Wichtige Informationen zu später Stunde

Da ich mich in wenigen Stunden auf die beschwerliche, von diversen Zugfahrten und Flughäfen gesäumte Reise nach Bologna begebe, sei hier nur kurz erwähnt, dass es diese Woche bei the gaffer etwa ruhiger wird. Das heißt, dass Lutz mit seinem neuen Kontrapunkt wohl einsam die Stellung halten muss. Stammleser werden vielleicht merken, dass genau vor einem Jahr eine ähnliche Meldung hier gepostet wurde. In der überaus hübschen italienischen Stadt findet dieses Jahr nämlich wieder das Festival Il Cinema Ritrovato statt und eben jenes werde ich im Rahmen eines Exkursionsseminars erneut besuchen. Diesmal werden u.a. Filme von Frank Capra, King Vidor, Jean-Luc Godard, Luchino Visconti (“Senso” – Open Air!), John Ford und Jacques Tati (“Die Ferien des Monsieur Hulot”- ebenfalls Open Air!) zu sehen sein.

Wenn innerhalb der nächsten Woche also der ein oder andere Kommentar nicht freigeschaltet wird, liegt es daran. Wer mehr über das Festival erfahren möchte, kann sich den Bericht vom letzten Jahr durchlesen. Mir bleibt ansonsten nur noch, allen Lesern eine schöne, möglichst sonnige Woche zu wünschen! Arrivederci!

Letztes Jahr in Marienbad (F/I 1961)

Memory’s a bitch. Erinnerungen brechen herein in den Alltag, wenn man sie am wenigsten braucht. Ein ganzes Leben lang verfolgen einen die Schlechten und die Guten muss man jeden Tag aufs neue vor dem Treibsand des Vergessens bewahren. Wie ein Puzzle drohen sie zu zerfallen, verschwinden einzelne Teile auf nimmer Wiedersehen, muss der Rest in  einem unaufhörlichen Kreislauf immer wieder neu zusammengesetzt werden. Denn Erinnerungen, das sind Rückzugsorte und Versicherungen der eigenen Identität samt ihrer Vergangenheit. Wenn materielle Begleiter ihr Ablaufdatum längst erreicht haben, vergehen oder ersetzt werden, ermöglicht das Gedächtnis die Kontinuität zwischen Vergangenheit und Gegenwart. Dabei beherbergt es die ultimative Subjektivität. Ist das Puzzle einmal neu zusammengesetzt, wird das Bild schließlich nicht zwangsläufig dasselbe sein.

Es mag verwegen klingen, aber Alain Resnais hat das Gedächtnis verfilmt. Mit all seinen Manipulationsmöglichkeiten, surrealen Überraschungen und der stets hervorlukenden Unberechenbarkeit eines Vierjährigen, der einem in der Bahn gegenüber sitzt, während man verzweifelt versucht, sich auf ein Buch zu konzentrieren. Das ist jedoch nur eine Deutung von Letztes Jahr in Marienbad, was zugleich die Frage beantwortet, warum der Film von nicht wenigen leidenschaftlich gehasst und als prätentiös bezeichnet wird. Alternativer Untertitel: Alles, was wir am “Kunstkino” hassen.

Resnais hat zugegebenermaßen einen schweren Film gedreht, das reinste Rätsel, rafft der Zuschauer sich nicht auf, um für sich selbst Bedeutung in die Sache zu bringen. Ein Verwirrspiel der absoluten Relativität von Realität, welches so perfekt ineinander greift, so – das spürt man bei Anblick der 94 Minuten – konsequent durchdacht und konzipiert wurde, dass es als sinnlos abzutun, nur ein Symptom geistiger Faulheit wäre.

Der Film ist eine Herausforderung, alle Erwartungen, jede Vorstellung filmischer Konventionen hinter sich zu lassen. An der Oberfläche: Ein Mann, der eine Frau überzeugen möchte. Sie hatten vor einem Jahr eine Affaire, sagt er, in Marienbad. Vielleicht war es auch woanders. Sie erinnert sich nicht an ihn, doch er gibt nicht auf. Das alles in einem barocken Schloss samt geometrisch massakriertem Garten und teilnahmslosen Gästen. Sie reden aneinander vorbei, blicken ins Leere. Vielleicht sind sie Geister, vielleicht spielen sie aber auch gar keine Rolle,  außer jener der leblosen Staffage der Erinnerung.

Lebendigkeit scheint X (Giorgio Albertazzi) ihr einzuhauchen, mit jedem Überredungsversuch ein bisschen mehr. “Wir waren da und da, sie haben das und das getan”, hört man in Variationen aus dem Off, selbst wenn sich im Bild ein anderes Ereignis abspielt. Später wird man es einordnen können, denn passende Bilder sind tatsächlich vorhanden. X’ Gedächtnis neigt nur hin und wieder zur Asynchronität. Das ist es, was man sieht: Sein Versuch, die Erinnerungen, welche er von A (Delphine Seyrig) besitzt, umzuformen, bis der Ausgang der Affaire ihn zufriedenstellt. Ständig verzweifelt das “Nein, so ist es nicht gewesen, es war anders!” bis sich seine Version des Ablaufs durchsetzt.

Die klare Trennung zwischen Vergangenheit und Gegenwart, selbst die Einheit von Zeit und Raum hebt Resnais in “Letztes Jahr in Marienbad” auf und bis man in den Film findet, ist das Gefühl eines kühlen Experiments voller Stillleben und quälend langer, diffuser Kamerafahrten nur schwer abzuschütteln. Jedoch nicht nur eine abstrakte Idee, ausgebreitet auf Spielfilmlänge ist sein Werk, vielmehr ein reichlich menschlicher Film, der ein wesentliches Phänomen unseres Daseins in bewegte Bilder zu fassen sucht.

Auf technischer Ebene brillieren die Macher. Labyrinthisch führt Sacha Vierny den Blick durch die prunkvolle Sterilität der Gänge, als würde es sich um die Windungen eines Gehirns handeln. Kombiniert werden die Bilder virtuos, denn X springt von Moment zu Moment. Manchmal ist es auch nur der Hintergrund, der sich wandelt, so als sei er sich selbst nicht mehr sicher, wo das Gespräch nun wirklich stattgefunden hat. Doch ein “wirklich”  gibt es in  diesem Film ja sowieso nicht. Selten drängt sich die Montage derart invasiv ins Filmerlebnis und wo danach oft nur die prätentiös verschleierte Leere vorherrscht, ist diesem und den anderen Stilmitteln Resnais’ problemlos ein Motiv für die Auswahl zuzuordnen.

Letztes Jahr in Marienbad ist kein Erzählkino, denn Erinnerungen kommen selten mit einer gewöhnlichen continuity im Handgepäck. Der Film wird vor unseren Augen von X konstruiert. Allerlei Umwege und Einbahnstraßen müssen dabei eben in Kauf genommen werden. Nichts ändert das an der Tatsache, dass Resnais jedem, der will, eine einzigartige Erfahrung bereitstellt. Alles, was zu tun bleibt, ist auf Play zu drücken.

Aber vielleicht war es ja auch ganz anders.

Dem Kelly sein neuer

Richard Kellys Filme sind wie eine Schachtel Pralinen. Man weiß nie, was noch kommt. Der Amerikaner hat zwar erst drei Spielfilme gedreht, aber nach “Donnie Darko” und “Southland Tales” kann man schon mal eine Konstante feststellen: Er neigt zu ungewöhnlichen Erzählstrukturen, die zu entziffern man am Ende oft genug mit Hilfe von Onlineforen gezwungen ist. Anders als seine beiden Vorgänger erscheint The Box nun wie der Versuch, in den Mainstream vorzustoßen.

Als gewöhnlicher Thriller fängt’s an mit einer geheimnisvollen Box, die Cameron Diaz und James Marsden auf ihrer Türschwelle finden und der gruslig vernarbte Frank Langella, der ihnen das Ding erklärt, wirkt auch nicht sonderlich vertrauenswürdig. Doch je weiter der Trailer voranstrebt, desto stärker erinnern die Einstellungen an Kubrick, desto seltsamer  – eben wie Kelly – wirkt die Handlung und trotzdem ist alles ein bisschen… konventionell.

The Box startet im Oktober in den USA und in Deutschland “voraussichtlich 2009”. Zur YouTube-Version geht’s hier lang.

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Kontrapunkt: Wahnsinn

Wir erinnern uns an Wolfgang Petry, der in einem seiner Songs den Titel dieses Kontrapunkts mit der Songzeile „… warum schickst du mich in die Hölle?“ vervollständigt. Dort lauert zweifellos „Das Grauen… das Grauen“. Oder schlechte Drehbücher, die Mädels von der Venus im ländlichen Oberbayern nach „Reibeflüssigkeit“ suchen lässt. Hätte Jacques Mesrine dort doch wenigstens mal eingegriffen und nicht nur im französischen Finanzsystem.

Public Enemy No. 1 - TodestriebPublic Enemy No. 1 – Todestrieb (F/CDN 2008)

Irgendwie hat man bei diesem Film ein Déja-vu nach dem anderen: Immer noch die Einbrüche, Ballereien (dieses mal mit der Wackelkamera allerdings negativer in Erinnerung bleibend) und Frauengeschichten wie in Part Un der Verfilmung der Autobiographie von Jacques Mesrine, keine wirklich innovativen Aspekte. Nun ja, the gaffer hat ja schon Einiges dazu gesagt. Und eigentlich ist es auch unverzeihlich, dass man schon zu Beginn des ersten Teils zeigte, wie die ganze Geschichte ausgeht. Ich als Nicht-Wikipedia-Leser wäre dann vielleicht noch überrascht wurden. Dennoch fiebert man mit, wenn minutiös und mit nahezu hypnotischer Spannung Mesrines letzter Gang zu und Mesrines letzte Fahrt in seinem Auto nachgezeichnet wird. Irgendwie wie bei „Star Wars“ in Episode III: Eigentlich weiß man, was passiert, fesseln tut es aber trotzdem. Trés jolie. Zumindest diese Szene. Der restliche Film drumherum ist fast schon erschreckend konventionell, so dass er nur durch den diabolique Monsieur Cassel noch ganz gut ist.

Ach jodel mir doch einenAch jodel mir noch einen (BRD/A 1974)

Der hirnrissige deutsche Untertitel „Stoßtrupp Venus bläst zum Angriff“ oder der nicht minder doofe amerikanische Titel „2069: A Sex Odyssey“ sagen eigentlich schon alles über diese wahnsinnig bescheuerte Erotikklamotte, in welcher eine Gruppe von Venus-Frauen wegen akuten Spermienmangels auf ihrem Planeten in Oberbayern auf „Reibstoff“-Jagd geht. Platte Wortwitze um Tankschläuche und Einspritzpumpen sind an der Tagesordnung, die billigen Effekte bestehen hauptsächlich in blinkenden Lampen. Die albernen Kostüme wirken in diesem unfreiwillig komischen, haarsträubenden Billig-Fummelfilm auf bayrisch wie von einer Dorf-Trekkie-Party im hintersten Pfaffenwinkel abgeguckt, aber immerhin sind die drallen Venus-Miezen ganz nett anzuschauen, wenn sie diese denn mal ausziehen. Das passiert gegen Ende der zum Glück nur 75 Filmminuten zwar immer öfter, aber die ohnehin dünne Handlung leidet ebenso darunter wie der Zuschauer, der nur das Ende dieses spacigen Aktes herbeisehnt.

Apocalypse Now ReduxApocalypse Now Redux (USA 1979)

Eigentlich braucht man über dieses Meisterwerk nicht mehr viele Worte verlieren: Krieg ist Wahnsinn, die Bootsfahrt zum Reich von Colonel Kurtz (Marlon Brando) jenseits der kambodschanischen Grenze eine Reise durch den Vorhof der Hölle, wo Vernunft, Bedeutung und Sinn unerlaubt abwesend sind. Die Kameraarbeit von Vittorio Storaro schwelgt in surrealen, düsteren Bildern, Gemälden gleich. Zusammen mit der übermächtigen Soundkulisse wird Coppolas Film zu einem einzigartigen Trip bar jeder Genrezuordnungen in das Innere des Menschen und den sich widerstrebenden Teilen seiner Seele: Liebe und Hass, Lust und Ratio. Die Redux-Fassung wirkt insgesamt etwas stimmiger (der Tiger… der Tiger), verärgert aber mit einer überflüssigen Szene bei französischen Siedlern. Zudem enttäuscht das Fehlen der mit psychedelischen Bild-Ton-Kompositionen inszenierten Zerstörung des Lagers im Abspann (der komplett zum Opfer fiel). Dennoch: ein verstörender Trip, der den Zuschauer ebenso fasziniert wie berauscht zurücklässt. Ganz großes Kino!

Public Enemy No. 1 – Todestrieb (F/CDN 2008)

Public Enemy No. 1 - TodestriebEin bisschen stieg das Gefühl eines Déjà-vu-Erlebnisses in mir auf, als ich letzte Woche in der Spätvorstellung des zweiten Teils der Biografie von Jacques Mesrine saß. Oder war es ein Fehler in der Matrix? Wohl kaum, denn da war er wieder, der Verbrecher gespielt von Vincent Cassel, der in Frankreich Banken ausraubt, ins Gefängnis kommt, ausbricht, einen neuen Kompagnon trifft, der von einem französischen Star gespielt wird (Mathieu Amalric), sich mit ihm überwirft, eine hübsche Freundin findet, die von einem französischen Star (Ludivine Sagnier) gespielt wird, sich mit ihr streitet, ein Casino ausraubt, jemanden entführt usw. Natürlich läuft das alles nicht in dieser Reihenfolge ab und ich kann Regisseur Jean-François Richet nicht vorwerfen, einzig die Handlungsstationen des Vorgängers noch einmal mit anderen Frisuren zu wiederholen. Doch da saß ich eben im Kino und wunderte mich, warum in “Mordinstinkt” all die obigen Elemente noch relativ frisch gewirkt hatten und das vergleichbar flotte Tempo von “Todestrieb” im Gegensatz dazu hin und wieder zur Ermüdung führte. Plötzlich nervten etwa die verwackelten Actionszenen, welche in der ersten halben Stunde die Exposition ersetzen und damit den Einstieg in den Film auch nicht gerade erleichtern.

Das soll nicht heißen, Public Enemy No. 1 – Todestrieb leide im Vergleich zum Vorgänger an einem rapiden Qualitätsverlust. Beauftragt, die hohe Ereignisdichte von Mesrines Biografie als homogene, zweiteilige Erzählung auf die Leinwand zu bringen, versuchen Richet und sein Drehbuchpartner Abdel Raouf Dafri alles, um sowohl erzählerische Motive aus dem Vorgänger im zweiten Teil zu variieren, als auch Mesrines Transformation zum Public Enemy No. 1, den Wandel vom Mordinstinkt zum Todestrieb des gewalttätigen Robin Hood-Verschnitts glaubhaft zu machen. Im Zusammenspiel mit den Medien kommt Mesrines eitle Großmannssucht zum Tragen. So entführt er einen Journalisten, der ihn in einem Artikel beleidigt hat, prahlt in seiner Autobiografie mit Morden, welche er nicht begannen hat und führt, wenn er gerade nicht irgendetwas ausraubt, Interviews wie jeder andere Celebrity.

War Mordinstinkt noch vom Hintergrund des Algerienkriegs und dem Niedergang der französischen Kolonialmacht in den Anfangsjahren der Fünften Republik geprägt, macht der Terror in den Nachbarländern Mesrine in den Medien nun Konkurrenz. In demselben Maße wie es in den Siebzigern zur Radikalisierung von Teilen der Linken kommt, scheint Mesrine selbst zum verzerrten Spiegelbild seiner Außenwelt zu werden. Richets ambivalente Herangehensweise schwankt hierbei jedoch immer wieder zwischen der Entlarvung seiner grenzenlosen Brutalität und der Bewunderung des schelmischen Banditen, stets erfolgreich in seinen Versuchen, der Staatsmacht ein Schnippchen zu schlagen. Bis diese selbst alle Zügel der Legalität fahren lässt.

Das Leben Jacques Mesrines als Allegorie auf RAF, Rote Brigaden und Co.? Nur stellenweise wird diese Deutung dem Film gerecht, sind doch seine schon im Vorgänger angedeuteten, rar gesäten Motive  – z.B. die Schließung von Hochsicherheitsgefängnissen – einigermaßen halbgar aufbereitet, kaum ernst zu nehmen und meistens in der irrationalen Blase gefangen, in der sich auch der Instinktmensch Mesrine bewegt. Todestrieb ist in erster Linie die Charakterstudie eines sich zunehmend in seinen Taten verlierenden Raubtieres, welches recht früh erkennt, dass es aus der Falle, die sein Leben ist, kein Entkommen gibt und sich daraufhin immer tiefer in ihr verfängt.

Trotz der in der zweiten Hälfte überaus spannenden Kost bleibt die Frage im Raum stehen, ob dem Leben und Sterben des Jacques Mesrine nicht auch ein einziger Film gerecht geworden wäre. Ein bisschen weniger Déjà-vu, ein Tick mehr Mut zur erzählerischen Lücke, überhaupt die Fähigkeit eine Lebensstation wegzulassen, wenn sie dem Bild Mesrines nichts neues hinzufügen kann – die Erfüllung dieser Wünsche verweigern uns die Macher. Da beide Teile, “Mordinstinkt” und “Todestrieb”, sich in Ton und Atmosphäre nicht  – wie etwa “Kill Bill 1+2” – fundamental voneinander unterscheiden, vielmehr an ihren Enden einander überlappen, hätte ein beherzter Cutter dem Ganzen durchaus gut getan. Abgesehen davon hat ein Film William Wellman, Howard Hawks und deren Kollegen doch auch gereicht.


Zum Weiterlesen:
Public Enemy No. 1 – Mordinstinkt