Wollmilchcast #49 – Die Filme von Tony Scott

Tony Scott: Man on Fire

Vor sechs Jahren ist Tony Scott gestorben. Aus diesem Anlass blicken wir im neuen Wollmilchcast zurück auf die Filmografie des Regisseurs. 1983 gab der gelernte Maler sein Langfilmdebüt mit The Hunger und sollte in den kommenden Jahrzehnten einige der prägenden Blockbuster und auch Kultfilme seiner Zeit drehen, von Top Gun bis hin zu True Romance. Im Podcast sprechen Matthias von Das Filmfeuilleton und ich über die vielen, sich überschneidenden Phasen der Karriere des Tony Scott, diskutieren, wann unser “Lieblings-Scott” zum Vorschein kommt (erst nach True Romance!) und fragen uns, was von dem Filmemacher hinsichtlich seines Einflusses geblieben ist, auch in den Filmen seines Bruders Ridley. Viel Spaß beim Zuhören!
Shownotes:

Hört euch den Wollmilchcast an:

Play

Der Wollmilchcast bei Twitter: @Beeeblebrox + @gafferlein.
Der Wollmilchcast als Feed und bei iTunes.


Intro und Outro: Kai Engel – Slum Canto (aus dem Album Sustains)
Nutzung im Rahmen der CC BY 4.0-Lizenz. (Homepage des Künstlers)
Copyright Titelbild: Paramount

Images speak louder than words – Tony Scott (1944-2012)

Tony Scott am Set von Man on Fire

Am Sonntag hat sich Tony Scott das Leben genommen. Über die Motive des 68-jährigen dürfen die Yellow Press und Nikki Finke spekulieren. Eine kleine Hommage habe ich an anderer Stelle geschrieben und ein halbseidenes Ranking seiner Filme findet man in meiner mp-Liste.

Zum Weiterlesen und -sehen:

Kritiken zu Domino und Unstoppable; eine Sammlung von directed by-Screenshots; Trailer und eine Auswahl von Kurzfilmen (ergänzend dazu sein erster Film, jüngere Werbespots und sein BMW-Kurzfilm Beat the Devil; Tony Scott – Director).

Die guten Nachrufe sind leider rar, zumindest diejenigen, welche über den Top Gun-Regisseur hinauskommen (Glenn Kenny, Manohla Dargis). Aber vielleicht schreiben Daniel Kasman oder die Ferroni Brigade (hoffentlich ohne Lav Diaz-Zitat) etwas über Tony Scott. Im mubi-Forum hat Daniel Kasman nochmal auf die einschlägigen Beiträge bei mubi verwiesen:

What is the 21st Century?: The Modern Director, Pt. 1

Ein wunderschöner Frame aus Déjà vu

Reverses #2: Love Folds Space and Time

“The Taking of Pelham 1 2 3” (Scott, USA)

You Can’t Be Neutral on a Moving Train: Tony Scott’s “Unstoppable”

Triangulating the Rust Belt: Notes on Tony Scott’s “Unstoppable”

Dazu Ignatiy Vishnevetsky über Scott’s Metaphysical Romances, Pt. 1 und Pt. 2.

Update: I.V. hat bei mubi einen längeren Text zum Thema veröffentlicht: Smearing the Senses: Tony Scott, Action Painter

They’re Hollywood movies, but they don’t work the way Hollywood movies—or any movies—are expected to work; therefore, they’re assumed to be broken.

Die rote Kappe vermisse ich jetzt schon.





2010: Odyssee durch ein Filmjahr

Es ist wieder soweit. Ein Jahr ist zu Ende gegangen, teils wehmütig, teils enttäuscht blickt man bei so einem Anlass zurück auf die vergangenen zwölf Monate und deren filmische Perlen und Langweiler. 2010 habe ich wie immer viel zu wenig neue Filme gesehen, was hauptsächlich an zwei großen Buchstaben lag: Einem M und einem A. Der folgende Rückblick ist deshalb wieder höchst subjektiv. Wie in den vergangenen Jahren auch, werden nur Filme berücksichtigt, die 2010 ihre Kino- oder DVD-Premiere in Deutschland gefeiert haben.


Meine 7 Lieblingsszenen 2010:

Lauter schwarz gekleidete Killer liefern sich in “Vengeance” im Mondlicht eine Schießerei, während Blätter auf sie herabregnen.

Harry und Hermine tanzen in einem ungewöhnlich erwachsenen Moment zu Nick Caves “O’Children” in “Harry Potter und die Heiligtümer des Todes Teil 1”.

Drei Männer treffen sich in einer Kirche in “The Expendables”.

Hanzo liefert sich in “Predators” einen Schwertkampf mit einem ebenbürtigen Gegner.

Will schließt die Verbindung zwischen Verfolgerlok und Güterzug in “Unstoppable”, während ihm kiloweise Getreide um die Ohren fliegt.

Die japanischen Soldaten feiern die brutale Eroberung Nanjings mit einer Parade in “City of Life and Death”.

Die OPEC-Geiseln erwachen im Flugzeug und merken, dass die Terroristen verschwunden sind, während Carlos in einer Limousine aus der Stadt kutschiert wird.

Die 5 besten Filme, die ich 2010 zum ersten Mal gesehen habe:

Accident

Syndromes and a Century

Seven Men From Now

Die Werkmeisterschen Harmonien

Stagecoach

Meine Entdeckung des Jahres:

Budd Boetticher

Meine Wiederentdeckung des Jahres:

Tony Scott

Der Trailer des Jahres:

Inception/The Tree of Life

Die Enttäuschung des Jahres:

Inception/Die Jenaer Kinolandschaft

Meine persönliche Top Ten des Jahres 2010:

10 Humpday

Dieser Independentfilm hätte ein größere Kinoauswertung verdient. Eine lebensnahe und erwachsene Komödie über eine Bromance ist “Humpday” und nicht nur ein Film über zwei Kumpels, die einen schwulen Pornofilm drehen wollen. Von der Prämisse sollte sich niemand abschrecken lassen. Mehr von mir dazu hier.

09 Unstoppable

“Unstoppable” ist ein schlanker, astreiner Actionfilm. Tony Scott beweist in einem seiner besten Werke der letzten Jahre, dass man für ein tagesaktuelles Spektakel nur drei Zutaten braucht: Einen Neuling, einen alten Hasen und einen außer Kontrolle geratenen Zug. Ein Schlag ins Gesicht der sterilen C.G.I.-Fraktion. (Kritik)

08 Mother

“Mother” ist vielleicht nicht der beste Film von Bong Joon-ho (“The Host”). Dass das Psychodrama um eine Mutter, die um jeden Preis ihren geistig behinderten Sohn vor dem Gefängnis bewahren will, trotzdem in dieser Liste landet, sagt einiges aus über die Qualität des Regisseurs aus. Dessen bester bleibt “Memories of Murder”. (Kritik)

07 Mary und Max

Dass Knetmasse zu Tränen rühren kann, konnte man schon nach Ansicht des tollen Kurzfilms Harvie Krumpet ahnen. Mit seinem ersten Spielfilm hat Adam Elliot nun all das war gemacht, was “Harvie Krumpet” versprochen hatte. Ein rührender Trickfilm, der sich vor den Realitäten des Lebens nicht scheut.

06 Ein Prophet

“Knallhart” ist das richtige Wort für diesen Gefängnisfilm, in dem aus dem jungen und unerfahrenen Malik durch die Parallelgesellschaft des Gefängnisses ein brutaler Krimineller geformt wird. Ob man den Film nun als Kommentar über das Einwandererland Frankreich liest oder nicht: “Ein Prophet” ist ein verdammt guter Genrefilm.

05 Der Räuber

Wo wir schon bei Genrefilmen sind: “Der Räuber” von Benjamin Heisenberg strotzt vor Energie und zeichnet das Bild eines Mannes, der von genau dieser bis in den drohenden Untergang getrieben wird. Visuell und v.a. auditiv ein echtes Erlebnis. (Kritik)

04 A Single Man

Colin Firth in der Rolle seines Lebens. Vielleicht bekommt er seinen verdienten Oscar für “The King’s Speech”, aber “A Single Man” ist und bleibt sein Film. Daran kann auch die um Aufmerksamkeit heischende Inszenierung von Tom Ford nichts ändern. Ob der Film, so gut er auch aussehen mag, ohne Colin Firth funktioniert hätte, ist fraglich. Die tolle Julianne Moore darf an dieser Stelle aber auch nicht vergessen werden.

03 Carlos

In 330 schnell vorüber fliegenden Minuten zeichnet Olivier Assayas die Wandlung eines Idealisten (war er je einer?) in einen Berufsterroristen, der in erster Linie eines sucht: Das Rampenlicht. Statt  nur von Lebensstation zu Lebensstation zu springen, gestaltet sich “Carlos” als eine Serie von set pieces, welche die Degeneration des selbstverliebten Schakals ohne viel Schickschnack darstellen. Edgar Ramirez (“Domino”) erweist sich als eine der schauspielerischen Entdeckungen des Jahres.

02 City of Life and Death

Lu Chuans grandiose und erschütternde Skizze des Massakers von Nanjing kam im Oktober heimlich, still und leise in Deutschland auf DVD und BluRay. Das qualifiziert den bei internationalen Festivals meist übersehenen Film zum Glück für diese Liste. Dass Lu diesen chinesischen Film aus Sicht eines japanischen Soldaten erzählt, ist nur eine der erstaunlichen Qualitäten von “City of Life and Death”.

01 The Social Network

Überraschung! Überraschung! Nach meiner Kritik sollte die Platzierung von David Finchers aktuellem Film niemanden mehr wundern. Zweimal habe ich ihn im Kino gesehen, zweimal haben Aaron Sorkins Dialoge, David Finchers souverän zurückgenommene Regie und die treibende Musik von Trent Reznor und Atticus Ross mich umgehauen. Kino, wie es sein sollte.

Unstoppable (USA 2010)

Unstoppable ist ein Film über Leute, die ihren Job gut machen und andere, die ihn schlecht machen. Ein junger Lokführer (Chris Pine) und ein alter Hase (Denzel Washington) müssen sich darin zusammenraufen. Der eine will den anderen belehren, weist ihn zurecht, wenn er zu lang telefoniert und wartet auf jeden noch so kleinen Fehler. Frank (Washington) hat ganz eigene Motive für sein Handeln, doch um eines geht es ihm immer: seinen Ethos der Professionalität, dem jeder Kollege folgen sollte. Frank ist einer, der sich mit seiner Arbeit identifiziert, der seinen Job gut machen will. Die Struktur der Exposition von “Unstoppable” stellt neben das Kennenlernen der beiden Helden den Gegenentwurf. Ein Bahnmitarbeiter geht seiner Arbeit schlampig nach, er verlässt das Führerhaus seines Güterzuges (und was für ein Güterzug das ist!) während der Fahrt, um eine Weiche umzustellen. Die Druckluftbremse aktiviert er aus Faulheit nicht. Der Zug wird schneller. Und weg ist er, führerlos, außer Kontrolle. Frank und Will (Pine) werden sich früher oder später mit ihrer Lok auf den Weg machen, den Zug zu bremsen, bevor es zu einer Katastrophe kommt.

Bis dahin lässt sich Tony Scott jedoch viel Zeit. Viel Zeit, um sich in die Industrielandschaft Pennsylvanias zu verlieben, in die Rauchschwaden, Schornsteine und natürlich die Züge.  Der nicht zu stoppende #777 ist ein einschüchternder Koloss auf Gleisen. Jeder, der schon mal auf einem einsamen Bahnsteig seine Zeit vertreiben musste, während ein endloser Güterzug nach dem anderen die Trommelfelle strapaziert, wird in “Unstoppable” dieses Gefühl der Ohnmacht angesichts der tonnenschweren Geschwindigkeit erneut erleben können. Ganz auf die Physis des Zuges ist die Inszenierung nämlich zugeschnitten, um aus ihm visuell und auditiv eine blinde Bedrohung zu formen, welche den Zuschauer im Verlauf des Films gewissermaßen auf die Kante seines Kinosessels drückt, während sie in dutzenden Einstellungen auf die Kamera zu- oder an ihr vorbei braust. Geradezu lebendig wirkt der unter der Last der gefährlichen Fracht ächzende Antagonist im Blick Tony Scotts und seines Kameramanns Ben Seresin. Und er wirkt echt. Das Erschreckendste an “Unstoppable” ist nicht der mit giftigen Chemikalien beladene Zug, der Kurs auf eine Stadt genommen hat. Das Erschreckendste ist, dass die Bodenständigkeit des Films, die bis zum Finale durchgehaltene Präferenz der Echtheit, nicht der C.G.I.-generierten Haptik, für die vom modernen amerikanischen Actionkino abgestumpften Augen geradezu ungewohnt wirkt. “Unstoppable” ist ein Spektakel der alten Schule.

Geradlinig und schlank erzählt Tony Scott seine Geschichte auf Basis einer einfachen Weltanschauung, die natürlich nicht ohne gewissenlose Konzernobere auskommt. Durch die direkte Thematisierung der Entlassungen in diesem industriellen Rückgrat der USA ist der Film ein Produkt unserer Zeit. Als fast schon capraesker Depressionsactioner gibt sich “Unstoppable”, der idealistisch an die Durchsetzungsfähigkeit beruflicher Kompetenz und harter Arbeit glaubt. Zur klassisch angehauchten Moral von der Geschicht’ gesellt sich die für Scotts Verhältnisse zurückhaltende Ästhetik, welche den Exzessen eines “Domino” oder “Man on Fire” eine logische Absage erteilt. Einziger Schnörkel ist die bei diesem Regisseur erwartbare Zuhilfenahme einer weiteren Erzählinstanz, um die diversen Handlungsstränge zu vernetzen: Fernsehkameras. Das ist gegen Ende einigermaßen übertrieben und unnötig hektisch, bildet andererseits aber eine Konstante spätestens seit den Satellitenaufnahmen in “Der Staatsfeind Nr. 1”. So reiht sich “Unstoppable” nahtlos ein in die Filmografie Tony Scotts, nimmt bekannte Motive auf (zu U-Booten, Fähren und U-Bahnen als Handlungsorte gesellen sich nun Züge) und fädelt sie ein in ein besonnenes Alterswerk, welches erneut unter Beweis stellt, dass Scott nicht nur einer der interessantesten amerikanischen Mainstream-Regisseure der Gegenwart ist. Er ist v.a. auch einer der sinnlichsten, der beständig die Möglichkeiten und Grenzen seines Mediums im Korsett spektakulärer Einfachheit auszureizen sucht.