Kontrapunkt: Die Tyrannei der Terror-Blagen

Nebraska ist einer der größten Erzeuger landwirtschaftlicher Produkte in den USA. Das brachte dem Bundesstaat im Mittleren Westen den Beinamen “Cornhusker State” ein. Ob Stephen King beim Schreiben seiner Kurzgeschichte Children of the Corn aus dem Jahre 1977 bei dem seltsamen Eigenleben eines Maisfelds bereits an genmanipuliertes Getreide dachte, ist unwahrscheinlich. Eher kann man seine Kurzgeschichte als Seitenhieb auf religiösen Fundamentalismus in ruralen Gebieten verstehen – und auf aufsässige Bälger innerhalb einer absurden Jugendkultur, die allen Erwachsenen mit Sicheln und Sensen den Kampf ansagt. Hier eine kleine und willkürliche Rückschau.

Kinder des Zorns (USA 1984)

In dem Auftakt der inzwischen sieben Teile umfassenden Slasher-Reihe fragwürdiger Qualität verschlägt es Arzt Burt (Peter Horton) und Frau Vicky (Linda „Terminator-Braut“ Hamilton) ins ausgestorbene Kaff Gatlin, nachdem sie auf der Landstraße einen Jungen angefahren haben. Sämtliche Erwachsene wurden von der Terrorclique vom Maisfeld unter der Führung des Kind-Predigers Isaac (John Franklin) umgebracht, im Namen eines Gottes mit der umständlichen Bezeichnung „Er, der hinter den Reihen schreitet“. Die ländliche Apokalypse äußert sich zu psychedelischen Kindergesang auf der Tonspur atmosphärisch dicht in einer Geisterstadt, deren Häuser durch Chaos und Mais verwüstet wurden. Immerhin mit einem temporeichen Finale, subtilen Tötungsszenen (Kamera zeigt meist nur die Konsequenz, nicht die Tat selbst) und zahlreichen beklemmenden Point Of View-Shots gesegnet, kommt über weite Teilen Spannung auf. Das macht das alberne Okkult-Happening im Maisfeld ebenso vergessen wie die unfreiwillig dummen Ersatzpaps-Kind-Dialoge am Ende (“Ist er tot?” – “Ich glaub‘: ja.” – “Warum laufen wir dann immer noch weg?” – “Frag nicht. Weiter!”). John Franklin kehrt übrigens im unsäglichen sechsten Teil wieder, wie der deutsche Untertitel “Isaacs Rückkehr” schon androht.

Kinder des Zorns III – Das Chicago-Massaker (USA 1995)

Eine betont ambitionierte Inszenierung mit einer zoomenden Handkamera, ein paar Szenen mit gefaketer, hoher Schärfentiefe und Gelbblenden bei Flashbacks täuschen nicht darüber hinweg, dass a) James D.R. Hickox ein noch beschissenerer Regisseur ist als sein ebenfalls im B-Horror tätiger Bruder Anthony (Warlock – The Armageddon und Hellraiser III sind… naja, jedenfalls keine Genrehighlights) und b) dieser einfältige Nachklapp nur Trashfans erfreuen wird. Dieses Mal ist Eli (nervig wie ein quengelndes Kind: Daniel Cerny) der aufsässige Priester-Knilch, der nicht im beschaulichen Gatlin, sondern im Sündenpfuhl Chicago die gottlosen Highschoolkids um sich schart und den Erwachsenen oder anderen Ungläubigen nach dem Leben trachtet. Mordlüsterne Vogelscheuchen, ein herausgerissenes Rückgrat oder das alberne Finale mit einem schlecht getricksten Gummimonster, das im Maisfeld Puppen verschlingt, sind die unfreiwillig komischen Highlights, die im letzten Drittel dieses überkonstruierten Blödsinns die Langeweile ablösen. Sekundenkurz ist übrigens die junge Charlize Theron in einer Statistenrolle zu sehen, die von einem Maismonstertentakel penetriert wird. Einzig die Vorfreude auf diese Mini-Szene rechtfertigt das Quälen durch 80 Minuten bedeutungsschwangere Horror-Klischeesülze, die mit einem idiotischen Cliffhanger zusätzlich verärgert.

Kinder des Zorns IV – Mörderischer Kult (USA 1996)

War Linda Hamilton im ersten Teil eine zumindest interessante Personalie, so gilt das hier für die unglaubwürdige, da viel zu nette Naomi Watts. Ein Jahr nach ihrem Auftritt in Tank Girl und fünf Jahre vor David Lynchs Mulholland Drive spielt sie eine Medizinstudentin, die in ihre ländliche Heimatstadt zurückkehrt und hinter das Geheimnis eines wieder auferstandenen Kinderpriesters kommt. Nachdem alle Kinder des Örtchens gleichzeitig ein merkwürdiges Fieber bekommen und sich die garstigen Dreikäsehochs biblische Namen geben, schreitet sie mit Waffengewalt zur Tat. Neben kurzen Schock-Inserts als Unart des Genrefilms in den 90er Jahren bleiben einzig ein paar hübsche Totalen der aufgehenden oder untergehenden Sonne überm Maisfeld im Gedächtnis haften. Abseits einiger durchaus gelungener Gore-Szenen regiert über weite Strecken das Geschwafel um wiederkehrende Geister und die Einfallslosigkeit, die sich insbesondere in einem vergurkten Finale äußert.

Kontrapunkt: Film vs. Buch – Frühstück bei Tiffany

Frühstück bei Tiffany Film vs. Buch

Die Popularität vom Kurzroman und seiner Adaption sind annähernd gleich groß: Hier das neben “Kaltblütig” bekannteste Werk des brillanten Literaten Truman Capote, dort ein Klassiker der Filmgeschichte von Blake Edwards, dessen oscarprämierter Song “Moon River” bis heute zum Mitsingen einlädt. Hier das nüchterne Porträt einer zerbrechlichen jungen Frau mit Widersprüchen aus der distanzierten Sicht eines Freundes, dort stark emotionalisiertes, weichgespültes Hollywoodkino. Und genau darin sind die meisten Unterschiede zu finden.

Hauptfiguren in beiden Medien sind Holly Golightly (Audrey Hepburn) und ihr bester, namenloser Freund, den Holly im Buch stets Fred – nach ihren Bruder – nennt und der im Film als Paul Varjak (George Peppard) auftritt. Die Umstände ihres Kennenlernens könnten aber nicht verschiedener beschrieben werden. Capote nähert sich Holly langsam an, über ihren Briefkasten, ihren Müll, ihre optische Erscheinung, hüllt sie in eine mysteriöse Aura. Der erste unmittelbare Kontakt erfolgt durch  ein nächtliches Klingeln. Eine Begegnung mit einem “ganz schrecklichen”, beißenden Mann (S. 21) lässt sie über die Feuertreppe zum Ich-Erzähler flüchten und ins Gespräch kommen. Im Film klingelt der neue Mieter Paul Varjak direkt bei Holly, da er noch keinen Haustürschlüssel besitzt. Ihre Begegnung wirkt somit weniger spröde und zufällig, sondern gestellt, auch weil sie ihm gleich von ihrer Bekanntschaft mit Mafiosi Sally Tomato erzählt, den sie in Sing Sing besuchen wird.

Auratische Annäherung

Diesem langsamen, fast schon götzenähnlichen Gestus bei der Annäherung im Buch folgend, ist das die Erzählung initiierende Moment ein Foto mit einem Motiv, welches Holly ähnelt. (Dieses fehlt im Film komplett.) Mr. Yunioshi hat in Afrika eine Holzskulptur fotografiert, welche “Holly Golightly zum Verwechseln ähnlich [sah], zumindest so ähnlich, wie ein dunkles, regloses Ding sein konnte.” (S. 9). Durch dieses ikonische Abbild wird das mentale Bild, die Erinnerung des Ich-Erzählers angestoßen. Eine Erinnerung übrigens, die in die Zeit des zweiten Weltkriegs zurückreicht (es ist von rationierten Lebensmitteln, Wehrdienst und einmal vom Jahr 1943 die Rede), während der Film zum Zeitpunkt seiner Entstehung (1961) spielt. Auffällig soll sich diese “Zeitverschiebung” später bei dem Telegramm um den Tod von Hollys Bruder Fred äußern, der im Buch als Soldat im Krieg gefallen ist, während im Film ein Autounfall seinen Tod herbeiführte.

Während der Ich-Erzähler im Buch öfter Kontakt mit Barbesitzer Joe Bell hat, wenn es um Schlüsselsituationen mit Holly geht (Joe ruft ihn an wegen des Fotos von Mr. Yunioshi; bei Joe versteckt sich Holly kurz vor ihrer Flucht aus dem Land), fehlt diese Figur in der Adaption ganz. An seiner statt wird, auch aufgrund der Fokussierung auf eine verwickelte romantische Geschichte, die “Dekorateurin” von Paul “dazuerfunden”. Eine narrative Bedeutung abseits des Verhinderns einer früheren Affäre zwischen Holly und Paul und der später daraus erwachsenden emotionalen Komponente hat sie jedoch nicht, auch, weil sie urplötzlich aus dem Film verschwindet.

“Tiffany’s” als Metapher

Capote schreibt mit Holly, die eigentlich Lulamae heißt, von einem unsteten, sprunghaften, ja verruchtem Wesen – ähnlich einer Prostituierten – mit einer schwierigen Biografie. Edwards erzählt von einem glatt gebügelten, ebenso naiven wie verletzlichen Pin-Up-Partygirl, dessen zweifelhafte Finanzierung ihres Lebens nur angedeutet wird (“50 Dollar für die Toilette”). Die Sehnsucht nach Sicherheit von Holly ist demzufolge eine andere: Bei Capote nach Beständigkeit im Krieg (sie will dem brasilianischen Diplomaten José nachreisen, um ihre Verstrickungen ins organisierte Verbrechen hinter sich zu lassen), bei Edwards nach Luxus und Flucht vor der eigenen Verantwortung. Das Schmuckunternehmen “Tiffany’s” steht bei Capote für dauerhafte Werte, auch in gefährlichen Zeiten, bei Edwards eher für Kritik an einer oberflächlichen Konsumgesellschaft, in der Besitz und Eigentum weniger zählt als individuelle Freiheit, was sich auch in einigen Diebstahl-Aktionen äußert. Umso bedenklicher und eigenwilliger, wie Paul im Buch die konservativen Werte der Liebesbeziehung als Hort der Sicherheit überbetont und die umtriebige Holly davon überzeugt. Capotes Ich-Erzähler war stets der teilnehmende Beobachter, der gute Freund, der Holly zum Flughafen bringt zu ihrem Flug nach Brasilien und schließlich aus den Augen verliert. Paul in der Verfilmung ist der unmittelbar Beteiligte, liebt Holly, gewinnt sie für sich für ein befriedigendes Happy End im kitschigen Stadtregen. Dort abgründiges Familien- und Psychodrama, hier romantische Liebeskomödie. Diese Genrezuschreibung des Films äußert sich insbesondere sowohl in dem als aufbrausende Witzfigur auftretenden Mr. Yunioshi (Mickey Rooney) als auch der grotesk überhöhten Partyszenerie mit brennenden Kopfbedeckungen und einem knutschenden Pärchen hinterm Duschvorhang.

Wie so oft wurden auch bei dieser Verfilmung einige Episoden aus dem Buch weggelassen oder abgeändert. Neben einer Verknappung des Films, welche sich auch in Dialogen wie um die Flucht Hollys, der nicht im Krankenhaus, sondern im Taxi stattfindet, äußert, fehlen einige Facetten ihrer Charakterzeichnung ganz. Von einer “kapriziös ungeschickten Kindergartenschrift” (S. 33) und einer sexuellen Dimension wie dem Einwickeln der Männer mit Baseball und Pferden (S. 44) erfährt man ebenso wenig wie von einer biestigen Gemeinheit eines stotternden weiblichen Partygasts gegenüber (S. 52/53) oder von einem Streit über die schöngeistige, aber brotlose Kunst des Ich-Erzählers (S. 72/73). Bei Blake Edwards fehlen Holly die Widerhaken, die nicht ganz in das Bild der auf dem Fensterbrett “Moon River” trällernden, verträumt dreinschauenden Rehaugen-Schönheit passen. Wenn Blake Edwards’ Film letztlich trotz der tiefsinnigen Vorlage nicht mehr ist als eine von Hollywoods klassischsten Liebesgeschichten, dann hat sich doch zumindest diese magische Szene ins kollektive Bewusstsein des Cineasten unsterblich eingebrannt.

Die Seitenzahlen und Zitate beziehen sich auf die 2009 im Goldmann-Verlag erschienene Übersetzung von Heidi Zerning.
Die zuletzt beschriebene Szene umMoon River“:

[youtube]http://www.youtube.com/watch?v=BOByH_iOn88[/youtube]

Kontrapunkt: Direct-to-DVD-Horror

Pfingsten ermöglichte es mir, mich bei Horrorfilmen fürs Heimkino auf den neuesten Stand zu bringen. Viel verpasst hätte ich bei den folgenden Genrevertretern allerdings nicht.

Die Meute (F/B 2010)

Dass Froschfresser potenziell glaubwürdige Degenerierte abgeben, war wahrscheinlich die Ausgangsidee dieses französisches Backwood-Slashers, welcher nur allzu sehr bei den US-Vorbildern abkupfert. Eine junge Frau auf der Flucht (wovor eigentlich?), die ganz im Mitchum-Stil „Hate“ auf ihre Fingerknöchel tätowiert hat, gerät an einen „Hitcher“ im sympathischen Schafspelz, der sie in das Gasthaus „La Spack“ lockt. Dort angekommen wird sie von der groben Besitzerin überwältigt und fertig gemacht, um merkwürdige Gruben-Zombies mit ihrem Blut und ihrem Körper zu „verpflegen“. Hirnrissige Elemente wie eine Biker-Gang mit schwulen Neigungen, die Alles und Jeden arschvergewaltigen will, besagte an „The Descent“ erinnernde Grubenviecher (woher kommen die eigentlich genau?) und ein deppertes, pointenloses Ende zeugen von einem kruden Mix aus gewolltem, subversiven Sarkasmus und abgeschmackter Dummdreistigkeit. „Die Meute“ stellt im ansonsten ansehbaren Kanon der „Neuen französischen Horrorwelle“ mit konsequenten Überkonstruiertheiten und Spannungslosigkeit den Bodensatz dar.
Ab 16. Juni im Handel!

Hatchet (USA 2006)

„Jason“-Stuntman Kane Hodder unterm Gummikostüm des Killers und „Candyman“ Tony Todd als kostümierter, ironisierender Angstprediger! Ultrabrutale Morde, bei denen die abgerissenen Gliedmaßen so vom Himmel regnen, wie sonst nur die obligatorischen Blutfontänen! Und: Titten – nicht wenige! „Hatchet“ klingt bis hierhin ziemlich lustig, verspielt jedoch sein durchaus vorhandenes Potenzial bei der nur allzu bekannten Storyline um die mörderische Rache eines missgebildeten Kindes. Zu viel Leerlauf (selten so eine langweilige Sumpfkreuzfahrt gesehen!) und ein suboptimaler Spannungsaufbau sorgen neben den pubertären Sticheleien der Flachcharaktere für Langeweile. Das Budget war sichtlich schmal, aber deswegen auf sämtliche Logik zu verzichten und überdeutlich bei „Freitag der 13.” abzukupfern, war die falsche Entscheidung. Zudem das Prädikat „Kult“ dort hauptsächlich durch eine Fanbase zustandekam, die etliche Fortsetzungen ermöglichte. Tumber Slasher mit wenigen gekrösebedingten Euphorieerlebnissen.

The Descent 2 – Die Jagd geht weiter (GB 2009)

Nein, das Ende von Teil 1 war doch kein Traum: Sarah (Shauna Macdonald) ist die Flucht vor den Höhlenmutanten gelungen, aber sie kann sich nicht mehr an die Geschehnisse erinnern. Ein Rettungsteam mit ihr als Führerin begibt sich durch eine alte Mine wieder hinein in das Höhlensystem und macht alsbald auch Bekanntschaft mit den unerwartet blutdürstigen Gesellen in den Tiefen der Erde. Die klaustrophobische Enge und die menschliche Urangst vor der Dunkelheit des ersten Teils werden nur selten spürbar, wenn das Team größtenteils durch riesige Gänge mit gedimmtem Licht stapft. Als hätten die Macher das gewusst, steht hier stattdessen das spannende und blutrünstige Mutantenschlachten im Vordergrund. Neben zahlreichen anderen Bezügen zum ersten Film (die Videokamera und auch die Leichen werden gefunden) wurde auch der Score weitgehend übernommen, der hin und wieder immerhin etwas Beklommenheit auslöst. Nichts desto trotz ist das Regiedebüt vom britischen Cutter Jon Harris (immerhin oscarnominiert für „127 Hours“) ein unnötiges Sequel mit ärgerlichem Cliffhanger für Teil 3.

Kontrapunkt: Charles Bronson und Michael Winner

Eine fruchtbare Zusammenarbeit über einen Zeitraum von 15 Jahren und sechs Filme weisen Charles Bronson und Regisseur Michael Winner vor und trotz ähnlicher Stories und Charaktere gibt es einige Unterschiede.

Kalter Hauch (USA 1972)

Nach „Chatos Land“ inszenierte Michael Winner hier zum zweiten Mal den skrupellosen Outlaw Charles Bronson. Allerdings noch nicht als Vigilant, sondern als eiskalten Profikiller mit Namen Arthur Bishop. Dieser bereitet seine Morde akribisch vor, lässt sie wie Unfälle aussehen. Eines Tages bekommt er Unterstützung von Steve (Jan-Michael Vincent), der schließlich den Auftrag bekommt, Arthur zu töten. Die Inszenierung von Winner wirkt sprunghaft und durch kurze Einstellungslängen verknappt, quetscht viele narrative Ellipsen wie Arthurs Verhältnis zu Frauen und Training/Taktik sowie eine überraschende Pointe in den dramaturgisch wie kameratechnisch (Zooms!!!) etwas holprigen Film, der das Potenzial des Konflikts zwischen den beiden Killern nicht ausschöpft. Inhaltlich lässt sich der erst im letzten Drittel Tempo entwickelnde Killerthriller als Allegorie auf den rechtsfreien Raum im Vietnamkrieg deuten, worauf ich auch in meiner bald beim MANIFEST erscheinenden Kritik hingewiesen habe.

Ein Mann sieht rot (USA 1974)

Der Klassiker des Revenge-Thrillers! Nachdem bei einem Überfall seine Frau stirbt und seine Tochter ein Fall für die Psychiatrie wird, greift der gewissenhafte Architekt und ehemalige Koreakrieg-Sanitäter Paul Kersey (Charles Bronson) notgedrungen selbst zur Waffe. Die Polizei erweist sich als ohnmächtig gegen das Verbrechen in New York. Ein Vigilant, der ganz in Sheriff-Manier für Ordnung in den Straßen sorgt, wird gebraucht. Die sich aufdrängende Western-Analogie wird durch einen Besuch Kerseys im ländlichen Arizona manifestiert, bei dem er Zeuge eines Waffenfetischs unter Viehzüchtern wird. Das Funktionieren des Staatssystems wird infrage gestellt, einer zynischen Moral der notwendigen Repression durch überbordende Waffengewalt, um Ordnung wieder herzustellen, gehuldigt. Diese Verherrlichung der Selbstjustiz ist in Reaktion auf „Watergate“ (die Fehlbarkeit des Staates und Rückbesinnung auf uramerikanische „Tugenden“) ebenso subversiv wie reaktionär, aber solide inszeniert. Insbesondere die nur schwer zu ertragende, drastische Überfall-Szene durch eine Bande von Vergewaltigern und Dieben (Jeff Goldblum in einer seiner frühen Rollen!) bleibt im Gedächtnis haften.

Death Wish 3 – Der Rächer von New York (USA 1985)

Die letzte Zusammenarbeit zwischen Bronson und Winner wärmt die Geschichte von Teil eins wieder auf, ohne ihr abseits von Brutalitäten etwas Nennenswertes hinzuzufügen. Kersey (Charles Bronson) kehrt nach New York zurück, will einem Freund im Kampf gegen eine marodierende Bande unterstützen, doch der stirbt vor seinen Augen, weswegen er und seine Nachbarn in dem heruntergekommenen Viertel Rache schwören. Selten wurden in den ersten fünf Filmminuten so viele Anteile der Filmhandlung schon erzählt wie in „Death Wish 3“, der danach mit einigen Morden, Shoot-Outs, und Prügeleien durchaus zu unterhalten, aber nicht in die Tiefe zu gehen vermag. Einige Male nahezu hektisch geschnitten, fällt die in ihren eruptiven Zügen beinahe exploitativ inszenierte Gewalt, die im actionreichen Finale bürgerkriegsähnlichen Zuständen ähnelt, negativ auf. Ein Vertrag mit Waffenherstellern ist aufgrund Bronsons phallischer Waffe (.475 Wildey Magnum) und der Entstehung unter Reagans Präsidentschaft allzu offensichtlich. Dabei durfte natürlich eine alberne, implementierte Affäre zwischen dem erstaunlich rüstigen Über-60-Jährigen und der kernigen Anwältin nicht fehlen – ein widerlicher, leidenschaftsloser Filmkuss inklusive.

Kontrapunkt: Dokumentationen

Keine fiktive Handlung, nur Tatsachen und Fakten. Hier ohne Konstruktion, ohne suggestive Polemik, dafür mal anekdotenreich, mal fachkundig, mal erschütternd.

Godard trifft Truffaut – Deux de la Vague (F 2010)

Bewegte Zeiten waren das Ende der 50er Jahre, als das französische Kino von den Redakteuren der Cahiers du cinéma, die unter die Filmemacher gingen, reformiert wurde. Ein realistischer Stil sollte her, der sich am italienischen Neorealismus und amerikanischen Genrefilmen orientierte und artifiziellen Literaturverfilmungen eine Absage erteilte. Dafür traten u. a. Francois Truffaut und Jean-Luc Godard mit ihren ideologisch ähnlichen, aber sehr unterschiedlich ausgerichteten Filmen ein. Ein Grund dafür, weswegen sie sich immer weiter voneinander entfremdeten, schließlich zerstritten. Regiedebütant Emmanuel Laurent sammelte fleißig Interviewschnipsel, Filmausschnitte und Schriftdokumente, mit der er dem Zuschauer dieses Stück Film-Geschichte – im doppelten Sinne – näherbringt. Leider gelingt kein Psychogramm der beiden, sondern nur eine zu nüchterne Abhandlung von Fakten ohne neue Erkenntisse. Eine verschenkte Möglichkeit, wie ich auch bei MovieMaze schrieb.
Ab 28. April im Kino.

Schnitte in Raum und Zeit (D 2006)

Mit dem Hinweis, dass „Zehn Miniaturen über Filmmontage“ folgen, wird dieses sehr praxisnahe und informative „Handbuch“ zum Filmschnitt eingeleitet. Neben Hirnforscher Dr. Wolf Singer, der die kognitiven Prozesse, die im Gehirn bei der „Verarbeitung“ eines Films ablaufen, erklärt (man fühlt sich an Arnheims „Gestaltpsychologie des Films“ erinnert), erzählen sechs Cutter anhand ausgewählter Filmbeispiele von ihrer Arbeitsweise und Philosophie. Am beeindruckendsten sind dabei die weisen Ausführungen von Alexander Kluge zur „vertikalen Montage“ und zum Dokumentarfilm, der in seiner Reinform – als „unmittelbare Wirklichkeit“ – schon durch den Dialog zwischen Film und Publikum im Kino nicht existiere. Am anschaulichsten bringt jedoch Elfi Kreiter das subtile Handwerk des Filmschnitts zwischen beabsichtigten Rhythmus und Stimmung nahe, indem sie zwei Schnittversionen von „Stan Rivkin, der letzte der Kopfgeldjäger“ analysierend miteinander vergleicht. Manchmal mit prätentiösen Anklängen („horizontale und vertikale Narrationsebenen kombinieren“-Deleuze-hä?) überwiegt jedoch die von Regisseurin und Cutterin Gabriele Voss leichtfüßig, aber dennoch anspruchsvoll vermittelte Faszination für ein mannigfaltiges Filmhandwerk. Ein Must See für Filmstudenten oder Cinephile!

Unser täglich Gift (F 2011)

Der Untertitel „Wie die Lebensmittelindustrie unser Essen vergiftet“ gibt den explorativen Ansatz der Investigativjournalistin und Regisseurin Marie-Monique Robin vor. Die entlarvenden Fakten, die die Französin uns präsentiert, sind beängstigend. Giftige Pestizidrückstände finden sich in vielen Lebensmitteln. Ob ein neues Produkt oder ein Zusatzstoff in den Handel gelangen darf, prüfen Behörden für Lebensmittelsicherheit wie die EFSA – auf Basis von Studien, die die Industrie selbst in Auftrag gegeben und zum Teil selbst durchgeführt hat. Das allgegenwärtige Süßungsmittel Aspartam verursacht (möglicherweise) Gehirntumore; bestimmte, auch in Lebensmittelverpackungen enthaltene Kunststoffe wirken sich schädlich auf Fortpflanzung und Entwicklung der Nackommen aus. Diese mit wissenschaftlichen Daten und Forschungsergebnissen belegte Reportage ist ebenso alarmierend wie aufrüttelnd, stellt die Ernährungsgewohnheiten der Industrienationen ebenso infrage wie die zweifelhaften Praktiken der Lebensmittelindustrie. Robins Film schockiert mehr als viele Horrorfilme und entlarvt in seiner Nüchternheit so stilsicher, wie es Michael Moore nur selten gelang.
Die DVD von absolutmedien gibt’s seit 11. März im Handel.