum Ende kommen. 36 Stunden noch und ich schreibe gerade über einen Film, den ich nicht einmal richtig klassifizieren kann. Ich weiß: nicht sehr zeremoniell. Aber was soll‘s. Man tut, was man kann, und was vielleicht ein bisschen Spass macht. Und der Abend war irgendwie spaßig!