Schlank. Schön. Aufs Wesentliche reduziert. Es ist immer wieder erstaunlich, welche Entwicklung Soi Cheang bzw. Cheang Pou-Soi bzw. Whatever allein seit Dog Bite Dog durchgemacht hat, ganz zu schweigen von seinen Anfängen. Erst die hypersensitive Selbstzerfleischung, dann die an Expressivität sich selbst überstürzende unglaublich abgefahrene Manga-Verfilmung Shamo, schließlich die Coppola-Hommage meets Milkyway-Housestyle im Setzkastenformat namens Accident und nun Motorway, der in China mit Ausschnitten aus Andrew Laus Initial D beworben wird (of all things!). Im Sommer startet das Autorennen in Hongkong.
Punished (HK 2011)
In Johnnie Tos Vengeance gibt es diesen Moment, in dem Francis Costello (Johnny Hallyday) seine Tochter nicht mehr erkennt und die drei von ihm engagierten Killer dem alternden Ex-Kollegen erklären müssen, warum, wieso, weshalb er sich auf einem Rachefeldzug befindet. Wird im dritten Teil der Hitman-Trilogie der Wunsch nach Vergeltung weitervererbt, nachdem sein Ursprung verschwunden ist, nähert sich Law Wing-Cheongs Punished der Rache als Mittel der Selbstkasteiung. Zusammen mit Cheang Pou-Sois Accident bilden “Punished” und “Vengeance” ein faszinierendes Tryptichon aus dem Hause Milkyway Image, welches die Facetten des Themas mit unterschiedlichen Resultaten auslotet. Punished geht im direkten Vergleich als konventioneller, nichtsdestotrotz ungewöhnlichster Beitrag der Produktionsfirma von Johnnie To und Wai Ka-Fai hervor. Denn der Film kommt ohne den üblichen Milkyway-Style aus, besticht nicht durch Set Pieces, sondern gibt sich als nüchterne Charakterstudie.
Im Mittelpunkt des Geschehens steht der rücksichtslose Geschäftsmann Wong Ho-Chiu (Anthony Wong), der mit Immobilien sein Geld verdient und vor illegalen Methoden nicht zurückschreckt. Wong ist ein Kontrollfreak und damit ein echter Milkyway-Held, dem im Verlauf des Films die Zügel aus der Hand genommen werden. Seine Tochter Daisy (Janice Man) wird entführt und gleich zu Beginn erfahren wir – und das ist kein Spoiler – dass die junge Frau die Entführung nicht überlebt. So wird die geradlinige Erzählung bereits in den ersten Minuten zugunsten unvermittelter Zeitsprünge aufgegeben, die dem Film die Dynamik anderer Rachethriller verwehren. Aber Punished ist sowieso kein gewöhnlicher Rachethriller und nur bedingt ein “Thriller”. Wir wissen um das Schicksal Daisys, bevor wir ihre nicht sonderlich einnehmende Persönlichkeit kennenlernen. Sie ist die Ausgeburt der Teenager-Rebellion in ihrer nervigsten Form, schmeißt das Geld ihres Vaters für Koks und Klamotten raus, beleidigt ihre verständnisvolle Stiefmutter aus einem einzigen Grund (sie ist die Stiefmutter), benimmt sich alles in allem unerträglich. Unwesentlich vorteilhafter kommt ihr Vater weg, der seine Geschäftsmethoden auf das Familienleben ohne Hintergedanken überträgt, seinem Sohn vorschreibt, was er zu studieren hat und seine Frau als persönliche Assistentin (aus)nutzt. Man könnte auch sagen, die Figuren in “Punished” hätten ihr Schicksal verdient, dass die titelgebende Bestrafung, welche der Film austeilt, rechtens ist. Punished versinkt allerdings weder in der absoluten Hoffnungslosigkeit, noch in zynischen Attitüden. Das Drama – ja, es ist wohl am ehesten ein Drama – verdankt dies in erster Linie den Schauspielern und mit Abstrichen der erzählerischen Herangehensweise.
Anthony Wong ist spätestens seit Beast Cops ganz groß darin, Männer zu verkörpern, die an ihrer übertriebenen Maskulinität zu scheitern drohen. Manchmal reden sie viel, manchmal wenig, aber nur selten können sie das ausdrücken, was in ihnen vorgeht. Sie sprechen mit Taten und das hat meistens fatale Konsequenzen. Deswegen muss sich sein biestiger Cop zwangsläufig auf einen drogengeschwängerten Feldzug der Gewalt begeben, deswegen gedenkt sein Immobilienmagnat infolge des Todes seiner Tochter und seines Versagens als Vater sich einzig in Form der Rache Erleichterung verschaffen. Doch hier verlässt Punished die ausgetretenen Pfade des Genres. Anstatt wie Pierre Morels “Taken” den Erzeuger selbst zum Täter werden zu lassen, wählt Wong Ho-Chiu einen Weg, den ein Mann in seiner Position wohl wählen würde: Er beauftragt einen Angestellten. Während Chor (Richie Ren), ein ebenfalls von seinem Kind Entfremdeter, seinem Job methodisch kühl nachgeht, beobachtet der Boss auf seinem Smartphone die Folter und/oder Tötung der Beteiligten. Denn Rache erweist sich in “Punished” als abstrakte Idee, die nicht mit Emotionen angereichert werden kann. In ihrer Umsetzung gerät sie ebenso sinnlos wie der Tod Daisys. So verbleiben die gescheiterten Väter Wong und Chor mit dem Handy als unzureichendem Ventil für ihre Schuld, während der Film zum unsentimentalen Schluss kommt, dass manche Fehler schlicht nicht begradigt werden können. Obwohl sich “Punished” durch seine analytische Erzählweise und die für Genre-Fans wohl zu leidenschaftslose Aufbereitung der Rache und ihrer Folgen einiges an Immersionspotenzial verbaut, ist gerade dieser Ansatz erfrischend. Dabei greift der Film klassische Milkyway-Motive auf, um ihnen eine ungewohnte Wendung zu verleihen. Erscheinen die Professionals in vielen Werken der Produktionsschmiede als Gestrandete aus einer anderen Epoche, haben sich die Rächer in Punished allzu gut in der Moderne eingelebt und müssen nun mit den Folgen zurechtkommen. So ist der Film auch mit seinen Makeln eine Rachestudie für das neue Jahrtausend.
“Punished” ist bisher nur in Hongkong auf DVD (RC: 3) und Blu-ray (RC: A) erschienen und kann bei YesAsia erstanden werden.
Trailer: Johnnie Tos Life Without Principle & Soi Cheangs Motorway
Die Kassen seiner Produktionsfirma Milkyway Image füllt Johnnie To bekanntlich gern mit Romantic Comedies, doch die machen die Fans (und wohl auch ihn selbst) auf Dauer nicht glücklich. Nach der Komödie “Don’t Go Breaking My Heart” gibt es aber wieder einen echten Stapel vielversprechender Milkyway-Filme. Da gibt es beispielsweise Law Wing-Cheongs Rachethriller Punished, der im April in die Hongkonger Kinos kam. Interessanter aber ist der neue Film von Soi Cheang (Accident). Der heißt Motorway und wurde komplett Guerilla-mäßig auf den nächtlichen Straßen Hongkongs gedreht. Wann Johnnie Tos Regie-Arbeit Life Without Principle das Licht der Welt erblickt, ist aber noch nicht bekannt. Für letztere gibt es jetzt die ersten Trailer, die einen Sales-Hintergrund zu haben scheinen, weil der letzte Schliff fehlt.
Der Trailer für Motorway von Soi Cheang (a.k.a. Cheang Pou-Soi):
Der Trailer für Life Without Principle (vormals “Death of a Hostage”) von Johnnie To:
Es müssen ja nicht immer Schießereien sein
Auch wenn Johnnie To durch seine Gangsterfilme und Policiers berühmt geworden ist, dreht der Mann mit der Zigarre regelmäßig Filme von der sanfteren Sorte. Die scheinen häufig das Licht der Welt zu erblicken, um Geld zu scheffeln für die ambitionierteren Projekte. Diesen RomCom-Zweig seiner Filmografie deshalb einfach zu ignorieren, führt jedoch nur dazu, dass man echte Perlen wie “Needing You…” übersieht. Tos neue RomCom, die er mit Wai Ka-Fai gedreht hat, heißt Don’t Go Breaking My Heart. Daniel Wu, Louis Koo und Gao Yuan-Yuan gehören zum Personal. Den Trailer mit englischen Untertiteln kann man unten anschauen. Wann Tos nächster Krimi “Death of a Hostage/Life Without Principle” mit Lau Ching-Wan (“Mad Detective”) fertig ist, steht anscheinend noch in den Sternen.
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Das fliegende Auge: Breaking News von Johnnie To
Beim folgenden Text handelt es sich um einen leicht veränderten Auszug aus meiner unveröffentlichten Magisterarbeit über die Rauminszenierung in den Filmen von Johnnie To, die ich dieses Jahr fertiggestellt habe. Im Rahmen eines vergleichenden Kapitels über “PTU” (2003) und “Breaking News” (2004) wird darin eine Plansequenz aus letzterem analysiert. Ausgewählt habe ich das Unterkapitel aus zwei einfachen Gründen, nämlich weil es 1.) in meinen Augen auch verständlich ist, wenn man die vorherigen und sich anschließenden Ausführungen nicht gelesen hat. Und weil sich 2.) zur hier des öfteren stattfindenden kritischen Auseinandersetzung mit dem Regisseur eine analytische gesellen soll.
1 Breaking News
Eine knapp siebenminütige Plansequenz leitet das Treiben in “Breaking News” ein. In dieser gerät die Observation einer Gruppe von Räubern aus Festlandchina in einer belebten Seitenstraße durch einen Zufall zur Schießerei. Von Fernsehen und Printmedien wird das augenscheinliche Versagen der Polizei zum Skandal stilisiert, also bemüht sich diese um Schadensbegrenzung. Nicht nur sollen die Flüchtigen gefasst, auch das Image der Gesetzeshüter muss wiederhergestellt werden. So wird eine Medienoffensive angestrengt, welche den Versuch darstellt, die Kontrolle zurück zu gewinnen; die Kontrolle über die Berichterstattung durch Speisung der Journalisten mit Videoaufnahmen der Polizeiarbeit und die Kontrolle über ihr eigenes und das Bild der Gangster in der Öffentlichkeit. Doch letztere, die sich derweil in einem Wohnhaus verschanzt haben, verwenden die gleiche Taktik. Über das Internet verbreiten sie Videos eines gemütlichen Mittagsmahls mit ihren Geiseln und gescheiterter Versuche der Polizei, das Haus zu stürmen. Eine Logik der Aktion und Reaktion gebietet über das Geschehen: Versorgen die Räuber ihre Geiseln mit Essen, verteilen die Ordnungshüter Gerichte unter den wartenden Journalisten und legen vor den Kameras selbst eine Mittagspause ein. Doch nach und nach dezimieren die Ordnungshüter ihre Gegner bis auf den letzten, der, durch die Straßen gehetzt, mit seinem Tod den Medien-Coup der Polizei perfekt macht.
In seiner Analyse von “Breaking News” legt Stephen Teo besonderen Wert auf zwei Aspekte: Die technischen Herausforderungen, die To sich bei Planung des Films selbst gestellt hat, und die Besonderheit einer weiblichen Actionheldin in Gestalt von Rebecca Fong. Frauenfiguren in der Rolle der Heldin finden sich in seinen Filmen nach 1997 allenfalls in den Komödien. Deshalb ist Rebecca Fong, die nicht nur die Medienpolitik der Polizei steuert und damit in gewisser Weise die Rolle der Regisseurin übernimmt, sondern im Finale die Spur des letzten überlebenden Gangsters aufnimmt, eine klare Ausnahmeerscheinung. Ein „neuer weiblicher, heroischer Archetyp“ ((„[…] new heroic female archetype“ (vgl. Teo, Stephen: Director in Action. Johnnie To and the Hong Kong Action Film. Hongkong: Hong Kong University Press, 2007, S. 142).)) in seinem Werk, der bis heute keine Ergänzung erfahren hat und allenfalls in den drei Superheldinnen des “Heroic Trio” entfernte Schwestern besitzt.
Bei den genannten technischen Herausforderungen handelt es sich um zwei aufwändige Plansequenzen. Unter Plansequenz oder Sequenzeinstellung wird an dieser Stelle, den Ausführungen von Metz folgend, die „autonome Einstellung“ verstanden, in der „eine ganze Szene in einer Einstellung behandelt [wird], d.h. die Einheit der ‘Handlung’ verleiht der Einstellung ihre Autonomie“ ((Metz, Christian: Probleme der Denotation im Spiel?lm. In Albersmeier, Franz-Josef (Hrsg.): Texte zur Theorie des Films. Stuttgart: Philipp Reclam jun. GmbH, 2003, S. 337)). Beide Plansequenzen bilden durch ihr Auftauchen in “Breaking News” eine Rahmung des Geschehens. Die erste wurde bereits angesprochen und schildert die Schießerei, welche die folgende Jagd in Gang setzt. Umgebung ist eine Seitenstraße, ein immobiler Handlunsgraum, der von der Kamera mit Hilfe eines Krans im Verlauf der sieben Minuten vertikal wie horizontal erfahren wird. Im Gegensatz dazu handelt es sich bei der zweiten um eine Verfolgung eines Busses durch ein Motorrad. Steadycam-Aufnahmen schildern die Szene mitsamt der Schießerei zwischen den beiden Fahrzeugen aus Sicht der Insassen des Busses (Fong und der letzte überlebende Gangster). Die Plansequenzen sind im Oeuvre Tos als genauso ungewöhnlich anzusehen, wie die weibliche Heldenfigur und sind bis heute Singularitäten in seiner Filmografie ((U.a. als Grund für den Einsatz dieses formalen Mittels in „Breaking News“ führt To an, dass er diese Art von Aufnahme vorher noch nicht bestritten habe (vgl. Teo, 2007, S. 136).)). Die drei wesentlichen Örtlichkeiten des Films werden vervollständigt durch einen Wohnblock, in den sich die Gangster nach der Schießerei flüchten. Ein Großteil des Films dreht sich danach um die Belagerung des Hauses durch Polizei und Presse sowie die Geiselnahme einer Familie, welche die Situation verschärft.
Was “Breaking News” weiterhin eine Sonderstellung innerhalb von Tos Oeuvre seit “The Mission” verschafft, ist die Tageszeit. Tos Policiers und Actionfilme tragen sich mehrheitlich entweder in der Nacht zu oder erreichen ihren Klimax nach Anbruch der Dunkelheit. Die Noir-Ästhetik, die so unterschiedliche Filme wie “Election”, “PTU” und selbst die Kurosawa-Hommage “Throwdown” dominiert, wird in “Breaking News” durch den Einsatz eines unterkühlten Filters ersetzt, der dem Film einen eisigen Blauton verleiht. Je weiter der Tag voranschreitet, desto stärker erscheint die bläuliche Sättigung, die im Aufeinandertreffen von Fong und dem Kopf der Räuberbande gegen Ende ihren Höhepunkt anstrebt. Den Effekt dessen beschreibt Teo als „noir coolness“, der stark mit der Charakterisierung der weiblichen Heldin zusammenhänge ((Vgl. Teo, 2007, S. 141)). Gleichzeitig muss an dieser Stelle die Unwirklichkeit dieser Farbbalance erwähnt werden, welche die Protagonisten in ein stahlblaues Zwielicht taucht, dessen Sterilität an die Hochglanzfassaden Hongkongs erinnert und damit gleichsam auf jenen Glanz, jene Modernität und Fortschrittlichkeit der Stadt verweist, welche die Polizei nach außen und besonders am Tage zu wahren sucht. Das blaue Leichentuch besiegelt geradezu erdrückend die Unausweichlichkeit der Gefangennahme oder des Todes des Gangsters. Doch jene Unausweichlichkeit ist sowohl für die Verfolger als auch für die Verfolgten bereits in den Hongkonger Straßen und Häusern, wie sie hier konstruiert werden, angelegt.
1.1 Plansequenz
Der Blick geht gen Himmel. Ein Himmel, der von jenen wie Unkraut aus dem Boden geschossenen Apartmenthochhäusern bevölkert wird, die Ackbar Abbas als sinnbildlich für die immer schon im Verschwinden begriffene Architektur der Stadt betrachtet. “Breaking News” wird damit durch ein vielsagendes Bild eröffnet, denn die Kamera senkt sich in der Folge auf heruntergekommene Wohnhäuser hinab, welche die Straße, in der es bald zur Schießerei kommen wird, säumen. Glanz und Verfall, Gegenwart und Vergangenheit existieren nebeneinander: „[…] Every building in Hong Kong, however new or monumental, faces imminent ruin, on the premise of here today, gone tomorrow […].“ ((Abbas, Ackbar: Building on Disappearance. Hong Kong architecture and colonial space. In During, Simon (Hrsg.): The Cultural Studies Reader. 2. Auflage. London und New York: Routledge, 1999, S. 147)) Schuld daran ist die Immobilienspekulation. So erfolgt eine Charakterisierung des Raumes mit Hilfe zweier zeitlicher Koordinaten, welche durch diese einfache Bewegung verbunden werden.
Hoch oben über dem Erdboden schwebt die Kamera am Himmel, um anschließend hinab auf die Straße zu gleiten, den Blick auf eine einzelne Person werfend, die einen der Eingänge betritt. Es ist einer der Räuber vom Festland. Der Gestus der Bewegung aus den Höhen hin zu den Menschen am Boden wird mit der Einleitung des Films nicht etwa fallengelassen. Vielmehr verbleibt der Blick in dieser Rolle des distanzierten, ja sogar neutralen Beobachters. Dementsprechend folgt die Kamera dem Gangster, als er ein Haus betritt, fast schon vorausschauend von außen, um ihn zwei Stockwerke weiter oben in der Wohnung seiner Kollegen wieder anzutreffen. Ein Blick durch das Fenster und schließlich in den Raum, hineingeworfen von einem allwissenden Auge, welches nach und nach die Fronten der bald folgenden Schießerei klärt. Denn sobald die eine Seite gezeigt wurde, verlässt die Kamera die Unterkunft und folgt einer vom Wind herabgetragenen Zeitung zu einem Auto, das vor dem Haus hält. Zwei Polizisten in zivil sitzen darin und observieren die Bande. Fließend bewegt sich die Kamera vorbei am Auto, um durch die Heckscheibe die Blickrichtung der Polizisten einzunehmen. Sie und wir beobachten das Geschehen vor dem Eingang. Drei Räuber verlassen das Haus. Ein weiteres Auto fährt vor. Über das Gefährt der Polizisten hinweg hebt sich dann der Blick der Kamera, um das davorstehende der Gangster zu fokussieren. Zwei Streifenpolizisten greifen unwissentlich ein in die Observation, als sie den Fahrer des Wagens der Räuber ermahnen. Vorbei an den Diskutierenden gleitet die Kamera zu den anderen Verbrechern, die die Situation aufmerksam, aber unauffällig von der Seite beobachten. Der Kreis der Bewegung durch den Raum wird geschlossen, als das Auge zurückkehrt zum Auto der Polizisten, die die Angelegenheit ebenso angespannt betrachten. Ein inszeniertes Ablenkungsmanöver anderer Cops in zivil auf der gegenüberliegenden Straßenseite wird beiläufig eingefangen, doch ehe sich die Streifenpolizisten aus der Gefahrensituation entfernen, entdeckt einer von ihnen eine verdächtige Tasche im Auto der Gangster. Was folgt ist der Stillstand vor der Eruption der Gewalt. Der Polizist, kerzengerade vor dem Auto stehend, verlangt zu wissen, was in der Tasche ist, auf die er zeigt. Die Kamera, gleichsam wie die Figuren im Moment der Statik gefangen, wartet wie ein unsichtbarer Beobachter eines Western-Duells auf die Reaktion. Als Viereck um das Auto gruppiert, verharren die Figuren für einen Moment wie eine geometrische Konstruktion in Mitten des Raumes, bilden Vektoren, die in ihrer Anordnung, das wird die Analyse der Filme zeigen, ein typisches Beispiel für die Definition der Tiefe des Raumes mit Hilfe von Körpern in den Werken von Johnnie To sind.
Was folgt, ist das Unvermeidliche. Die Streifenpolizisten werden von den Räubern erschossen, die observierenden Cops beginnen zurückzuschießen. Eine Straßenschlacht entbrennt. Zwischen den Parallelen der Bürgersteige schweift die Kamera im wortwörtlich fliegenden Wechsel umher, mal die eine Front, mal die andere heraushebend. So weit ist ihr Blick und damit auch der des Zuschauers den physikalischen Gesetzen enthoben, dass sie, während die Schießerei auf der Straße weiter läuft, für einen Moment das Interesse daran verliert, um zu einem Gangster ins zweite Stockwerk zu gelangen, der auf einem Fensterrahmen sitzt und von dort auf die Gegner schießt. Die Kamera folgt ihm, als er von dort herab auf die Straße springt, und hebt sich sogleich wieder in die Luft, als die Räuber zu entkommen suchen, um ein Panorama der Zerstörung zu zeigen. Einen wortwörtlichen Fluchtpunkt zeichnend, begibt sie sich danach wieder auf die Seite der Polizisten, die auf die Gangster am anderen Ende der Straße feuern. Wiederum durchfährt die Kamera diesen imaginären Flur, immer schneller auf die Gangster zu, die erst eine Panzerfaust laden und dann begleitet von einem 180°-Reißschwenk – die erste eigentlich dynamische, dem Geschehen entsprechende Bewegung in der Sequenz – diese auf die Polizisten abfeuern. Der Detonation folgt ein Schnitt. Das nominelle Ende der Plansequenz ((00:01:16-00:07:52)) nach fast sieben Minuten.
Eine Plansequenz als Auftakt eines Films zu verwenden, ist an sich, nach über hundert Jahren Filmgeschichte, kein Novum mehr. Robert Altman begann “The Player” (1992) auf diese Weise und Orson Welles verwandte lange vor ihm selbiges Mittel, um Touch of Evil (1958) einzuleiten. Gemeinsam hat der Auftakt von “Breaking News” insbesondere mit letzterem eine bestimmte Funktionalisierung. Wenn Schultes (8Schultes, Stefan: Faszination des Bösen. Orson Welles’ Filme in Hollywood. Remscheid: Gardez! Verlag, 2007, S. 311)) Beschreibung der dreieinhalb Minuten langen Verfolgung einer Bombe in einem Auto zum Schluss kommt, dass sie Dramaturgie, Figuren und Örtlichkeit des folgenden Films schon zu Beginn zusammenfasst, so ist ein vergleichbares Fazit auch nach Ansicht der ersten sieben Minuten von “Breaking News” zu ziehen. Nicht nur werden uns in narrativer Hinsicht abgesehen von Rebecca Fong die beiden wichtigsten Gruppen der Protagonisten und Antagonisten vorgestellt. Auch die Konstruktion des Raumes durch die im Grunde fliegende Kamera verweist auf das Verhältnis der Figuren und v.a. ihrer Rollen. Teo ((Vgl. Teo, 2007, S. 136)) verweist auf die „parasitische Verbindung“ zwischen Polizei und Gangstern, die in dieser Exposition hergestellt wird. Auf Grund der Kameraführung und des durch sie konstruierten Raumes kann man diese Verbindung allerdings noch weiter führen. Der bereits erwähnte neutrale Blick der Kamera in diesen ersten Minuten bevorzugt, anders als es etwa in der besagten Sequenz in “Touch of Evil” geschieht, keine der Figuren. In Orson Welles’ Film wird nicht nur der Moment des Suspense durch Zeigen der tickenden Zeitbombe in der ersten Einstellung eingeführt. Kurz darauf heftet sich die Kamera primär an die Fersen der beiden Protagonisten (Vargas und Susan) bei ihrem Spaziergang über die Grenze, was zur Folge hat, dass der Zuschauer „keine Möglichkeit [hat], sich feste Bezugspunkte zu schaffen. Orientierungslos muss er sich mit der Kamera treiben lassen.“ ((Schultes, 2007, S. 310)) Demgegenüber dient die ruhige, selbst in Momenten des Spektakels beobachtende, nicht involvierte Blickführung in “Breaking News” in erster Linie der Erforschung des Raumes. es handelt sich um einen stark begrenzten Raum (die Seitenstraße), der in 360°-Bewegungen erkundet und damit kinematografisch zusammengesetzt wird. Der einleitende Blick vom Himmel auf die Erde bietet einen Überblick über die räumlichen Gegebenheiten, die nachfolgenden Schwenks und Fahrten tasten sich entlang an den Objekten (Autos) und Grenzen (Häuserwände), welche den Raum im Detail strukturieren. Darin erscheinen auch die Menschen als geometrische Eckpunkte eines Netzes, dessen Ränder abgefahren werden. Damit werden ihre Rollen (Gangster versus Polizist) zugleich austauschbar, Antagonisten und Protagonisten werden zu Spiegelbildern. Ein Motiv, das im weiteren Verlauf des Films, wie sich zeigen wird, weitere Variationen erfahren wird. Bezeichnenderweise fliehen die Gangster ausgerechnet in einem Polizeitransporter.
Zunächst in der Schießerei parallelisiert entsprechend der beiden Straßenseiten, werden die Kombattanten meist in ihrer Aktion gezeigt, als würde die Kamera die Frontlinien eines Kriegsschauplatzes abfahren, ohne beide Seiten zusammen in ihrer Reaktion aufeinander zu zeigen. Mit der sich anbahnenden Flucht kulminiert die Sequenz in einer räumlichen Integration der Widersacher. Innerhalb des gesamten „Perspektivpanoramas“ ((Sierek, Karl: Ophüls, Bachtin. Versuch mit Film zu reden. Frankfurt am Main: Stroemfeld Verlag, 1994, S. 309)) der Sequenz wird die Straße nun mit einer perspektivischen Tiefenwirkung inszeniert und vereint auf zwei Bildebenen beide Fronten, typologisch vergleichbar mit den Ausführungen von Deleuze in Bezug auf die Plansequenzen von Renoir und Welles:
Die Einheit der Einstellung entsteht hier aus der direkten Verbindung zwischen Elementen, die der Vielfalt der sich überlagernden, nicht mehr voneinander isolierbaren Einstellungsebenen entnommen werden: Die Einheit ergibt sich aus dem Verhältnis von nahen und fernen Partien. ((Deleuze, Gilles: Kino 1. Das Bewegungs-Bild. Frankfurt am Main: Suhrkamp Verlag, 1997, S. 46))
So stehen, bevor die Granate der Panzerfaust diesen Raum durchquert, „die Elemente der einen Bildebene mit denen der anderen in Wechselwirkung“ ((Deleuze, 1997, S. 46)). Würde dieser Typus der Plansequenz, wie Deleuze ihn herausarbeitet – und welcher in “Breaking News” nur einen Teil einer Plansequenz ausmacht – in einer Dialogszene eingesetzt werden, befänden sich die Gesprächspartner beispielsweise im Bildvorder- und -hintergrund. Auf das Spektakel einer Schießerei angewandt, ist die Auflösung des Verhältnisses wiederum vergleichbar mit einem Westernduell, welches nicht parallel zur Achse der Duellanten, sondern auf der Achse der beiden gefilmt wird. Nur handelt es sich in diesem Falle – ebenfalls typisch für To – um Gruppen, nicht Einzelkämpfer. Dieses Verfahren fördert den Eindruck des Spiegelverhältnisses von Polizisten und Gangstern.
Es wurde schon angemerkt, dass die Art und Weise der Inszenierung der Schießerei von einer ausgeprägten Distanz geleitet wird. Eine Distanz im Sinne der Einnahme der Rolle des Beobachters durch die Blicklenkung der Kamera, welche sie zu Beginn übrigens mit Gangstern wie auch observierenden Polizisten gemein hat. Des Weiteren versagt sie sich, den privilegierten Blick nur einer Seite anzunehmen oder einen privilegierenden Blick, z.B. in Form einer Großaufnahme, auf einen der Teilnehmer zu werfen. Stattdessen ist der erblickte Ereignisraum zwar nicht total, sondern durch die Bewegung der Kamera mit ihrer Recadrage der Figurenbewegungen fragmentarisch. Das fast schon beiläufige Schweifen der Kamera vorbei an den Eckpunkten des Spektakels verrät allerdings einen Hang zum objektiven bzw. einem weltlichen Dingen enthobenen Blick.
Eine Verwandtschaft lässt sich, was die Erzählhaltung und die daraus folgende Raumdarstellung anbetrifft, herstellen zu einer Plansequenz in dem auf einer Kurzgeschichte von Ernest Hemingway basierenden Film Noir The Killers (1946). Diese schildert den Überfall auf eine Hutfabrik. Narrative Rahmung der Sequenz ist ein Gespräch Reardons (Edmond O’Brian) mit seinem Boss, für dessen Versicherungsgesellschaft er den Tod des „Schweden“ (Burt Lancaster) untersuchen muss. Reardon zeigt seinem Boss einen Zeitungsartikel, der den Ablauf des Überfalls beschreibt, an dem der Schwede beteiligt gewesen war. Was folgt, kann man als eine Art objektiver Flashback bezeichnen, der sich nicht aus den Erinnerungen eines Teilnehmers generiert, sondern aus der distanzierten Berichterstattung eines Artikels. Gemäß der Quelle der Information, die von Reardons Boss in Form eines Off-Kommentars die visuelle Schilderung der Ereignisse begleitet, verbleibt die Kamera während ihrer Kranfahrt stets in einer gewissen Entfernung zu den Räubern. Kurz werden sie durch eine Heranfahrt aus der Masse der Arbeiter herausgehoben, welche das Fabriktor durchschreiten, um dann mit einigen Metern Abstand ihrem Weg in das Büro des Zahlmeisters zu folgen. Wie auch in “Breaking News” begleitet die Kamera nicht etwa einzelne Figuren ins Haus, sondern beschränkt sich stattdessen auf die Rolle des Beobachters von außen. Durch die Fenster des Büros fällt ihr Blick auf den Überfall darin, ohne jedoch die Illusion zu erzeugen, sie würde sich in den Raum auf der anderen Seite hinein bewegen. Vielmehr folgt sie den Räubern bei ihrer Flucht vom Fabrikgelände, um sich bei der anschließenden Schießerei in die Luft zu erheben und das Geschehen und den Raum der Aktion in einer weiten Einstellung zu zeigen, die jegliche Individualisierung der Figuren am Boden vermissen lässt: „All of this action is presented from an ‘omniscient’ perspective […]. This position perfectly reinforces the clinical detachment of the narrator as he describes the confrontation […]“. ((Por?rio, Robert: The Killers. Expressive Sound and Image in Film Noir. In Silver, Alain/Ursini, James (Hrsg.): Film Noir Reader. 6. Auflage. New York: Limelight Editions, 2000, S. 181))
Im Vergleich zu “Breaking News” fällt wiederum der Gestus der unbeteiligten Beobachtung auf, der sich auf die Schilderung der Aktion beschränkt, was weitgehend aus der Ferne vor sich geht. Ebenfalls fehlt es der Plansequenz an jeglicher Privilegierung einzelner Figuren abseits der handlungsrelevanten Gruppe der Räuber, denen jede Großaufnahme versagt wird. Geradezu exemplarische Vertreter des Stilmittels werden die beiden Plansequenzen, zieht man Bettetinis Einschätzung der generellen Wirkung dieser Art autonomer Einstellung in Betracht:
[…] The plan-séquence tends to increase the moving image’s credibility […], and hence the indirect persuasiveness of its dialectic positioning between the author and the receiver of the message. ((Bettetini, Gianfranco: The Language and the Technique of the Film. Den Haag: Mouton, 1973, S. 175))
Die beiden beschriebenen Plansequenzen beschränken sich im Gegensatz zu jener in “Touch of Evil” auf einen übersichtlichen Ort der sich entfaltenden „Szene“, wenn man die beiden Orte (die Seitenstraße, der Fabrikhof) als „momentane Konstellation von festen Punkten“ ((Certeau, Michel de: Praktiken im Raum. In Duenne, J./Guenzel, S. (Hrsg.): Raumtheorie. Grundlagentexte aus Philosophie und Kulturwissenschaften. 4. Auflage. Frankfurt am Main: Suhrkamp Verlag, 2008, S. 345)) definiert. Die Plansequenz mit ihrer autonomen Kontinuität und Bewegung sowohl der Kamera selbst als auch innerhalb des Kaders ermöglicht die Entstehung eines Raumes, wie er vielleicht am ehesten dem Verständnis de Certeaus entspricht. Dieser hat den Raum in Abgrenzung zum Ort als „ein Geflecht von beweglichen Elementen“ definiert: „Er ist also ein Resultat von Aktivitäten, die ihm eine Richtung geben, ihn verzeitlichen […]“. ((Certeau, 2008, S. 345)) Die spezifische Qualität der Beziehung von Zeit und Raum innerhalb einer Plansequenz ist, wie oben erwähnt, u.a. in der Kontinuität dieser beiden Aspekte zu suchen, „denn diese plansequentiellen Abläufe entwerfen ein ‘unumkehrbares Ganzes’, dem nicht durch den Eingriff der Schere mögliche Reversibilität und subjektiv beeinflußbare Variationsbreite zugesetzt werden können […]“ ((Sierek, 1994, S. 325)). Die Zeit ist in besagter Sequenz in “Breaking News” deshalb gewissermaßen total. Zwar ist die Perspektive auf den Raum wegen der Kamerabewegung nicht total, befindet sich vielmehr in ständiger Veränderung, doch besitzt der Blick eine Tendenz zum Metaphysischen. Es ist ein Blick, der dem Geschehen enthoben, zunächst objektiv wirkt wie eben auch jener in der beschriebenen Sequenz in “The Killers”. Die Frage, die sich dabei stellt, ist allerdings, wie in “Breaking News” dieser Blick begründet wird, fehlt hier schließlich, wenn es sich auch um einen Film über mediale Verwicklungen handelt, eine objektive Erzählinstanz in Gestalt eines Artikels oder Berichts bzw. überhaupt die Annahme, Medien seien in der Lage, objektiv zu berichten. Diese werden im Film immerhin als bereitwillige Objekte der Manipulation charakterisiert.