Kontrapunkt: Das Experiment vs. The Experiment

Deutscher Psychothriller mit Moritz Bleibtreu hier, amerikanisches Remake mit Adrien Brody dort. Gleichzeitig liegt jedoch zwischen den beiden Filmen nicht nur der Atlantik, sondern auch ein großer Unterschied in zahlreichen Elementen der Drehbücher. Während bei Das Experiment der Autor der literarischen Vorlage am Drehbuch mitwerkelte, ist dieser Einfluss beim Remake nicht mehr zu spüren. Mario Giordano schrieb den Roman „Black Box“, wobei er sich von dem wirklich stattgefundenen Stanford Prison Experiment inspirieren ließ. Und so gleicht die Versuchsanordnung in „Das Experiment“ dem Feldversuch von Psychologen-Koryphäe Philip G. Zimbardo auch eher als jener in The Experiment.

Schon bei der Ausgangssituation ergeben sich dabei Unterschiede hinsichtlich der Versuchsanordnung. Acht Wärtern stehen dabei zwölf Gefangene im Original, 18 Gefangene im Remake gegenüber. Wurde der Versuch im Original in den Räumlichkeiten einer Universität durchgeführt, findet er im Remake an einem abgelegenen, ländlichen Ort statt. Dies sind zunächst nur Kleinigkeiten. Ein wesentlicherer Unterschied besteht in dem Eingreifen oder in der Wechselwirkung mit der Versuchsleitung.

Während Professor Thon (Edgar Selge) im Original als Versuchsleiter, höchste Autorität und vermittelnde Instanz immer wieder Kontakt zu den Wärtern und Gefangenen aufnimmt und Feedbacks hinsichtlich bestimmter Ereignisse gibt, ist diese Interaktion im Remake nicht gegeben. Die Situation wirkt dort nicht nur nach außen hin abgeschlossen, sondern nahezu hermetisch abgeriegelt. Der Kontakt nach Draußen – sei es auch nur bis zur Cafeteria oder in die Flure des Institutsgebäudes – findet nie statt. Einzig ein rotes Lämpchen, welches über die Angemessenheit der Sanktionen der Wärter gegenüber den Gefangenen urteilt (im Glauben daran, dass alle Aktionen durch die installierten Videokameras überwacht werden) ist vorhanden. Die personale Autorität und Legitimation durch die Versuchsleitung ist der scheinbar Sicherheit versprechenden Autorität des technisierten Überwachungsstaats gewichen. Während die Versuchsleitung versagt, indem sie die eskalierende Situation zu unterbinden versucht (Streit darüber, ob Experiment fortgesetzt werden soll; Prof. Thon ist im entscheidenden Moment abwesend; seine Assistenten werden nicht als Autoritäten akzeptiert, sondern als Störfaktoren von Außen betrachtet), lässt die unpersönliche Überwachung Gewalt und Eskalation zu, greift nicht ein und versagt auch in ihrer Funktion als Kontrollinstanz. Es scheint, dass in Deutschland auch  77 Jahre nach Hitlers Machtergreifung durch personale Autorität legitimiertes Agressionsverhalten möglich ist (Siegfried Kracauer lässt grüßen), während in den USA die Autorität sich hinter ihren technischen Möglichkeiten versteckt und sich als Post-9/11-Überwachungsapparat und -konglomerat entpuppt (Foucault grüßt aus der Ferne).

Eine weitere „Amerikanisierung“ fand bei den Charakterzeichnungen der beiden Hauptfiguren statt. Moritz Bleibtreu als „77“ ist ein gescheiterter Intellektueller, der in dem Gefängnisexperiment eine „gute Story“ sieht, diese an die Zeitung verkauft und fortan als störendes Element den ohnehin bestehenden Rollenkonflikt immer weiter anheizt. Er ist aufbrausend und provokant, aber schließlich gebrochen. Adrien Brody als „77“ hingegen ist ein gescheiterter Hippie und Friedensaktivist, der gleich zu Beginn aus seinem Job als Krankenpfleger entlassen wird. Den Rollenkonflikt zwischen Wärter und Gefangenen heizt er nicht primär um der Eskalation willen, sondern aufgrund seiner Abneigung Autorität gegenüber an. Er ist ein Kämpfer für Fairness (nicht Gerechtigkeit!), nachdenklich. Wo Bleibtreus Figur den Gruppenzusammenhalt unter den Gefangenen zerstört und fast alle gegen sich aufhetzt, fördert Brodys empathischere Figur die Solidarität, den kollektiven Widerstand der Gefangenen gegen die Wärter.

Eine ähnliche Wandlung hat Berus (Justus von Dohnanyi) alias Barris (Forest Whitaker), Anführer der Wärter, erfahren. War Berus ein kleiner Fluglotse, dessen Familie zerbrochen ist und der endlich Anerkennung aufgrund der Erniedrigung der Gefangenen bekommen will (über Respekt gegenüber seiner Autorität), pflegt Barris seine autoritäre Mutter und flüchtet sich in tiefreligiöse Überzeugungen inklusive Scheingerechtigkeiten. Beide weisen ein pedantisches Streben nach Ordnung auf, nach festen Strukturen, die nur sie selbst schaffen können, indem sie bestehende Normen und Regeln rigoros durchsetzen. Doch während Barris nach Befreiung, nach Umsturz und Ausbruch aus dem bisherigen Leben strebt, in dem er eingesperrt ist (evident: er rasiert sich eine Glatze), ist Berus an dem Ausleben eines Kontrollbedürfnisses gelegen, welches lange Zeit unter seiner Frustration schlummerte. Dieses offenbart sich in einem Videointerview, in welchem Berus die für ihn wichtige Tatsache erwähnt, dass er in etlichen Jahren seiner Tätigkeit noch nie zu spät gekommen ist.

Zusammenfassend lässt sich dabei festhalten, dass “Das Experiment” viel Wert auf die Plausibilität schleichender Verhaltensveränderungen unter der Versuchsanordnung legt, während bei “The Experiment” aufgrund einer auf Spannung und Zuspitzung ausgerichteten Inszenierung die psychologische Dimension in den Hintergrund tritt. Ein Vergleich zwischen Eckert (Timo Dierkes) und Chase (Cam Gigandet), welche beide dieselbe gewalttätige Figur mit sexualpathologischen Zügen (und schließlich: Vergewaltiger in spe) darstellen, ist dahingehend evident: Ersterer ist ein sexuell frustrierter, misogyner Elvisimitator, Letzterer ein promiskuitiver und dümmlich gezeichneter Frauenheld, der sich als Mehrwert von der Teilnahme an dem Gefängnisexperiment “Muschis” erhofft und in einer kurzen Rückblende beim Sex mit einer Frau auf einem WC gezeigt wird.

Wer gerne selbst einen Vergleich zwischen dem deutschen Original und dem amerikanischen Remake vornehmen möchte, kann das ab dem 02. Dezember tun. Dann wird „The Experiment“ auch in Deutschland auf DVD veröffentlicht. Meine Kritik zum Film findet ihr bei news.de.

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