Throw Down (HK 2004)

Ab und zu muss ein Regisseur mal Abstand nehmen von brutalen Gangsterepen und Actionfesten. Ab und zu, den Eindruck macht zumindest die Filmografie von Johnnie To, ist ein persönliches Projekt von Nöten. Wie ein Jazzmusiker schüttelt der Fachmann für den stylischen Blutverlust dann eine gut gelaunte Improvisation aus dem Ärmel. Im Gegensatz zu den Neujahrskomödien, mit denen To einen Teil des letzten Jahrzehnts verbracht hat, prägt Filme wie “Sparrow” eine Exzentrik, die an kommerziellen Erwägungen vorbei schielt. Ein Gaunermusical ohne Gesang, welches Hongkong mit dem Blick eines französischen Films der Sechziger inszeniert, darf durchaus als Wagnis betrachtet werden.

Mit Tos Akira Kurosawa-Hommage Throw Down verhält es sich ganz ähnlich. Zunächst einmal: Es gibt Gangster, aber keine Waffen in “Throw Down”. Doch das ist natürlich nicht alles. In der Welt des Films betätigt sich nämlich jeder Mann als Judoka. Würden im Normalfall des Hongkong-Kinos die Gegner einander meucheln, dominiert hier der japanische Sport das Geschehen. Eine ausgekugelte Schulter ersetzt sozusagen die Schusswunde. Judo ist nicht der naheliegendste Kampfsport in der von Martial Arts-Filmen geprägten Sonderverwaltungszone. Genauso wie “Sparrow” später den Taschendiebstahl zu einer Fantasie-Subkultur werden lässt, reichert “Throw Down” seinen fantastischen Gehalt an durch die Wahl dieser abwegigen “Umgangsform”. Das passiert eben, wenn man als Hongkonger Regisseur eine filmische Verbeugung vor einem japanischen Meister vollbringt. Angelehnt ist “Throw Down” schließlich an Kurosawas Regiedebüt “Sugata Sanshiro”, in dem es – genau! – um einen Judoka geht.

Szeto (Louis Koo), dauerbetrunkener Barbesitzer, war einst ein talentierter Vertreter dieser Kampfkunst, doch nun lebt er ziellos in den Tag hinein und verwettet ebenso planlos sein Geld. Doch dann kommt Tony (Aaron Kwok) in die Bar. Er spielt zwar Saxofon, aber eigentlich will er gegen Szeto kämpfen. Der hat allerdings längst den Glauben an sich selbst und seinen Sport verloren. Komplettiert wird das seltsame Trio durch Mona (Cherie Ying), die nach Hongkong gereist ist, um nichts geringeres zu werden als ein Star.  Tony und die angehende Sängerin sind so etwas wie die personifizierten Träume, die in Szetos Leben eindringen und ihn unwissentlich daran erinnern, dass Sehnsüchte und Wünsche es sind, die einen Menschen am Leben erhalten können.

Szeto wird natürlich früher oder später aus seinem Koma geweckt und wieder ein Ziel in seinem Leben finden. In ihm erwacht der Judoka und damit die Vitalität. Die Stationen des Sportfilms abzuklappern, ist jedoch nicht im Sinne Tos. Das Drumherum macht die Musik und dazu gehören die in tiefe Gelb- und Rottöne getauchten, wunderbaren Figuren, deren skurrile Eigenarten er virtuos, aber liebenswert zu einem  sympathischen Kuriositätenkabinett arrangiert. Beispielhaft dafür ist eine großartig montierte Szene, in der allerhand verschiedene Parteien etwas von dem ungewöhnlichen Dreiergespann wollen. Zwischen mehreren Tischen in der Bar und ebenso vielen Dialogsträngen hin und her springt To elegant, ohne dabei Faden oder Timing zu verlieren. Verkörpert wird die  ungewohnt optimistische Lebendigkeit des filmischen Unterfangens namens “Throw Down” insbesondere durch Eddie Cheungs Gangsterboss Savage. Der ist ein zwanghafter Spieler und das ist ernst gemeint. Da kann ein Air Hockey-Spiel gegen einen kleinen Jungen schon mal zur Herzenssache werden. Doch Savage ist wie alle Figuren in diesem Judofilm im Grunde echt nett.

Was die formalen Merkmale betrifft,  gibt sich “Throw Down” durchaus als typischer To. Eine gewisse Überstilisierung mit einer Vorliebe für starke Noir-Kontraste teilt der Film u.a. mit dem Policier “PTU” und auch späteren Arbeiten, die sich im Gangstermilieu aufhalten. Weder die düstere Lichtsetzung, noch die kräftigen Farben oder der Zeitlupen-Einsatz stehen der vergleichsweise gut gelaunten Story im Weg. Zurückzuführen ist dies auf das grundlegende Anliegen des Films. Schießereien werden mit Judo-Kämpfen ersetzt und in den Auseinandersetzungen geht es nicht um den  blutigen Heldentod. Gleichwohl bewegt sich To thematisch gesehen auf seinem Lieblingsterrain: Menschen und die Jobs, denen sie nachgehen. Ihre Missionen, ob Gangster, Taschendieb oder Judoka, bestimmen ihr Schicksal. Die Frage, welche To in seinen besten Filmen bewegt, ist jene nach dem Spannungsverhältnis zwischen der Prädestination durch ein System (das Syndikat, die Gemeinschaft der Judoka…) und den Widerstand gegen dasselbe. So wie die Gangster in “Election” seit ihrer Jugend in der Triade sind und dies bis zum Tode bleiben werden, wurde Szeto als Judoka geboren. Er muss nun auf den ihm gegebenen rechten Pfad zurückfinden.

Wie in seinen Gangsterfilmen ist To auch hier von Ritualen fasziniert. Diese Haltung verwandelt die Ausübung des Sports in einen quasi-religiösen Akt, der in der Inszenierung entsprechend mythisch aufgeladen dargestellt wird. Im Zeitlupen- und Farbenrausch gipfelt etwa der Kampf dutzender Sportler auf offener Straße. Dessen ungeachtet ist der ästhetische Genuss des Spektakels in “Throw Down” keinesfalls das Nonplusultra. Die Höhepunkte sind vielmehr in den verträumten, den kleineren Momenten zu finden, welche auf eine große Zärtlichkeit gegenüber seinen Figuren hinweisen. Eine eher selten in solcher Intensität zu beobachtende Seite des Regisseurs offenbart sich hier. “Throw Down” ist gerade deshalb ein feel-good movie, ein leichtes, aber kein leichtgewichtiges Vergnügen, welches  deshalb einer Spielerei wie “Sparrow” überlegen ist. Anders als in den Genrevariationen und Übungen legt To die zuweilen unterkühlte Haltung ab und ergibt sich voll und ganz seiner sanften, romantischen Ader. Es bleibt zu hoffen, dass er dieser Versuchung noch öfter nachgibt.

Die Wilden Zwanziger (USA 1939)

Die wirtschaftliche Depression wütet im Land und die wie auch immer gearteten Großen sind daran schuld. Da verbündet sich der Zuschauer im Geiste gern mit jenen, die Bossen und Politikern ohne Rücksicht auf Verluste Paroli bieten. Dieses filmhistorische Erklärungsmuster ist eine wunderbare Allzweckwaffe, wann immer die meist fatal endenden Abenteuer eines Gangsters die Zuschauermassen an die Kinokassen locken. Raoul Walshs Die Wilden Zwanziger gibt sich als so etwas wie der lebhafte Niederschlag solch einer Logik auf Zelluloid. Gänzlich vom Tisch kann man diese Art von Begründung sicher nicht fegen, denn manches Mal zwingen die Trends der Genrefabrik Hollywoods auf der einen und der gesellschaftlichen Entwicklung auf der anderen Seite dem um Erklärung Bemühten solche Kausalitäten mit aller Gewalt auf. Die frühen dreißiger Jahre des klassischen Hollywoodkinos sind exemplarisch dafür. Kein Buch über die Filmindustrie während der Großen Depression kann man aufschlagen, ohne einen Paragraph zu diesem Thema zu finden. Demnach barg, folgt man der gängigen Interpretation, die Zeit vor dem Amtsantritt Franklin D. Roosevelt fruchtbaren Boden für gewissenlose Gangster aus Einwandererfamilien, die Könige der Welt sein wollten, doch ihren zusammengeklau(b)ten Reichtum schlussendlich im tödlichen Kugelhagel aufgeben mussten. Stichwortartig sind die geballten Argumente für diese Entwicklung skizziert: Nicht nur Post-Börsenkrach, auch Prä-New Deal; Bank Runs wechseln sich mit Schließungen von Kinos im ganzen Land ab; der Production Code für die Selbst-Zensur der Filmindustrie existiert (seit 1930), wird aber nicht durchgesetzt (erst 1934); also auch noch eine Prä-Breen-Office-Zeit. Auf filmtechnischer Ebene ist da natürlich noch der Ton, der die hämmernden Maschinengewehrsalven endlich spürbar in den Kinosaal transportiert. Gleichzeitig: Bonnie & Clyde ziehen durch das Land. John Dillinger und Baby Face Nelson sind auch on the road. Kein Alkohol legal zu kaufen im Laden, der Kater aber am Morgen nach  dem abrupten Ende der Roaring Twenties ist gewaltig. Al Capone trägt den Titel “öffentlicher Feind”, doch das Gefängnis wartet bereits.

Die große Zeit der psychotischen Gangster ist kurz, Howard Hawks’ “Scarface” für’s erste ihr krönender Abschluss. So will es die Filmgeschichtsschreibung, welche im wirtschaftlichen Wiederaufbau des ersten und zweiten New Deal, sowie der sich schließlich in Gestalt katholischer Moralwächter doch noch realisierten Zensur die Zugpferde ihrer Argumentation sieht. Deshalb werden aus den glorifizierten Monstern plötzlich Opfer der gesellschaftlichen Umstände, aus den antisozialen und gewalttätigen Ehrgeizlingen der Unterwelt gute Männer, die in die Ecke getrieben werden. Verbrechen lohnt sich nicht. Der öffentliche Feind und der kleine Caesar verwandeln sich in Engel mit schmutzigen Gesichtern. Noch immer stammen die Stories aus den Schlagzeilen der Zeitungen. Allerdings ist früher oder später jede Neuigkeit Geschichte. Als Edward G. Robinson nach Vorbild Al Capones seinen Rico Bandello spielte, war das reale Gegenstück noch auf freiem Fuß. So unmittelbar fußten die Filme auf dem Zeitgeschehen, dass die Effizienz und Dynamik der Studios Bewunderung hervorruft. Wenige Jahre und geschichtliche Meilensteine später ist James Cagney noch immer der Leinwandgangster par excellence, “Die Wilden Zwanziger” allerdings im Gestus ganz klar ein Rückblick auf eine vergangene Epoche und eine filmische Grenzziehung innerhalb des Genres.

Dokumentarisch angehaucht durch News-Meldungen, welche den Erzähler zunächst in der Gegenwart – Roosevelt an der Macht, der Krieg steht vor der Tür – lokalisieren, dann den Blick zurück werfen auf den letzten Weltkrieg und uns Stück für Stück durch die folgenden Jahre die historischen Entwicklungen (Prohibition, Börsenkrach – die alte Leier) näherbringen. Der exemplarische Gangster, an Hand dessen der Film den Wandel Amerikas in diesen Jahren abhandelt, heißt Eddie Bartlett (James Cagney). Ein guter Kerl ist er, der für den Rest seines Lebens Autos reparieren will. Doch als er aus dem Krieg heimkehrt, sieht er sich von der ehemaligen Heimatfront verlassen. Arbeitslos und von der Gesellschaft, für die er sein Leben auf’s Spiel gesetzt hatte, enttäuscht, gerät er durch einen Zufall in den Kreis von Alkoholschmugglern. Was folgt, ist klar. Das erzählerische Muster  dahinter greift mit der Feinheit eines Vorschlaghammers. Der Sündenpfuhl der Zwanziger verführt Bartlett wie einst der Apfel im Paradies. Er macht Geld, verliebt sich in die falsche Frau und sucht sich – anscheinend ein ehernes Gesetz des Gangsterfilms – irgendwann die falschen Freunde aus (u.a. Humphrey Bogart), die ihr Geschäft zu weit treiben.

Cagney zeigt sich hier zumeist von seiner wachsweichen Seite, nicht ganz die pure Aggression, nicht ganz die nette Musical-Persona, die man sonst von ihm kennt. Klar ist: “Die Wilden Zwanziger” ist ein Cagney-Film, was nicht suggerieren soll, dass Walshs Leistung mangelhaft ist. Zum Vergleich: Cagneys größte Rolle, die gleichzeitig seine Rückkehr zum Gangsterfilm bedeutete, kann in “White Heat” (1949) bestaunt werden. Den kann man  aber getrost einen ‘Raoul Walsh-Film’ nennen, keinen ‘Cagney’. “Die Wilden Zwanziger” hingegen überzeugt als souverän abgelieferte Studiokost, die nach allen Regeln der damaligen Kunst definiert, was dieses Urteil zu bedeuten hat: ein Gangsterfilm mit Star-Aufgebot, doppelbödigen Dialogen, Gesangseinlagen, komischem Sidekick und einer wasserdichten Message. Das alles  wird homogen verpackt zu einem kinematografischen Produkt, welches durch seine didaktische Vorgehensweise einen manchmal nostalgischen, manchmal hysterischen Blick auf die grenzenlose Genusssucht der Zwanziger wirft (betrunkene High School Kids, die erst knutschen und dann ihr Auto gegen einen Baum fahren!), um anschließend die Geschichte mit Wirtschaftskrise und FDR in die Ausnüchterungszelle zu werfen. So wie die Gesellschaft im Film schließlich geläutert wird, verkörpert “Die Wilden Zwanziger” gleichsam den Gangsterfilm der besonnenen Sorte, der ein bisschen fad geraten kann.

This is England (GB 2006)

Nach eigenen Aussagen basiert This is England auf Kindheitserfahrungen des Regisseurs Shane Meadows. Doch ein dreckiges Sozialdrama im Geiste von “Die Asche meiner Mutter” hatte er offenbar nicht im Sinn; zumindest nicht ganz. Der Film schildert einen zeitlichen Ausschnitt aus der Thatcher-Ära durch die Augen der Unschuld.  Ein bewährtes Erzählmittel ist das, bestens geeignet für die Synthese von naiver Außen-, dann Innensicht. Nun ist es der zornige Shaun (Thomas Turgoose), der unseren Blick auf das England der frühen achtziger Jahre und insbesondere die Shinhead-Kultur führt. Im Sommer 1983, ein Jahr nachdem er seinen Vater im Falklandkrieg verloren hat, wandert der 12-jährige Einzelgänger ziellos durch die englische Vorstadtwelt. Seine liebevolle Mutter glänzt mit Abwesenheit und schrecklich authentischer Fön-Frisur. Shaun ist ein angry young boy, der kleine Bruder der rebellischen Helden britischer Klassiker wie “Saturday Night and Sunday Morning” und “The Loneliness of the Long Distance Runner”, in deren Fußstapfen Meadows mit diesem Werk durchaus zu treten vermag.

Zugleich zeugt der Film von einer Vorliebe für die Popkultur dieser Jahre, die sich in seiner Ästhetik äußert. Ska und Reggae durchströmen den Film wie die jungen Ohren seiner Protagonisten, verhelfen zu einer Vitalität, die ihn auch dank seiner sprühenden Farbwelt von den üblichen kitchen sink-Dramen, für welche die Insel sonst bekannt ist, abheben.  Die Jugendultur, welcher sich der Film und mit ihm Shaun annähert, ist die Skinhead-Szene am Scheideweg vor der Vereinnahmung durch den Nationalismus. Der vorlaute Außenseiter, der seine verletzliche Schale mit Prügeleien zu verteidigen sucht, findet in einer Gruppe von etwas älteren Skins für kurze Zeit eine Ersatzfamilie. Der großen Desillusionierung, welche in (prä-)Adolszenz-Narrationen wie dieser folgen muss, geht allerdings keine paradiesische Überhohung voran. Die Jugendlichen leben in einem Land, von dem sie sich entfremdet zu haben scheinen. Ein Land, welches Kriege führt, deren Grund kein Mensch nachvollziehen kann, deren Opfer sie indessen in ihren Reihen zu verschmerzen haben. Ein Land, das ihnen keine Perspektive bietet. This is England. Arbeit spielt kaum eine Rolle in ihrem Leben, ebenso wie die Schule. In der Identifikation mit der Subkultur, ihrer Kleidung, ihrer Musik, ihren “Mitgliedern” scheinen sie eine Möglichkeit zu finden, sich als Individuum zu definieren. Doch die Wut über die Aussichtslosigkeit ihrer Lage löst sich nicht einfach in Luft auf. In einer Sequenz, die – und das schaffen eben nur wirklich gute Film – ihre Situation auf den Punkt bringt, ergehen sich die Freunde in der wahllosen Destruktion verlassener Gebäude am Stadtrand. Ein simples Motiv ist das, genau genommen, welches jene Radikalisierung im Keim bereits in sich birgt wie ein böses Omen.

Mit dem Auftauchen des frisch aus dem Gefängnis entlassenen Combo (Stephen Graham) wird die Gruppe schließlich entzweit, aus der Subkultur eine politisierte Bewegung, instrumentalisiert durch rechte Anzugträger. Combo, in dem Shaun eine starke Vaterfigur und wahrscheinlich auch ein älteres Selbst erkennt, ist ein gewaltbereiter Charismatiker. Diese Worte werden freilich nicht annhähernd der schauspielerichen Leistung Grahams gerecht. Der spielt oft aggressive Giftzwerge (etwa den Baby Face Nelson in “Public Enemies”), bringt es als Combo, innerlich von Zwiespalt und Hass zerfressen, zu einer explosiven Mischung aus Verletzlichkeit und Berechnung, deren Lunte längst entzündet wurde. Das Herzstück eines Films ist diese Figur, der eine Tradition des britischen Kinos entstaubt, ohne ihr untreu zu werden. In “This is England” zeichnet Meadows das pessimistische Bild eines Landes, das seine eigenen Kinder vergessen hat und deshalb irgedwann selber von diesen aufgegeben werden wird.

Der Räuber (D/A 2010)

Ich bin nicht gerade eine Expertin, wenn es um die Filme der Berliner Schule geht. Das sei vorweg-genommen. Jene erste Welle von Filmemachern studierte in den achtziger Jahren gemeinsam an der dffb in Berlin und wurde in der Folge auf Grund stilistischer und narrativer Ähnlichkeiten von der Kritik unter dieser Kategorie zusammengefasst. Meine Begegnungen mit ihre beschränken sich auf zwei Filme von Christian Petzold. Von eben jenen Kritikern gefeiert wurden seine letzten beiden Arbeiten, “Yella” und “Jerichow”, doch mir gaben diese Filme nichts. Das lässt sich so einfach dahin sagen, doch es verhält sich etwas komplizierter mit dieser Einschätzung. Technisch versiert, schauspielerisch (zumindest “Yella”) ohne Makel, bleiben die Filme für mich doch ein Kopfkino der sterileren Sorte. Vielleicht “kann ich nicht mit” Petzold, vielleicht ist das Anliegen der Berliner Schule, sofern die Künstler derart in einen Topf geworfen werden können, nicht “mein Ding”. Jene Merkmale, die Ekkehard Knörer und Georg Seeßlen aufführen, sind ohne Zweifel nachvollziehbar und keineswegs soll die Qualität der Filme an dieser Stelle in Abrede gestellt werden. “Jerichow” ist sicher ein guter Film, aber deswegen muss ich ihn nicht mögen.

In vielerlei Hinsicht passt nun Benjamin Heisenbergs Zweitling Der Räuber ins Schema der Stereotypen der Berliner Schule, so wie sie in meinem und wohl auch anderen Köpfen herumgeistern. Sich anschweigende, nur sporadisch charakterisierte Figuren wandeln durch karge Umgebungen, eingefangen von einem Realismus, der natürlich wie jeder andere auch nur Stil ist; statisch überstilisierter Alltag sozusagen. Ein wenig, aber nicht vollkommen humorlos geht es auch noch zu. So schlimm das jetzt klingen mag, ist “Der Räuber” dennoch so etwas wie mein Rückfahrtticket nach Berlin. Heisenberg, der zur zweiten Welle der “Bewegung” gezählt wird, erzählt höchst minimalistisch (noch so ein Stereotyp!) und nicht ironiefrei die Geschichte eines Bankräubers, der, frisch aus dem Knast entlassen, Österreich durch eine Reihe von Überfällen schockiert. Inspiriert von einer wahren Geschichte, blendet der Film alle Schnörkel eines Biopics aus und präsentiert uns diesen Johann Rettenberger (Andreas Lust) als fertige Figur. Rettenberger wird keine Wandlung im Film durchmachen, nicht etwa ein Gewissen entwickeln oder ähnliches und genau das macht die Faszination aus. Er ist eigentlich kein Mensch, glaubt man zunächst, stattdessen die personifizierte Kinetik; ein Teilchen, das von solcher Energie geladen ist, dass es die Grenzen der umgebenden Gesellschaft zwangsläufig überschreiten muss. Rettenberger ist nämlich ein Langstreckenläufer und dessen Einsamkeit innerhalb der hinterher hinkenden Welt zu verfolgen, ist Aufgabe des Films. So beginnt er im Gefängnishof, in dem der Räuber seine Runden dreht, verfolgt ihn in die Zelle auf seinem Laufband und aus dem Knast heraus zum nächsten Überfall.

Psychologisierung ist nicht im Sinne des Films. Man mag Rettenberger als ein Konzept von Punkten und Pfeilen auffassen – v.a. Pfeilen – wie oben beschrieben, denn vielmehr bietet “Der Räuber” hinsichtlich der Erzählung nicht an. Doch da ist auch Andreas Lust, dessen Spiel sich zwar der Zurückhaltung der Regie angleicht. Dessen Meisterschaft jedoch in seiner Strahlkraft, seiner Lebendigkeit liegt und ganz besonders in seinen Augen zu finden ist. Vielfach wurde Lusts äußerliche Kälte mit den ausdruckslosen Zügen jener Maske verglichen, die seine Figur bei den Überfällen trägt. Doch übersehen wird dabei diese schwer zu definierende Energie, welche ihn nicht stillstehen, nicht schlafen, nicht gefangen sein lässt. Ausgedrückt wird sie in seiner niemals ruhenden Physis und seinen eben manchmal überraschend lebhaft aufblitzenden Augen.

Ein Hauptdarsteller macht allerdings noch keinen Film. Die angemerkte Statik der Inszenierung wird in “Der Räuber” logischerweise aufge- und unterbrochen. Bezeichnenderweise wirkt Rettenberger wie eingekerkert in den ruhigen Alltagsszenen mit besagten schweigenden Figuren und kargen Räumen. Das Motiv, welches den europäischen Autorenfilm seit den sechziger Jahren bevölkert, findet seinen erfrischenden Widerpart in reichlich Laufszenen, die sich manchmal in Fluchtszenen verwandeln. Bewegung, nicht Geld, ist Leben für Rettenberger und würde sie nicht das bestimmende Element des Films sein, könnte man sich bei “Der Räuber” ebenso gut erinnert fühlen an ein abstraktes Gemälde, das aus wenigen präzise gesetzten Pinselstrichen besteht. Jede Einstellung, jede Geste ist bis ins Detail durchdacht. Vom stellenweise treibenden Soundtrack zur ebenso vereinzelt eingesetzten Radiomusik, der Kameraführung Reinhold Vorschneiders und den wenigen Dialogen – Heisenbergs Film zeugt von einer ungeheuren Souveränität in der Herstellung. Doch ungeachtet dieser Klarheit in Idee und Ausführung obsiegt der Film über jedes Vorurteil durch eine schlussendliche Offenheit. Die Offenheit eines Kunstwerks, dessen Rahmen ungemein deutlich zu sehen ist und dennoch sich der hermetischen Perfektion verweigert.

Vielleicht liegt mir Petzolds Stil nicht. Vielleicht ist es das Wechselspiel vom mitreißenden Strom der Bewegung und der nahezu absoluten Einfachheit abseits einer auffälligen Metaphorik, wie sie von Heisenberg nur einmal bemüht wird, welches seinen Film von den genannten seines Kollegen so wohltuend abhebt. Im Allgemeinen gesprochen, lässt sich angesichts des “Räubers” feststellen, dass hin und wieder ein aus wenigen Linien und Flächen bestehendes Gemälde eine größere Verlockung darstellt als so manch barocke Opulenz.

Shutter Island (USA 2010)

Schon der Trailer von Martin Scorseses Shutter Island hat ein kleines Raunen in der vielsprachigen Filmcommunity verursacht.  Der würde nämlich den Twist verraten, hat man hie und da verkündet. Kenner der Buchvorlage von Dennis Lehane  klinkten sich ein in den Chor und schon wurde gespannt darauf gewartet, wie der Film diesen Fauxpas im Marketing ausbügelt. Liest man nun die Kritiken zum neuen Scorsese, scheint “Shutter Island” in der Bewertung irgendwo zwischen zwei Polen zu schwanken: Der Film droht zum einen, auf den erwähnten Twist reduziert, zum anderen als Genre-Übung eines Altmeisters abgetan zu werden. Die einen bemängeln die Vorhersehbarkeit (dazu später mehr), die anderen die oberflächlichen Freuden, welche er bietet. In jedem Fall aber ist “Shutter Island” ein absolut typischer Scorsese und dieses Urteil bezieht nicht nur seine Markenzeichen, sondern auch seine wiederkehrenden Problemzonen mit ein.

Über die weite See fährt zu Beginn das Schiff, welches den Marshal Teddy (Leonardo DiCaprio) und seinen Partner Chuck (Mark Ruffalo) zum düsteren Ashecliff Hospital auf Shutter Island bringen soll. Es ist eine Fahrt aus dem Nichts zur von Wellen umwogten Insel. Das Schiff schält sich dabei  in einer Einstellung gar aus dem Nebel heraus, als hätte „Fluch der Karibik“ Pate gestanden. Es ist die Ankündigung des Genres mit Hilfe eines visuellen Klischees, aber genauso eine Warnung; eine Warnung an den Zuschauer, dass das Shutter Island, welches wir zu sehen bekommen werden, kein gewöhnlicher Ort ist, kein normaler Tatort. Inszeniert wie ein Geisterschloss wird es von einem dazu passenden Geisterschiff besucht, dem der Held entsteigt. Eine Patientin (Emily Mortimer) ist verschwunden (die Genre-Klischees häufen sich), ihr behandelnder Arzt zufällig verreist (die Alarmglocken des Rezeptions-erprobten Zuschauers beginnen im Hinterkopf zu läuten), die Verantwortlichen der Anstalt scheinen an einer Aufklärung nicht sonderlich interessiert zu sein (hier wird etwas vertuscht!). Ungereimtheiten in den Patientenakten und verschreckte Insassen führen Teddy zum Schluss, das etwas faul ist in der Anstalt Ashecliffe und er ist der Mann, der dem auf den Grund gehen muss.

„Shutter Island“ wäre jedoch kein Scorsese, wenn der Protagonist sich nicht selbst durch seinen Wahn in Gefahr bringen würde. Hinzu kommt noch das Problem der Sympathie, denn Scorsese-Helden wollen wir nicht unbedingt kennenlernen. Lieber betrachten wir ihren Verfall (Jake La Motta), ihre Selbstzerstörung (Howard Hughes), die Sogwirkung, von der sie sich in eine Spirale der Gewalt ziehen lassen (Travis Bickle). Diese Scorsese-Helden tragen meist selbst Schuld an ihrem Untergang, weshalb die distanzierte Beobachtung ihrer implodierenden Energie eher der Arbeit an einem Seziertisch gleichkommt als der eines meisterhaften Erzählers, der uns in die Aufs und Abs ihrer Lebensbahnen förmlich einnäht. Das hat Scorsese schon in „Mean Streets“ durchexerziert und „Shutter Island“ ist keine Ausnahmeerscheinung. Mit seiner zu jeder Zeit angespannten (lies: angep***ten) Mimik wandert Teddy über die Insel und markiert den abgehärteten Cop, dessen Umgangston in wenigen Sekunden in Handgreiflichkeiten umschlagen kann. Dass DiCaprio für die Rolle des Teddy, wie in den meisten anderen Filmen der letzten Jahre auch, fehlbesetzt ist, kann kaum mehr als Überraschung bezeichnet werden. Der Scorsese-Held steht dem Mann mit den weichen Gesichtszügen nicht, er wird ihm nie entgegenkommen. Das sind freilich Rollen für Robert DeNiro, Daniel Day Lewis, den Nic Cage der neunziger Jahre.

Diese Erkenntnis ändert jedoch nichts daran, dass wir nun vor diesem Film mit Namen „Shutter Island“ stehen und DiCaprio als Teddy einen erneuten Versuch unternimmt, die männliche Härte mit verbissener Überspanntheit zu simulieren. So angestrengt sein Spiel gerade im Angesicht solcher Veteranen wie Ben Kingsley, Max von Sydow, aber auch seiner Film-Ehefrau Michelle Williams wirkt, so sinnig ist eigentlich ihre entfremdende Wirkung. Teddy ist unser roter Faden im Irrenhaus, doch ohne Umschweife zieht der Film die Vernunft desselben in Zweifel. Seine Frau ist gestorben, ermordet von einem Feuerteufel und der qualvolle Verlust verfolgt den Witwer in seinen (Tag-)Träumen. Die von Scorsese farbenprächtig inszenierten Albträume strotzen vor großzügig eingesetzten C.G.I.-Bildern. Demgleich ist jedoch auch die unruhige See, über welche die Cops zu Beginn tuckern, eine vom Computer generierte Rückprojektion; ist Shutter Island selbst von Anfang an in seiner Anhäufung der visuellen Topoi eine offensichtlich digitale Vision.

Scorseses Irrenhaus-Film ist also wie schon sein Remake von J. Lee Thompsons “Kap der Angst” ein überaus selbstreflexiver Genrefilm, sozusagen der Tarantino in seiner sowieso schon an Genres orientierten Filmografie. Ebenso wie jener erste Blockbuster seines Oeuvres ist “Shutter Island” mit psychologischen Nuancen versetzt, die dem Thriller nicht unbedingt zufliegen. War es im Remake noch die Psychoanalyse und die Gefahr der sexuellen Befreiung und damit der Zersetzung der Familie, die der Ex-Häftling Max Cady (DeNiro) verkörperte, ist “Shutter Island” durchzogen von Formen der Traumabewältigung im Kleinen (die schreckliche Tat) und im Großen (der Holocaust). Deswegen sind die überzeugenden Argumente für den neuen Scorsese kaum an seiner Genre-Oberfläche (Suspense! Horror! Thriller! und natürlich Twist!) zu finden. Der Scorsese-Held wird in “Shutter Island” vom Kind der Einwanderer in den amerikanischen Helden verwandelt, einen früheren Soldaten, der an der Befreiung Dachaus Teil hatte. Doch der Held ist gebrochen. Er wurde von seinen Traumata verzehrt, weshalb der Film als verschachtelter Kommentar jüngerer zeitgeschichtlicher Ereignisse weitaus befriedigender ist als irgendeine überraschende Wendung.