Dog Bite Dog (HK 2006)

Dog Bite Dog

Die Abgründe des Großstadtlebens wurden in der Geschichte des Kinos schon reichlich oft seziert. Ob Anonymität und Entfremdung im Serienkillerklassiker Sieben oder der im Chaos der Bürokratie versinkende Überwachungsstaat in Brazil, Großstädte bilden eine hervorragende Kulisse für die Projektion des Unbehagens an der Moderne und ihrer Mitbringsel.

Enge Häuserschluchten, durch die sich im Kaufrausch befindliche Menschenmassen quetschen, während der sprichwörtliche “Rand” der Gesellschaft auf dem Gehweg dahinvegetiert, das ist der Stoff aus dem die Träume nicht nur des postmodernen Films sind. Die negativ konnotierte Vorstellung der Masse, die spätestens seit Gustave Le Bon in den Sozialwissenschaften und so mancher großangelegter Gesellschaftstheorie ihr Unwesen treibt, gehört zum Großstadtleben, wie der verrückte Rotwang zu Metropolis.

Da mag es überraschend erscheinen, dass ein Film ein apokalyptisches Bild des menschlichen Daseins im Betonmoloch mithilfe einer merkwürdigen Absenz der städtischen Masse zu zeichnen in der Lage ist. Die Straßen der Siebenmillionenstadt Hongkong erscheinen in Soi Cheangs Dog Bite Dog leer gefegt, als hätten die Bewohner in weiser Voraussicht das Weite gesucht und sich in den Häusern verschanzt.

Dog Bite Dog

Denn niemand steht dem kambodschanischen Auftragskiller (Edison Chen) im Wege, als er im nächtlichen Hongkong eintrifft. Kein Wort Chinesisch kann er, doch man setzt sich in seiner Welt nur mit angeborenen Überlebensinstinkten durch. Von Kind auf zum Töten mit und ohne Waffen trainiert, ist der Killer seinem baldigen Gegner, dem Polizisten Wai (Sam Lee), durch die Radikalität seines durch den Instinkt geleiteten Handelns lange überlegen. Mit aller Seelenruhe betritt er zu Beginn ein Restaurant. Ausgehungert, wie er ist, verzehrt er fein säuberlich den letzten Rest seiner ausgiebigen Mahlzeit, steht auf und erschießt kaltblütig seine Zielperson. Ebenso ruhig verlässt er das Restaurant, jedoch nicht ohne sich vorher noch etwas Essen vom Ehemann des Opfers gegriffen zu haben.

Seine Handlungsweise löst Unverständnis bei den Polizisten aus, die, ihrer Profession gemäß, die Ordnung durch die Durchsetzung allseits anerkannter Normen und Werte aufrecht erhalten. Der Killer darf nicht mit dem Bösen verwechselt werden. Er repräsentiert Eigenschaften des Menschen, die erst in Extremsituationen zum Vorschein kommen und in der Zwischenzeit gern verdrängt werden. Überleben um jeden Preis, wenn nötig auf Kosten des Gegenübers, das ist seine einzige Triebfeder bis er, verfolgt von Wai, der mit allen Mitteln Rache für einen vom Killer ermordeten Kollegen nehmen will, passenderweise an einem Ort landet, der ein typisches Resultat modernen menschlichen Daseins darstellt. Einem Ort, der aus dem Blickfeld des wohlgenährten Städters entschwunden ist: einer Müllkippe.

Dog Bite Dog

Der Killer, der aus ärmlichen ländlichen Verhältnissen stammt, wird hier konfrontiert mit städtischen Formen der Ausbeutung: Ein Mädchen lebt mit ihrem missbrauchenden Vater inmitten des Abfalls. Ebenfalls fremd ist sie in der Metropole Hongkong als eine der vielen Hunderttausend Einwanderer vom Festland. Der Beschützerinstinkt des Killers wird geweckt. Fortan bilden die beiden ein ungleiches Gespann, welches gemeinsam durch die Straßen hetzt, denn Polizist Wai verliert nie ihre Fährte. Wie ein Jäger, der im Angesicht des Untiers in den Abgrund blickt und selbst zur Bestie wird, überschreitet Wai alle Grenzen des Polizistendaseins, um der Spur der Gejagten zu folgen.

Die beiden Protagonisten schießen und prügeln sich durch ein Hongkong, dessen Leere, dessen Verfall Soi Cheang in verblichene Blau- und Beigetöne kleidet. Einen mythischen Ort ummalt das mal karge, mal wuchtige Sounddesign, einen Ort der Endzeit, in dem ein menschliches Leben wie ein Sandkorn in den Ruinen vergangener Hochkulturen davon geweht wird.

In dieser Stadt gibt es für die beiden Antihelden keine Zukunft, keinen Grund anzuhalten. Gibt es für Hongkong eine (chinesische) Zukunft? Diese Frage muss sich jeder an seiner Stadt interessierte Filmemacher der SAR stellen. Soi Cheang umgeht die konkrete Antwort geschickt, wenn auch unbefriedigend. Spaß macht das größtenteils pessimistische Treiben in Dog Bite Dog nicht. Doch Kino soll mehr können, als unterhalten; auch das Kino Hongkongs.

Dog Bite Dog

Infernal Affairs III – Director's Cut (HK 2003)

[Wer Infernal Affairs I nicht gesehen hat und Wert auf ein ungespoilertes Filmerlebnis legt, sollte die folgende Kritik überspringen und stattdessen die letzten Sätze als Fazit ansehen. Alle anderen: Sport frei!]

Der Tod von 80% der Hauptfiguren könnte den ein oder anderen Produzenten abschrecken, ein Sequel zu drehen, nicht jedoch die gewitzten Filmschaffenden der Sonderverwaltungszone (SAR) Hongkong. Nachdem ein Prequel von Infernal Affairs dieses Problem bereits erfolgreich gelöst hatte, stand man erwartungsgemäß beim dritten Teil vor der Frage, bei der sich selbst Lenin schon den Kopf gekratzt hatte: Was tun?

Sollte man die Geschichte des Triadenspitzels Lau (Andy Lau) weitererzählen, der bekanntlich den ersten Teil überlebt hatte. Sollte man in einem Prequel auch noch die Kindheit der Helden inspizieren? Leider stellte man sich bei Media Asia nicht die Frage, ob überhaupt ein Sequel sinnvoll wäre, sonst hätte die Reihe in Form von Teil Zwei einen würdigen Abschluss erhalten.

Andy Lau in Infernal Affairs III

Infernal Affairs III ist ein Zeugnis der Unentschiedenheit, der großen Ambitionen und des Wunsches nach viel, viel Geld. Um noch einmal alles aus der geplagten Box Office der Heimat herauszuholen, haben die Drehbuchautoren Alan Mak und Felix Chong ein für einen Thriller viel zu kompliziertes Mischmasch aus Prequel und Sequel entworfen.

Der Grund: Irgendwie mussten die Superstars Andy Lau (House of Flying Daggers) und Tony Leung (Gefahr und Begierde) ein weiteres Mal in einen Film gequetscht werden, obwohl die Figur des letzteren bereits verschieden war. Folglich erzählt der dritte Teil der infernalischen Saga den weiteren Werdegang Laus in den Reihen der Polizei und schneidet diesen munter mit dem Geschehen in den Monaten vor Yans (Leung) Tod zusammen.

Die Geschichte des Triaden Lau, der – in die Polizei eingeschleust – eigentlich nur ein guter Cop und Mensch sein will, gibt noch am ehesten die Story für ein Sequel her, schließlich ist sein weiterer Weg nach dem ersten Teil offen. Die Regisseure Andrew Lau und Alan Mak gestalten diese Zeitebene in unterkühlten, abweisenden Interieurs, die Laus in die Brüche gehenden Geisteszustand entsprechen.

Leon Lai in Infernal Affairs III

Von Schuldgefühlen für Yans Tod getrieben, stürzt er sich in die Suche nach weiteren Spitzeln in den Reihen der Polizei und stößt auf den zwielichtigen Yeung (Leon Lai, neben Andy Lau einer der erfolgreichsten Cantopopsänger). Bald liefern sich beide ein Katz und Maus- Spiel ausgeklügelter Überwachung.

Auf psychologischer Ebene gehen die Macher einen nachvollziehbaren Weg. Je länger er Yeung überwacht, desto mehr identifiziert sich Lau mit dem toten Yan, darauf hoffend, dass auch er durch seine Taten Vergebung finden kann. Eine spannende Atmosphäre kommt deswegen nur schwer auf, schließlich nehmen wir die meiste Zeit Platz in Laus Kopf, in seiner Psyche und beobachten deren Kollaps in Zeitlupe.

Leon Lai bringt eine akzeptable Mischung aus Berechnung und Undurchsichtigkeit in seine Rolle des geheimnisvollen Gegenspielers. Sein stets mit einem überlegenen Lächeln verziertes Spiel ruft Francis Ng aus Infernal Affairs II in Erinnerung, doch Lais Methode ist oft nur schwer vom hölzernen Spiel eines ganz einfach schlechten Schauspielers zu unterscheiden. Die Persönlichkeit einer Figur, die Ng durch ein paar Blicke präsent zu machen in der Lage war, bleibt bei Lais Polizist nur ein blasser Schatten.

Andy Lau in Infernal Affairs III

Andy Lau dagegen hat selten so überzeugen können, ist bei vielen seiner Rollen doch der Vorwurf gerechtfertigt, er sei mehr Steinblock als Mime. Schade nur, dass die Macher sich nicht auf sein Starcharisma allein verlassen haben und die bedrückende Stimmung dieser Zeitebene immer wieder aufbrechen durch Rückblicke in das Leben des toten Yan. Würden interessante Facetten zu Yans Persönlichkeit durch einen ansprechenden Plot hinzugefügt werden, so wäre das noch akzeptabel. Ein Großteil des Films wird aber durch seine Flirts mit einer Psychologin (Kelly Chen) verplempert.

Chen übertrifft leider selbst Lai in der Kunst, einen flachen Charakter schlecht gespielt auf die Leinwand zu klatschen, so dass am Ende nur der Schluss bleibt, dass die Autoren verzweifelt versucht haben, ein Romantic Interest in den Film einzubauen. Bedenkt man, dass die zwei ersten Teile Aktricen, wie Carina Lau und Sammi Cheng, präsentieren konnten, kann man sich im Grunde nur noch an der eigenen Enttäuschung erfreuen.

Tony Leung in Infernal Affairs III

Sind die letzten Bilder des Films zwar ein treffender Abschluss der Saga, können diese leider nicht darüber hinwegtäuschen, dass die 100 Minuten davor schlicht zu konfus, um zu unterhalten, zwei Geschichten präsentieren, die zwanghaft in das Infernal Affairs-Schema gepresst wurden und an keiner Stelle die perfekt konstruierte Brillanz der Vorgänger erreichen. Die großen dramatischen Gesten, die in diesen Teilen dank der routiniert gezeichneten Figuren noch die Tränendrüse in Anspruch nehmen konnten, verdampfen in Infernal Affairs III durch ihre unglaubwürdige Künstlichkeit in kürzester Zeit.

In den Extras der deutschen DVD hat Schauspieler Anthony Wong das zentrale Problem von Infernal Affairs III mit gewohnter Ehrlichkeit formuliert:

“Müde bin ich. Da wird ständig nachgeschoben. Was soll das noch? Ohne würde es auch gehen. Ich verstehe wirklich nicht, was das alles soll. Das wäre auch ohne meinen Charakter gegangen.”

Was soll man da noch sagen?

Chen Daoming in Infernal Affairs III


Zum Weiterlesen:
Infernal Affairs
Infernal Affairs II
The Departed

Kurtz & Knapp

Dog Bite Dog (HK 2006):

Ein geradezu apokalyptisch düsterer Thriller, dessen Protagonisten sich wie tollwütige Hunde durch die dreckigen Straßen Hongkongs jagen, ohne Rücksicht auf Verluste oder unsere Sympathie. Brutal, pessimistisch, handwerklich perfekt. Eine ausführliche Kritik wird folgen.

Die Spielwütigen (D 2004):

Eine Doku, die den Weg von vier Menschen zur Schauspielerei verfolgt. Von der Bewerbung an der Schauspielschule bis zum Abschluss. Ganz nah ist die Kamera dran am Geschehen, stets haben wir die Frage auf den Lippen: Werden auch die vier gebrochen werden? Seltsam nur, dass sie selbst bei den Interviews zu spielen scheinen, besonders wenn die Kamera minutenlang auf den Gesichtern verweilt, nachdem alles gesagt ist. Das tut sie leider viel zu oft.

Just One Look (HK 2002):

Oberflächlich gesehen ein Vehikel für Teenie-Idole, wie die Twins und Shawn Yue (Infernal Affairs I + II) ist Just One Look in Wirklichkeit eine Liebeserklärung des Regisseurs Riley Yip (Metade Fumaca) an das Hongkong Kino der 70er Jahre. Eine Coming-of-Age-Ballade, die mit dramatischen ebenso wie surrealistischen Zügen glänzt, in der die Realtität bald von der Filmwelt nicht mehr zu unterscheiden ist. Auch hier wird’s eine ordentliche Kritik geben.

Ravenous (CZ/GB/USA 1999):

Gott, was war das denn? Ein Kannibalenfilm mit schwarzhumorigen Elementen, der im Amerika des 19. Jahrhunderts spielt und uns irgendwas über die Natur des Menschen, des amerikanischen Staates oder die stärkende Kraft von Menschenfleisch erzählen will. Neben Guy Pearce zeigt Robert Carlyle mal wieder sein schrecklichstes Overacting. So ein Müll!

Ebola Syndrome (HK 1996):

Ok, dieser Film ist eigentlich auch Müll, aber da Anthony Wong mitspielt kriegt er von mir schon mal eine Trillion mehr Punkte als Ravenous. Ein fieses, ekelhaftes Arschloch namens Kai (Mr. Wong) wird nach der Vergewaltigung einer sterbenden Afrikanerin (!) zum Träger des Ebola-Viruses. Was nun folgt, darf sich getrost als Klassiker des schlechten Geschmacks bezeichnen. Kai verbreitet nämlich fröhlich das Virus in Hongkong und überall brechen wild zuckend Menschen zusammen. Dieser Film nimmt sich überhaupt nicht ernst – und macht deswegen einen Heidenspaß. (Auch für den wird es natürlich eine Kritik geben)

The Sun Also Rises (VRC 2007)

Vor ein oder zwei Jahren habe ich mal im Rahmen eines Seminars zum chinesischen Film Zhang Yimous Rotes Kornfeld gesehen. “Verstanden” habe ich das farbintensive Regiedebüt nicht wirklich, schließlich lief der Film auf Grund technischer Probleme im chinesischen Originalton ohne Untertitel.

Dennoch kam ich nicht umhin, gefesselt zu werden von diesem roten Bilderrausch, von den wallenden Feldern, der glänzenden Sonne und natürlich der wie immer überragenden Gong Li in ihrer ersten Kinorolle. Jiang Wen, einer der wichtigsten Schauspieler Festlandchinas, hatte auch mitgespielt in Rotes Kornfeld und scheint seinen Meisterregisseur genau bei der Arbeit beobachtet zu haben.

20 Jahre später hat er – nun selbst Regisseur – mit The Sun Also Rises einen Film gedreht, der mir nach der zweiten Sichtung noch unergründlicher war als nach der ersten. Trotz englischer Untertitel. Jiang Wens dritter Film ist das erst. Sein letzter, Devils on the Doorstep von 2000, bescherte ihm den Großen Preis der Jury in Cannes und ein Berufsverbot als Regisseur in China für sieben Jahre. Die japanische Besetzung chinesischer Dörfer während des Zweiten Weltkrieges war das Thema gewesen.

Mit der Geschichte seines Landes befasst sich Jiang Wen nun wieder, doch verschwinden konkrete historische Ereignisse hinter der reichhaltigen Verdichtung der Symbole und Metaphern, die alle vier Episoden dieses Films gemein haben. “The madness“, “the love“, “the gun” und “the dream” hat Jiang selbst in einem Interview die vier miteinander verwobenen Kapitel von The Sun Also Rises bezeichnet. Das hilft aber nur bedingt weiter beim Verständnis.

China im Jahre 1976: Die Kulturrevolution geht auf ihr chaotisches Ende zu, während in einem abgelegenen Dorf die Mutter eines 18 jährigen Jungen beginnt, verrückt zu werden. Sie klettert auf Bäume, gräbt den ganzen Tag irgendwelche Steine aus und tut eben all das, was man so macht, wenn man verrückt ist. Ihr Sohn muss ihre seltsamen Eskapaden hilflos mitansehen, während er verzweifelt versucht, herauszufinden, wer sein Vater ist.

Etwa gleichzeitig wird ein Lehrer Opfer der Massenhysterie, als er während einer Filmvorstellung als “Perverser”beschimpft und vom Mob in einer der kreativsten Verfolgungsjagden, die ich jemals gesehen habe, gnadenlos durch die Stadt gehetzt wird. Er soll eine Frau unsittlich berührt haben. Das Resultat ist eine bizarre Nacht im Krankenhaus, während der eine Frau nach der anderen ihm ihre Liebe (oder ist es Verlangen?) gesteht.

Der Freund dieses Lehrers namens Tung – gespielt vom Regisseur selbst – bildet die Brücke zur dritten Geschichte. Mit seiner Frau wird er aufs Land geschickt, um von der Dorfbevölkerung zu lernen, darunter auch dem Sohn aus der ersten Geschichte. Da er ein Gewehr besitzt wird Tung zum Jäger, schart jeden Tag die Jugend um sich und zieht durch die Wälder. Seine vernachlässigte Ehefrau wendet sich währenddessen dem 18 jährigen Sohn zu.

Das letzte Kapitel springt 20 Jahre in die Vergangenheit, in das Jahr 1958 und bringt die Hauptfiguren, die schwangere Mutter, den Lehrer, Tung, seine Ehefrau à la Fellinis 8 1/2 zusammen, mitten in der Wüste, im nirgendwo.

Die Irrationalität der Verrücktheit, die die erste Episode kennzeichnet, verschwindet nie ganz aus dem Film und erlebt ihren Höhepunkt an dessen Ende. Andere Regisseure würden eine Zusammenkunft aller Figuren zur Klarstellung der Verhältnisse und Beziehungen nutzen. Jiang Wen legt gegen Ende neue Fährten zur Interpretation und wirft damit neue Rätsel auf, während er andere Fragen scheinbar beantwortet. Das geht soweit, dass man sich wundert, ob es sich überhaupt um dieselben Personen handelt.

Klar ist von Beginn an, dass The Sun Also Rises keine klassische Narration verfolgt, mit einem Anfang, einer Mitte, einem Ende. Die Episoden wirken in sich abgeschlossen und sind aber dank ihrer ellyptischen Erzählweise nicht zur Gänze verständlich, sind es doch Geschichten, die selbst auch wieder aus Episoden bestehen. Nicht zufällig zerstört die verrückt gewordene Mutter in einer Szene einen Abakus. Die Logik wird wortwörtlich aus dem Fenster geworfen.

Das Chaos der Kulturrevolution versinnbildlicht Jiang Wen in Gestalt dieser Mutter und offenbart dennoch durch diese Figur und ihre Umgebung, dass seine vier Geschichten nicht auf Basis der Realität ablaufen, sondern märchenhafte Züge tragen. Da fallen Schafe aus Bäumen, da sprechen wilde Vögel die Wörter vergangener Liebhaber usw.

Die letzte Episode trägt den Titel “the dream“, doch durchziehen traumartige Bilder den ganzen Film. Alles scheint Metapher, alles trägt einen verborgenen Sinn, der vielleicht nur vom Künstler selbst, dem Auteur, vollständig dekodiert werden kann. Als schlafe man des Nachts und die eigenen, unterbewussten Erinnerungen vermengen sich im Traum zu fantastisch irrationalen Geschichten.

Für Arthousekinos und Festivals scheint The Sun Also Rises gedreht, doch die Anziehungskraft dieses Films übertrifft die der meisten anderen “Avantgarde”-Werke. Man kann Jiang Wen Selbstverliebtheit vorwerfen, wenn er einen größtenteils undurchschaubaren Film dreht, mit sich selbst in einer dankbaren Hauptrolle. Übersehen wird dann, wie viel Spaß The Sun Also Rises macht. Diesen Figuren möchte man zusehen, ihr unverständliches Handeln täuscht nicht darüber hinweg, dass sie ergreifend lebensecht gespielt sind.

Das vereinigende Element ist die Musik, sind russische und chinesische Volkslieder und der Score von Joe Hisaishi, Stammkomponist japanischer Regiegrößen, wie Kitano und Miyazaki, welche die Rahmung der mit einer selten gesehenen visuellen Pracht erzählten Episoden bildet.

Im Vergleich etwa zum traditionell erzählten The Painted Veil glänzt The Sun Also Rises ebenfalls mit seinen Äußerlichkeiten, gewinnt den Zuschauer aber durch seine sympathisch gespielten Charaktere und letztendlich durch die Geheimnisse, die nicht preisgegeben werden. Man kann diesen Film nie ganz fassen, man will es nicht, verliert doch jedes Rätsel sein Mysterium, ist es einmal gelöst. Genau das macht den Film sehenswert.

Anthony Wong im Doppelpack: The Untold Story (HK 1993) + Colour of the Truth (HK 2003)

Anthony Wong Chau-Sang, inoffizieller König der Category III-Filme und in unseren Breitengraden bekannt durch seine Rolle des Inspektor Wong in der Infernal Affairs Trilogie [ich sage nur: “Autodach”], ist der Hauptgrund, warum ich mir die zwei sehr unterschiedlichen Filme The Untold Story (1993) und Colour of the Truth (2003) angeschaut habe.

Wong, neben Lau Ching-Wan und Francis Ng einer der wichtigsten Charakterdarsteller Hongkongs, gilt als bad boy der Industrie. Ob er nun bei den HK Film Awards im Freddy Krueger-Kostüm auftaucht; erklärt, er werde seinen Award mit aufs Klo nehmen oder über das nicht vorhandene Talent seiner Kollegen herzieht, er hegt und pflegt seinen Status als enfant terrible. Seine legendären Interviews variieren zwischen genervt einsilbig und zutiefst sarkastisch.

An Kritik für seine heimische Filmwirtschaft und die eigenen Werke spart er nie. Wem das “Wir waren am Set eine große Familie“-Gesülze nervt, sollte sich mal zu Gemüte führen, was der vielfach ausgezeichnete Wong über Größen wie John Woo oder Tsui Hark zu sagen hat.

An mehr als 140 Filmen hat der 46 Jährige mittlerweile mitgewirkt. Offenkundiger Müll, wie Gen-Y-Cops, findet sich ebenso in seiner Filmografie, wie Arthousekost von Ann Hui. Diese Vielfalt spiegelt sich auch in seinem Rollenrepertoire wieder.

Berühmt geworden durch wahnsinnige Mörder (The Untold Story, Ebola Syndrome) und gewissenlose Gangster (Hard Boiled), kann er den unauffälligen Normalo, der zum Berserker wird (Taxi Hunter, Beast Cops) ebenso glaubwürdig verkörpern, wie sympathische Vater- und Mentorfiguren (Infernal Affairs, Princess-D).

10 Jahre liegen zwischen The Untold Story und Colour of the Truth, die Unterschiede könnten kaum größer sein. Die bloße Präsenz dieser beiden Filme erzählt uns einiges über die Geschichte des Hongkong-Kinos.

The Untold Story (HK 1993)

Bei uns nennt man es FSK-18, in den USA NC-17, in Hongkong heißt es seit 1988 Category III, oder besser Cat. III. In anderen Ländern führt die Altersfreigabe “ab 18” dazu, dass die Filmemacher versuchen dieses Etikett durch Schnitte zu vermeiden. Selbst ein Gewaltporno wie Saw IV (den ich gestern im Kino durchlebt habe) wurde aus kommerziellen Gründen so geschnitten, dass er nur ein R-Rating bekommen hat.

In Hongkong führte die Klassifizierung dazu, dass Produzenten begannen, bewusst das “Label” Cat. III bis zum äußersten auszureizen. Wieviel Gewalt, Sex oder Gewalt und Sex kann man zeigen, bevor die Zensur einschreitet? Für wenige Jahre entwickelte sich so ein Genre, dessen Existenzberechtigung vielleicht fraglich, dessen Trashfaktor dafür erfreulich hoch ist. Viel Geld stand nie zur Verfügung. Warum auch, ging es doch vordergründig nur darum, für Freunde des schlechten Geschmacks möglichst viel Blut, Gedärm und nackte Haut in neunzig sinnfreie Minuten zu packen.

The Untold Story ist einer der Klassiker des Genres, was nicht nur an der extremen Natur des Films liegt. Der ein oder andere Zuschauer wird sich vielleicht hinterher wünschen, die titelgebende Geschichte wäre unerzählt geblieben.

Restaurantbesitzer Wong Chi-Hang (Anthony Wong) neigt dazu, seine köstlichen Fleischbällchen mit den Überresten ungeliebter Mitbürger zu füllen. Das ist auch kein Wunder, schließlich betrügt der Mann regelmäßig beim Mahjong. Einem solchen Menschen kann man alles zutrauen! Als die Polizei ihn festnimmt und ein Geständnis erpressen will, beginnt ein brutaler Foltermarathon.

Im Grunde hat Regisseur Herman Yau mit diesem überraschend logischen Schocker zwei verschiedene Filme gedreht, die zuerst parallel ablaufen und sich ab einem bestimmten Zeitpunkt zu einem Film vereinigen. Mit einem seltsamen Ergebnis.

Der eine Teil erzählt in dreckigen Farben die Geschichte eines Serienmörders, dessen Metzgertätigkeiten vor keiner Altersgruppe halt machen. Wong spielt diesen geldgierigen Misanthropen so abstoßend und widerwärtig, wie man es nur selten bei einer Hauptfigur sieht.

Andere Psychopathen der Filmgeschichte gewinnen die Herzen des Zuschauers durch ihre charismatische Intelligenz und Überlegenheit (Hannibal Lecter? John Doe? Jigsaw?). Wong Chi-Hang ist nicht besonders schlau, hat schlechte Umgangsformen und ist die Unfreundlichkeit in Person.

Er wäre schon abstoßend genug, wenn er keine Frauen vergewaltigen und Kinder ermorden würde. Auch verweigert der Film eine Erklärung für diesen abscheulichen Charakter. Nein, es wird keine von einer dominanten Mutter kontrollierte Kindheit gezeigt oder irgendeine Ideologie, irgendein höheres Ziel angegeben, für das er all die Schandtaten vollbringt. Er ist einfach nur da und wir müssen damit leben.

Anthony Wong hat für die intensive Darstellung seinen ersten Hongkong Film Award bekommen, damals ein Novum für einen Cat. III-Film. Mir persönlich gefallen seine späteren Rollen besser, da in The Untold Story wenig Platz für Subtilität und Zurückhaltung geboten wird.

Trotzdem könnte sich in diesem Erzählstrang das Potenzial für einen – trotz seiner unglaublichen Brutalität – guten Film verstecken, sozusagen als frischer Wind im Serienkillergenre. Ein Film der seinen Killer mal realistisch anpackt.

Wären da nicht die Cops, also der bereits erwähnte “zweite Film”. Danny Lee (The Killer) führt sie an als etwas fragwürdige Autoritätsfigur. Er bringt ständig Nutten mit aufs Revier. Seine Untergebenen sind nicht viel besser und vertreiben die meiste Zeit damit, ihre einzige Kollegin zu hänseln. Was hier zwischen den unfähigen Ermittlern abläuft, trägt in großen roten Lettern mit Ausrufezeichen den Titel COMIC RELIEF! vor sich her und es passt überhaupt nicht in diese Serienkillerstory, die höchstens schwarzen Humor aufblitzen lässt, aber nicht viel mehr.

So kann der Zuschauer nach blutigen Zerstückelungen hin und wieder befreit aufatmen. Die düstere Atmosphäre ist aber dahin. Diese beiden Stränge treffen nach der Gefangennahme des Mörders zusammen. Die hölzern agierenden Darsteller der Polizisten und der in der Story angelegte unbarmherzige Umgang mit Wong Chi-Hang, der mit dem auf Rache versessenen Bruder eines seiner Opfer eingesperrt wird, führen am Ende sogar dazu, dass wir Mitleid mit dem Widerling empfinden.

The Untold Story darf sich aufgrund der schauspielerischen Leistung des Hauptdarstellers und der technisch versierten Regie von Herman Yau als Höhepunkt seines Genres feiern. Seine disparate Natur verhindert aber, dass ein wirklich guter Film im DVD-Player landet. So bleibt am Ende eher der Trashfaktor, der zugegebenermaßen abgestumpfte Zuschauer – wie mich – sehr gut unterhalten kann.

Colour of the Truth (HK 2003)

Nach der Rückgabe Hongkongs an China wurde der Untergang des Kinos der Sonderverwaltungszone überall vorausgesagt. Die großen Regisseure waren ins Ausland gegangen (John Woo, Ringo Lam, nun auch Wong Kar-Wai), die Zensur machte dem Cat. III-Genre ein Ende und die Filme zielten von Jahr zu Jahr immer mehr auf den Markt Festlandchinas ab.

Man geht davon aus, dass Hongkongs Filmindustrie früher oder später mit der Chinas verschmelzen wird. Das sind traurige Gedanken angesichts der Tatsache, dass kaum ein wegweisender Film, ob Drama oder Krimi, in China überhaupt gezeigt werden darf. Sozusagen als Schlag für die dahinsiechende Filmindustrie muss noch festgehalten werden, dass die Ticketverkäufe und Filmproduktionen Hongkongs pro Jahr stetig zurück gehen.

Es ist also kein Wunder, wenn man dort gnadenlos bekannte Erfolgsrezepte kopiert. Infernal Affairs und seine Ableger waren ein unerwarteter Hit an den Kinokassen gewesen, d.h. früher oder später wurden Undercoverdramen und Triadenfilme en masse produziert, die vom Hype profitieren wollten.

Colour of the Truth geriet schnell in den Verdacht ein solcher Abkömmling zu sein, nicht zuletzt wegen seiner Besetzung. Bedenkt man, dass Wong Jing, der Albtraum aller geschmackvollen Kritiker, diesen Film in die Wege geleitet hat, kann man davon ausgehen, dass Colour of the Truth auch so gedacht war. Die Story ähnelt Infernal Affairs aber nicht wirklich:

Die beiden Cops Wong (Anthony Wong) und Seven Up (Lau Ching-Wan) stehen sich auf einem Dach gegenüber, als Wong den Triadenboss “Blind” Chui (Francis Ng) festnehmen will. Nach dem Ende der Konfrontation ist Wong der einzige Überlebende der Drei. 10 Jahre später kommt Neuling Cola (Raymond Wong) in die Einheit Wongs. Er ist der Sohn Seven Ups und will Rache am Mörder seines Vaters üben.

Den inszenatorischen Fähigkeiten des Co-Regisseurs Marco Mak ist es wohl zu verdanken, dass Colour of the Truth so gut geworden ist. Der stylische, in ausgebleichten Farben gehaltene Film ist temporeich und spannend, trotz der fehlenden Motivation der Hauptfigur; die Figur Wongs ist viel zu sympathisch, als dass wir glauben könnten, der junge Cop könne sie töten.

Anthony Wong möchte man zwar hin und wieder zuflüstern, er solle mal seine Sonnenbrille abnehmen, damit wir sein Spiel besser verfolgen können. Seine Fähigkeit, innerhalb weniger Filmminuten einen glaubwürdigen, vielschichtigen Charakter auf Zelluloid zu bannen, erbringt allerdings einen nicht zu unterschätzenden Mehrwert für den Thriller.

Trotz der Storymängel ist Colour of the Truth ein spannender Thriller, dessen Actionszenen nicht enttäuschen. Selbst die eher ruhigen Momente – so pflegt Wong in einer Szene seinen gelähmten Vater – überzeugen dank der Besetzung. Groß ist Colour of the Truth aber nur in der Auftaktsequenz, die den Rahmen des Films bildet: Lau Ching-Wan, Francis Ng, Anthony Wong auf einem Dach, das ist sehenswertes Kino!


Mehr zum Thema Cat. III.
Ein lesenswerter Artikel über die Karriere Anthony Wongs.
Kritiken zum Hongkong Kino, inkl. Infernal Affairs.