Fluchtpunkt (I) – Sterne an den Mützen (H 1968)

„Die Welt ist schlecht, das Leben schön, was ist daran nicht zu verstehn?“ (Der Plan)

(Halb)nackte Soldaten werden durch die russische Steppe gejagt. Schießwütige Soldaten sind hinter ihnen her. Eigentlich hat Csillagosok, katonák (im deutschen Sprachraum originalgetreu als Sterne an den Mützen veröffentlicht, etwas freier übersetzt als „The Red and the White“ im englischen) kaum mehr an Handlung zu bieten. Weißgardisten nehmen irgendwo in der Nähe der Wolga im Jahr 1919 Rotgardisten gefangen und weil eine einfache Exekution nicht genug Lust an der eigenen Macht verspricht, wird den Gefangenen befohlen, sich auszuziehen und zu fliehen. Vorher wird ihnen aber noch mitgeteilt, dass in 15 Minuten die Jagd auf sie beginnt. Nicht dass die Rotgardisten anders handeln würden, sobald sie die Oberhand gewännen, denn nicht Hass oder (konter-)revolutionärer Eifer treibt den allgemeinen Sadismus an, sondern schlicht und einfach die Möglichkeit, die Macht es tun zu können. So beginnt die Jagd in einer verfallenen Palastanlage, die mehr Mythos als Realität ist. Eine verlassene Anlage voller griechisch-römisch anmutender Säulen, mit einer erhabenen russischen Kirche und anderen Bauten, welche Bilder oder nur das Gefühl einer längst vergangene Epoche voll Weisheit, Liebe und Gerechtigkeit im Zuschauer aufkeimen lässt, als ob es eine solche je gegeben hätte. Durch diese Abbildungen von vergangener Erhabenheit laufen Menschen, welche den profansten ihrer Gefühle folgen. Sinnlos demütigen sie sich und ihr Umfeld.

Jancsó Miklós verzichtet bei der Darstellung dieses Reigens fast komplett auf eine Diegese, eine mehr oder weniger abgeschlossene Erzählung. Ständig wechselnde Darsteller laufen durch die unwirklichen Bilder. Je nach Situation versuchen sie den Qualen zu entgehen, deren Hauch sie schon auf sich spüren, oder sie sind es, die ihr Gegenüber malträtieren. Ihr Handeln wird dabei nicht von den Uniformen, in denen sie stecken, bestimmt, sondern durch Willkür. Folglich bleibt unberechenbar, was als Nächstes geschehen wird. Werden die Gefangenen skrupellos getötet, gejagt oder freigelassen oder werden sie einfach nur zu einem Walzertanz in den Wald mitgenommen? Die quasi Auftragsarbeit zum 50jährigen Jubiläum der Oktoberrevolution zeigt keine guten Kommunisten, welche den Weißen menschlich überlegen sind (auch wenn sie tendenziell etwas besser davon kommen). Jancsó verzichtet auf Propaganda. Die Soldaten sind beiderseits verabscheuenswürdig und mitleiderregend. Er wandelt den russischen Bürgerkrieg in ein absurdes Trauerspiel… über den Krieg, die Menschen und die Willkür der Macht. Er entwirft ein absurdes Puzzle, das keinen Sinn ergibt und genau darin seinen Sinn findet. Denn der Fluchtpunkt der Menschen verliert sich im nirgendwo. Die Soldaten flüchten, doch das Ziel der Flucht zerrinnt ihnen immer wieder zwischen den Fingern. Denn egal wohin sie fliehen, nirgends finden sie Ruhe. Folglich ist Sterne an den Mützen nicht nur ein Film gegen den Krieg. Er handelt von Menschen auf der Suche nach Frieden und Freiheit. Doch überall finden sie nur Gewalt und Unterdrückung… entweder als Opfer oder als Täter, denn sobald sie die Macht haben, sind sie nur auf Vergeltung und Machtausübung aus. Die Perspektive des Films wird somit umso hoffnungsloser, denn er verortet das Problem nicht im Krieg, sondern im Menschen.

Doch so hoffnungslos, wie der Blick auf die Handlungen vermuten lässt, ist Sterne an den Mützen nicht, schließlich erzählen die Bilder eine andere Geschichte. Eine Geschichte angefüllt mit Schönheit und voller Geheimnisse. Vor allem die langen, ballettartigen Einstellungen – hier taucht Jancsós Markenzeichen das erste Mal auf – sind das komplette Gegenteil von Realismus. Die dargestellte Welt wird durch diesen sich nicht abwendenden Blick nicht fester, sondern rätselhafter. Schnitte haben meist den Sinn, die Szenerie auszuleuchten… Fragen über das Umfeld erst gar nicht aufkommen zu lassen. Doch statt zu zeigen, wer den Menschen im Bild solche Angst einjagt, auf wen hinter oder neben der Kamera sie schauen, wer dort spricht, was dort passiert, hält die Kamera auf das, was sie uns sehen lassen will. Der Rest bleibt der Phantasie überlassen. Auf diese Weise entsteht nicht nur eine eigenwillige Art von Spannung, sondern auch eine mystische Aufladung der Bilder, welche mehr denn je nicht bleiben können, was sie sind, sondern Rätsel werden, welche durch unsere Vorstellungen gefüllt werden.

Eingeklammert von zwei Trauer erfüllten Bildern über das Schicksal der Menschen (in dem Film) zeigt Jancsó uns gleichmütig eine wunderschöne Welt, die keinen Sinn ergibt … außer wir geben ihr einen. Am originellsten geschieht dies in der Mitte des Films in einem dichten Birkenwald. Wie ein Gefängnis wirkt er, wie eine riesige, nicht enden wollende Ansammlung von Gitterstäben, welche die Menschen gefangen hält. Doch dies wirkt nicht bedrückend, sondern leicht und voll süßer Zärtlichkeit. So zwingen die Weißgardisten einige Krankenschwestern in diesem Wald zu einem Tanz… einen Tanz der Pflegerinnen, welchen sie sich nur anschauen. Am Ende dürfen die Damen gehen und verschwinden genauso in diesem mythischen Gefängnis der Natur, wie der Offizier, welcher es anordnete. Doch was dieser Tanz sollte, dass bleibt sein Geheimnis. Er nimmt es mit in dieses luftige Verlies seiner Seele, welches wir vor uns sehen. Was sich darin befindet, können wir nur erahnen.

Absurde Macht – Die Hoffnungslosen (H 1966) & Die Tage von ’36 (GR 1972)

Zwei Filme, zwei Gefängnisse, keine Protagonisten. Menschen auf der Leinwand gibt es zwar einige, doch keiner schafft es, aus den kalten Zwängen seiner Umgebung auszubrechen, denn in beiden, Filmen & Gefängnissen, herrscht eine kalte, antiindividuelle Absurdität. In dem einen werden die Insassen mit brutalen, undurchsichtigen Spielchen manipuliert und entmenschlicht und in dem anderen ringen Politiker bis zur Lächerlichkeit mit einem unsichtbaren Feind: ihrer eigenen Hilflosigkeit. Der eine Film ist vom Ungarn Jancsó Miklós und der andere vom Griechen Theo Angelopoulos. Beide sind für ihre langen Einstellungen und Plansequenzen berühmt und berüchtigt. Trotzdem haben ihre Filme und Stile nicht viel gemeinsam… außer, dass beide oft die verschiedenen Gesichter der Macht inszeniert haben.

Bei dem einen handelt es sich um Szegénylegények (der deutsche Titel ist je nach Ort und Zeit „Die Hoffnungslosen“ oder „Die Männer in der Todesschanze“, wobei der Erste dem ungarischen Titel mehr entspricht. Im Englischen gibt er sich ähnlich variantenreich. Am bekanntesten ist er wohl als „The Round-Up“). Die Handlung spielt sich irgendwo im Nirgendwo der ungarischen Puszta ab… wahrscheinlich im Jahr 1869. Der revolutionäre Geist von 1848 hat sich verflüchtigt. Die Einzigen, welche den österreich-ungarischen Machthabern Widerstand leisten, sind Verbrecher und Wegelagerer. Um diese zu brechen, gibt es zahlreiche Mittel. Eines wird in Die Hoffnungslosen vorgeführt. Ein labyrinthartiges Gefängnis mit Höfen und zahlreichen Einzelzellen, in denen sich die Gefängnisdirektion arglistige Spielchen mit den Insassen erlaubt. Zum Beispiel gibt es da Gajdar János, der seine Hinrichtung verhindern kann, wenn er jemanden im Gefängnis findet, der mehr Menschen getötet hat als er und diesen ans Messer liefert. Immer verzweifelter und offensichtlicher wird er zum Handlanger der Obrigkeit.

Gajdar ist der Einzige, der annähernd die Züge eines Hauptdarstellers hat, doch Jancsó ist nicht an Einzelschicksalen interessiert, sondern an Strukturen. Folglich bleibt diese Geschichte auch nur Episode in einem Film, der hauptsächlich aus Menschen besteht, die durch ein Gefängnis geführt und vom Handeln der Machthaber verspottet werden. Die Häftlinge werden vor Leichen gestellt und befragt. Keine Antwort, kein Geständnis scheint die Fragesteller zu überraschen. Alles scheint schon bekannt und das Abringen der Beichte scheint nur zur Demütigung der Befragten zu dienen. Darüber hinaus werden sie natürlich gegeneinander ausgespielt. So wird Gajdar, in einem Strudel aus Hoffnung und Verachtung gefangen, genutzt, um Informationen zu sammeln und um seine Mörder als Nächste in diesen Strudel zu ziehen. Doch Informationen sind nur der augenscheinliche Nutzen. Vor allem sind Gajdar und seine Leidensgenossen die Objekte von Spott und Erniedrigung… wie Ertrinkende, die nach dem Strohhalm greifen, der ihnen immer wieder vor der Nase weggezogen wird, werden sie mit diabolischer Hinterlist verlacht. Der Film spiegelt so die Struktur der Unterdrückung. Allein das endlose Führen der Gefangenen durch die Gänge und Höfe des Gefängnisses, durch die Weite der Puszta zum ausgelagerten Verhörraum, lässt ihr Ausgeliefertsein nur umso deutlicher erscheinen.

Stilistisch ist der  Film noch nicht durch die endlosen, ballettartigen Kamerafahrten geprägt, die Jancsó berühmt machten. Trotzdem ist er äußert elegant inszeniert. Allein die wunderschönen, leicht überbelichteten Bilder sind nicht nur ansehnlich, sondern reflektieren auch die Auslieferung, die totale Beleuchtung, die kein Versteck zulässt. Vor allem aber ist Die Hoffnungslosen ein Wunder an Dezenz. Denn der Zuschauer bekommt die Willkür der Macht und das realitätsverzerrende Gefühl der fehlenden Sicherheit der Insassen selbst zu spüren… mit leicht zu übersehenden Mitteln. So hat der Film keinen Score, nur das ständige Zwitschern von Vögeln in einem Land ohne Bäume, ohne Behausungen für Vögel. Wie in der Wüste von „Der englischen Patient“ stimmen Bild und Ton nicht überein, ohne dass es sofort ins Bewusstsein springt. Trotzdem entwickelt es seine Wirkung. Daneben ist es insbesondere der Schnitt, der diese Verzerrung erfahren lässt, der keinerlei Sicherheit in der Zeiterfahrung zulässt. Nach manchen Schnitten können Sekunden vergangen sein oder Stunden, vielleicht auch Tage. Mit Sicherheit kann man es nicht sagen. Noch nicht einmal ob tatsächlich diese Brüche in der Kontinuität stattfanden. Verwirrt ist man trotzdem. Verwirrt und der Macht der Bilder ausgeliefert.

Bei dem zweiten Film handelt es sich um ????? ??? ’36 („Die Tage von ’36“). Den Auftakt bildet ein Attentat auf einen Politiker. Ein ehemaliger Drogenschmuggler und Polizeiinformant wird daraufhin verhaftet und in ein Gefängnis gesteckt. Doch auf ausdrücklichen Wunsch des Premierministers kommt er dort in keine Zelle, sondern in ein relativ luxuriöses Zimmer. Als der Minister seinen Schützling in der Vollzugsanstalt besucht, zieht der Häftling eine Pistole und versucht seine Freilassung zu erpressen. Regierung wie Gefängnisdirektion wollen und vor allem können sich nicht erpressen lassen, weil die Opposition nur auf Schwächen lauert. Sie sind dazu verdammt, den Premierminister retten zu müssen. Doch je länger die Befreiung auf sich warten lässt, desto mehr entgleitet ihnen die Situation.

Auch Die Tage von ’36 hat keine Filmmusik und lange, bewegte Einstellungen, doch Angelopoulos‘ Stil ist mehr durch eine spröde Bildsprache als durch die verschnörkelte Schönheit Jancsós gekennzeichnet. Die Geschichte des Films muss sich der Zuschauer aus den wenigen Gesprächen erkämpfen. Mit quälend langen Einstellungen zeigt er Menschen, die sich hinter Fassaden aus Pomp verstecken, der durch Angelopoulos‘ Kamera wie die Ausstattung einer Schulaufführung aussieht. Er zeigt Menschen, die denken, dass sie bedeutende oder listige Dinge tun, doch sie gleichen hilflosen Hamstern in einem Laufrad. Allein der Bruder des Häftlings, der versucht, in einem geschlossenen Gefängnishof vor den Wärtern davon zu laufen, verdeutlicht diese klägliche Machtlosigkeit. Immer eine riesige Wand hinter sich, wirkt sein Fluchtversuch nur albern und lächerlich. Doch er ist nur einer von vielen.

Aus dieser Hilflosigkeit gewinnt der Film nun seine Anmut. Denn hinter den hyperrealistischen, kargen Bildern mit der brutal untererzählten Geschichte steckt eine Komödie, eine Groteske…  so offensichtlich wie eine Gefühlsregung auf Steven Seagals Gesicht. Hat man es aber erst einmal verstanden, kommt man aus dem Lachen nicht mehr raus. Dann geht es dem Zuschauer wie dem Politiker im Film, der die ganze Zeit betrübt nach unten guckt und nichts sagt. Als Offiziere und Politiker todernst die Befreiung des Ministers planen, verfällt er plötzlich in einen Lachkrampf. Er erträgt die Lächerlichkeit dieses kläglichen Ernstes nicht mehr und muss den Raum unter ungläubigen Blicken verlassen. Was Die Tage von ’36 nun auszeichnet, ist genau dies, die Fassaden der Macht mit der Ernsthaftigkeit zu zeigen, mit der sie sich selbst wahrnimmt, aber gleichzeitig legt er die Hilflosigkeit dahinter bloß. Und hat man sich erst einmal darauf eingelassen, fallen einem auch plötzlich die teilweise comic-artigen Schnitte und der Witz auf, der fast schon an Monty Python erinnert. So zeigt Angelopoulos auf eindrückliche Weise einen Staat, der am Rande des Verfalls steht, und dadurch nicht nur Griechenland in den Tagen von 1936.

Aktion – Das Schlitzohr und der Bulle (I 1976) & Nur 48 Stunden (USA 1982)

Das Original und sein Remake. Als Walter Hills Nur 48 Stunden 1982 in die Kinos kam, wussten wohl nur die Wenigsten, dass er seine Grundidee bei einem billigen italienischen Polizeifilm (Das Schlitzohr und der Bulle) abgeschaut hatte. Beide handeln von einem Polizisten, der einen Verbrecher stellen muss, keine Zeit dafür hat und deshalb einen inhaftierten Delinquenten aus dem Knast holt. Das war es dann aber auch an Gemeinsamkeiten. Der Plot und die Umsetzung liegen Meilen auseinander. Jeder der Regisseure wäre wahrscheinlich auch gar nicht in der Lage, Filme zu machen, welche dem anderen ähneln. Gerade aber ein Vergleich bringt die Eigenheiten der beiden Filme nur deutlicher hervor.

Jeder, der Umberto Lenzis Werk kennt, weiß, dass es immer zweifelhafter Natur ist, sich seinen Filmen über die Handlung zu nähern, aber Pro forma hier der Inhalt von Das Schlitzohr und der Bulle: Die Gangsterbande um den skrupellosen Brescanelli, dargestellt vom ewigen Zweitklassemafioso Henry Silva (als das, was er am besten kann: einen zweitklassigen Mafioso), entführt ein Kind. Die Nieren des Kindes sind aber nicht mehr intakt, weshalb es dringend eine Dialyse braucht. Die Uhr tickt. Kommisar Antonio Sarti holt deshalb den Ganoven Sergio Marazzi (Tomas Milian) aus dem Gefängnis, weil er keine Lösung diesseits der Legalität sieht. Mit anderen Gefährten Marazzis schießen und foltern sie sich in die Nähe Brescanellis… nur um immer wieder in Sackgassen zu landen.

Doch das eben Wiedergegebene ist nur so etwas wie das grobe Tau, welcher den Film notdürftig zusammenhält. Denn was Das Schlitzohr und der Bulle vor allem ausmacht, ist Aktion. So etwas wie einen Plot kennen Umberto Lenzi und sein Mitautor Dardano Sacchetti offensichtlich nicht. Zumindest kümmern sie sich nicht darum. Man kann nicht mal davon sprechen, dass Tomas Milian der Hauptdarsteller wäre. Dafür müsste es einen Mittelpunkt der Handlung geben. Der Film ist nur Spektakel. Eine Aneinanderreihung  von Szenen, die durch ihre Gewalt, ihren Witz, durch ihre Aktionen bestimmt sind. Das alles am Ende doch noch zu so etwas wie eine Geschichte zusammenfällt – man muss unweigerlich an Mikado denken – ist wahrscheinlich nur Lenzis Zugeständnis an die Produzenten und den Zuschauer. Interessieren tut es ihn nicht. Monnezza kommt aus dem Knast frei: Doch warum gerade er? Wie ist dieser Schritt innerhalb der Jurisdiktion legitimierbar? Wen interessiert das? Lenzi nicht. Der Zuschauer bekommt die Umstände hingeworfen und er muss fressen… oder sterben. Denn der Film möchte nicht erklären, viel lieber zeigt er uns menschliche Gefühle, aufs atavistischste reduziert in einem Kaleidoskop der Coolness… und wenn jemand das kann, dann seine Merkwürden Umberto Lenzi.

Im Gegensatz dazu nimmt einen Nur 48 Stunden schon mit den ersten Bildern in den Arm. Es ist als ob Onkel Walter Hill uns beiseite nimmt, um uns eine gute, alte Geschichte zu erzählen. Die Geschichte von Jack Cates (Nick Nolte) und dessen Jagd auf den entflohenen Häftling Albert Ganz (James Remar). Letzterer hat auf der Flucht Cates Dienstwaffe entwendet und zwei Polizisten brutalst getötet. Ersterer ist folglich ziemlich sauer, motiviert und ungeduldig, weshalb er einen alten Geschäftspartner von Ganz aus dem Gefängnis holt, damit dieser ihm helfe. Dabei handelt es sich um Reggie Hammond (Eddie Murphy), der selbst höchst unerfreut über die erfolgte Flucht ist. Schließlich hat er nun einen Konkurrenten um die zusammen entwendeten 500.000$, welche in Hammonds Auto auf einen der beiden warten.

Wie gesagt ist Walter Hill dabei ein Geschichtenerzähler alter Schule, der mit Nur 48 Stunden eine mindestens 20 Jahre haltende Welle an Buddy-Cop-Movies losschlug. Natürlich gibt es auch Lücken in seinem Film, so erklärt er auch nicht näher, wieso gerade Hammond für Cates so wichtig ist, dass er ihn mehr oder weniger illegal aus dem Knast holt. Doch das sind nur Kleinigkeiten, welche einem in der sich straf abspulenden Dramaturgie kaum auffallen. Die Folge ist ein teilweise sehr eleganter Film – man denke nur an die Plansequenz im Polizeirevier zu Beginn – dierzu jeder Zeit das richtige Maß aus Geschichte, Action und Witz findet. Das Ganze ist somit nicht einfach nur viel nachvollziehbarer, sondern es ist auch viel nachvollziehbarer ein guter Unterhaltungsfilm… im Gegensatz zu seinem italienischen Pendant… aber eben auch viel sicherer und weniger gefährlich.

Der qualitativ wichtigste Unterschied der beiden Filme heißt aber Eddie Murphy. Aus heutiger Sicht ist es kaum zu glauben, aber es gab Zeiten, als er über Charisma und Witz verfügte und zu Recht seine Filmkarriere mit diesem Film durchstarten lies. Schon sein Lispeln, das an kleine Kinder erinnert, gibt ihm etwas schelmenhaftes, eine Aura, die ihm leicht verzeihen lässt und ihn grundsympathisch macht … dasselbe Lispeln, wie es auch Mike Tyson mit sich führt, durch welches man gerne mal vergisst, was er in seinem Leben schon angestellt hat. Jedenfalls ist alleine die Szene, in der Eddie Murphy wie eine Naturgewalt durch eine Bar voll Rednecks zieht, Grund genug, den Film gesehen zu haben. Gleichzeitig bedrohlich und urkomisch nutzt er das ausgelassene Aufeinanderprallen der Klischeewelten (zurückgebliebene, rassistische Hinterwäldler vs. schwarze, eloquente Revange), um sich und seine Rolle in den Köpfen der Zuschauer zu verewigen (“Let’s see with what we can fuck next”). Im Gegensatz dazu bietet Das Schlitzohr und der Bulle nur die Clownerie von Tomas Milian. Dessen Naivität und Kläglichkeit beim Versuch, witzig zu sein, schlägt nur den letzten Nagel in den Sleaze-Sarg. Mit allem Respekt.

Geometrie der Oberfläche – Der kleine Soldat (F 1960) & The Face of Another (J 1966)

Film ist eine Kunst der Oberfläche, hört man immer mal wieder. Man sieht Gesichter, deren Gedanken man nur erahnen kann, Häuser, die nur eine Vorderfront haben, und zweidimensionale Bildausschnitte, die ohne Tiefe auf eine Leinwand projiziert werden. All das, was man zu sehen bekommt, verbirgt etwas tiefer Greifendes. Die mal spannenden, mal lächerlichen Erzähler, die durch manche Filme geistern, machen es nur deutlicher. Wenn sie etwa erzählen, was eine Figur fühlt und denkt, geben sie nur Schlagworte wieder, welche die Unergründlichkeit hinter den Gesichtern zu eindimensionalen  Sicherheiten zusammenfassen… Oberflächen.

Die Silhouetten der Häuser vor dem Sternenhimmel haben für mich immer etwas Ergreifendes… gleichzeitig hart und voller Geheimnisse sehen sie aus, so wie Menschen und das, was hinter ihnen steht.

Godard hat sich sein Leben lang mit dieser Oberflächlichkeit beschäftigt. Mal explizit, mal ganz dezent. Der kleine Soldat stellt dabei keine Ausnahme dar. Es ist der Film über Bruno Forestier (Michel Subor), der vor seiner Wehrpflicht im Algerienkrieg in die Schweiz geflohen ist und dort für die rechte OAS als Gelegenheitsagent arbeitet. Er bekommt Zweifel, doch mit der drohenden Abschiebung wird er erpresst den linken Radiomoderator Palivoda zu ermorden. Gleichzeitig lernt er das dänische Fotomodell Veronika Dreyer (Anna Karina in ihrer ersten Rolle für Godard) kennen, welche dem FLN nahe steht. Er verliebt sich in sie und möchte mit ihr vor den beiden außer Kontrolle geratenen Seiten fliehen.
Aufgrund seiner politischen Brisanz wurde Der kleine Soldat drei Jahre lang in Frankreich nicht aufgeführt und konnte erst 1963 veröffentlicht werden, zu einer Zeit als Godard sich schon wieder deutlich weiterentwickelt hat.  Es ist ein Frühwerk und man merkt es… besonders wenn man die Filmkritiken von Godard in den „Cahiers du Cinéma“ kennt. Bruno als Erzähler spricht jeder Zeit wie Godard in seinen Artikeln… man kann es geschwätzig nennen. Alles und jeden bringt er mit Literatur, Malerei oder Film in Verbindung. So sagt er Dinge wie: „Das Dunkelblau des Himmels hat mich an das Bild von Paul Klee erinnert“ oder „Wie hieß das in dem Gedicht von Aragon: ‘Mai ohne Schmerz und Juli erdolcht.’“… wie sein Regisseur, der selbst in schwarz-weißen Filmen das Licht Auguste Renoirs erkennen konnte.

Wenn man ein Gesicht fotografiert, dann fotografiert man die Seele dahinter.

Neben diesen Offensichtlichkeiten (Politik, Liebe, Kunst) hat der Film noch einen anderen Gegenstand: die Oberfläche. Den ganzen Film lang werden kurze Aphorismen eingebaut, die um dieses Thema kreisen. Bei Brunos finalen Monolog über Idealismus, Ethik und weiblichen Selbstmord erzählt er zum Beispiel mit stoischem Gesicht, das er an einen Wald in Deutschland denkt, einen Fahrradausflug oder Barcelona. Und er erzählt, dass es anhand seines Gesichtes unmöglich ist, diese Gedanken auch nur zu erahnen. Man kann nicht einmal mit Sicherheit wissen, ob er wirklich an einen Wald in Deutschland dachte.

Woran denken sie jetzt? In diesem Augenblick?

Der Film ist fahrig und Godard sucht noch sichtlich nach seinem Stil (im Vergleich zu „Außer Atem“ ist es sogar ein Rückschritt), doch es gibt Szenen mit denen er sein Können mehr als nur andeutet und den Film vor der drohenden Belanglosigkeit bewahrt. Vor allem diejenige, in der Bruno vom FLN gefoltert wird, stellt Godards überbordenden Wahnwitz zur Schau, wenn er weniger den Erzähler als seinen Kameramann Raoul Coutard für sich reden lässt.

Die Sequenz beginnt damit, dass Bruno orientierungslos in eine Wohnung geschleppt und ausgefragt wird. Da er nichts sagt, wird er gefoltert. Zu Beginn seines Aufenthalts in der Wohnung und gegen Ende wird immer wieder zu einer Häuserfront geschnitten, die von der Kamera abgefahren wird. Zuerst scheint es wie ein verspäteter Establishing Shot, der vergehende Zeit anzeigen soll, oder einen Wegschauen vor der Gewalt. Doch die stetige Wiederkehr dieser Einstellungen und ständige Bewegung der Kamera über immer andere Teile des Gebäudes deuten eine andere Möglichkeit an. Die Fahrten sind suchende Blicke, die die kalten, nichtssagenden Fassaden nach einem Hinweis absuchen, an welchem Ort die Folter stattfindet. Hinter welcher dieser unbeteiligt, gleich aussehenden Fenstern Bruno sich aufhält, hinter welchen Mauern sich all diese unsagbaren Gräueltaten zutragen. Es ist wie die Fahrt über das Gesicht von John Wayne Gacy, um irgendwo einen Anhaltspunkt über den Wahnsinn zu finden, der sich hinter dem völlig normal aussehenden Äußeren verbirgt. Die Fahrt der Kamera findet aber nur Verzweiflung anhand der Unmöglichkeit, einen Unterschied machen zu können. Diese Sequenz wird dann mit einem der witzigsten und verwirrendsten optischen Witze der Filmgeschichte aufgelöst, die den Zusammenhang zwischen Gezeigtem, Gesagten und Geschehenden total dekonstruiert… doch schauet selbst. Fest steht jedenfalls, das Coutard die Seele hinter der Oberfläche nicht fotografieren konnte. Doch das Problem hat auch eine andere Seite.

Es ist komisch, wenn ich mein Gesicht so betrachte… habe ich den Eindruck, dass es nicht der Vorstellung entspricht, die ich mir davon im Inneren gemacht habe. Wie ist ihre Meinung… ist das Äußere wichtiger oder das Innere?

The Face of Another (Tanin no kao) von Teshigahara Hiroshi meditiert im Gegensatz zum kleinen Soldaten fast ausschließlich über das Thema der Oberfläche. Das Gesicht eines Mannes ist bei einem Unfall im Chemielabor weggebrannt worden. Den Wundverband legt er weiterhin an, obwohl es nicht mehr nötig wäre. Er möchte sich vor den Blicken seines Umfeldes schützen. Das vernarbte Gewebe, das mal sein Gesicht war, versteckt er lieber… mit der Folge, dass ihm ein Gesicht fehlt. Er bietet anderen Menschen keine festen Konturen und fühlt sich monströs und aussätzig, weil er das Fenster zu seiner Seele verloren hat. Für ihn steht fest, dass andere Menschen von ihm bestenfalls irritiert sind. Schlussendlich erträgt er sich nur noch im Dunkeln und behandelt jeden in seinem Umfeld mit Hass und Herablassung… bis eines Tages ein Arzt ihm anbietet eine Maske zu erschaffen, welche von einem menschlichen Gesicht nicht zu unterscheiden wäre. Die Möglichkeiten scheinen ihm nun unendlich. Mit dem neuen Aussehen kann er werden, wer er will, machen, was er will… niemand wird etwas auf ihn zurück führen können. Doch zuerst versucht er seine Frau zu verführen, um ihr ihre Untreue gegenüber dem gesichtslosen Ungeheuer, als welches er sich sieht, zu beweisen.

Was sich entspinnt, ist eine eklektische, mitunter wirre Meditation über die Oberflächlichkeit des Menschen und über menschliche Identität… kurz über den Zusammenhang zwischen dem Inneren und dem Äußeren. Im Vergleich zu „Die Frau in den Dünen“ ist dieser aber die Leichtigkeit abhanden gekommen, die Teshigahara bis dahin auszeichnete. Die schrägen Ideen wirken teilweise mehr gewollt als notwendig. So will er zu viel auf einmal und vertraut nicht wie bei seinen Vorgängern auf vage Andeutungen und absurde Kompositionen, sondern formuliert zu sehr die Gedanken seiner Personen in Phrasen aus. Trotzdem schafft es The Face of Another, eine beklemmende, surreale Atmosphäre zu erzeugen, die für die mitunter beliebigen Szenen entschuldigt. Vor allem weil Teshigahara mit zunehmender Laufzeit des Films alle seine Stärken wiederfindet und ein abstruses Universum entwirft, wie es nur ein Japaner erdenken kann. Alleine die Innenausstattung des Labors mit seiner aus Körperteilen bestehenden modernen Kunst und den durchsichtigen Wänden, welche Bilder wie “Der vitruvianische Mensch” von Leonardo da Vinci über die Darsteller  legen, sind Highlights, für die mancher Regisseur sein linkes Auge geben würde. Zudem bricht die Handlung mitunter ab und verfolgt, ohne zu erklären wieso, ein Mädchen mit verbrannter rechter Gesichtshälfte, die zum Beispiel durch eine Irrenanstalt stolpert, während das Ganze mit Reden Hitlers unterlegt ist. Wem das zu wirr klingt, der sollte sowieso nicht unbedingt Filme aus den japanischen Sechziger Jahren schauen

Im Zentrum des Films steht aber die Maske und die Möglichkeit, durch sie Anonymität, Freiheit und Willkür zu  erlangen, da sie die letzten Stränge der Oberfläche zum Inneren kappen soll. Doch schon das Labor des Arztes spricht Bände über diese. Mal ist es hell erleuchtet und die weißen Wände deuten die Unendlichkeit des Raumes an. Die erwähnten Glaswände im Raum mit ihren wissenschaftlichen Ausmessungen des Menschen scheinen den Menschen absolut berechenbar zu machen. Alles deutet darauf, dass den Möglichkeiten der Maske keine Grenzen gesetzt sind. Doch wenn der Hauptdarsteller zweifelt, ist das Labor plötzlich dunkel, erdrückend und die Wände verwandeln sich in ein undurchdringliches Labyrinth, das den Raum durch schneidet. So endet ein Strang der Handlung damit, dass die Frau ihren Mann erkennt. Natürlich hat sie gewusst, mit wem sie die Nacht verbrachte. Denn anders als die Kamera Coutards findet sie Anhaltpunkte, welche vom Äußeren ins Innere führen, da die Oberfläche sich nicht auf das Gesicht beschränkt, sondern auch den Körper, das Handeln, den Charakter, die Art zu Reden usf. einschließt. Doch wie beim “Der kleine Soldat” steht am Ende die Verzweiflung. Die Verzweiflung, weil, aus dem Inneren betrachtet, keine Sicherheit über die Wirkung der Fassade besteht.

Was diese Filme also grob verbindet, ist ihre Untersuchung des Individuums, welches die Außenwelt betrachtet und von dieser betrachtet wird. Beide finden dabei eine Lücke, welche das Innen vom Außen trennt.  Eine unüberbrückbare Lücke, die dem Blick nach außen nur Oberflächen bietet, die ihn von den dahinterstehenden Dingen trennt, sowie eine Oberfläche vor dem eigenen Sein entstehen lässt, welche man nur von innen betrachten kann… wie das Innere einer Maske. Die Äußerlichkeit ist somit der Trennfaden, welcher den Menschen von seiner Außenwelt abschneidet. Sie deutet etwas an, gibt aber nichts mit Sicherheit wieder… und Film ist schlussendlich deshalb eine Kunst der Oberfläche, nicht weil er mehr von Oberflächen gekennzeichnet ist als andere Künste, sondern weil er diese viel natürlicher zur Schau stellen und durchleuchten kann.

Doch eigentlich fasst diese Szene alles zusammen:

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Paranoider Tagtraum – Leben und Sterben lassen (GB 1973)

Der ungarische Gesandte spricht vor den Vereinten Nationen und der Delegierte des United Kingdoms fällt tot um. Nur die weißen Anwesenden schrecken auf. Die Gesandten von San Monique, Honduras und so fort, welche durch ihre schwarze Hautfarbe verbunden sind,  scheinen eher desinteressiert. Nur der Zuschauer sah, dass eine Hand mit eben dieser schwarzen Hautfarbe sich für den Tod verantwortlich zeichnete.

Ein Mann mit weißer Hautfarbe steht alleine vor einem „Fillet of Soul“-Restaurant in New Orleans. Durch seine Hautfarbe sticht er in dem offensichtlich von Schwarzen dominierten Viertel deutlich hervor. Die inzwischen an ihm vorbei schreitende Begräbnisprozession lässt ihn noch fremder erscheinen. Der Trauerzug ist nicht nur durch den demonstrativen Aufmarsch afroamerikanischer Modestile der 30er bis 60er für den englischen Agenten ausgrenzend oder durch den für ihn fremden Duktus von Musik und dem Schreiten der Trauernden, sondern ebenso durch die einfache Existenz der Trauernden. Denn der Mann passt nicht in diese Umgebung, weil er nicht weiss, wessen Tod solchen Schmerz verursacht. Als sich das Messer des Schwarzen neben ihm in seinen Körper bohrt, fragt sich der Zuschauer eigentlich nur, wieso er nicht erkennen konnte, wie fremd und unerwünscht er die ganze Zeit war. Er war von einer Masse Gleichgesinnter umzingelt, deren Schmerz nicht der Tod eines Menschen ist, sondern sein Leben, das Leben des weißen Mannes.

Der dritte weiße Mann, der zu guter Letzt stirbt, befindet sich auf San Monique an einen Pfahl gefesselt. Die Kurve des Klischeegehalts der Morde durch Schwarze steigt steil an, denn er befindet sich in den Klauen eines Voodoopriesters, der ihn während einer Zeremonie mittels einer Schlange tötet. Das ganze Dorf tanzt dazu in Ekstase. Die Ängste vor den afrikanischen Kulturen seit Beginn der Kolonisation Afrikas (atavistische Tänze, wilde Menschenopfer und auch ein Hauch von Kannibalismus)  scheinen wahr geworden zu sein und den Tod dieses weißen Mannes zu fordern.

Was diese drei Szenen verbindet, mit welchen Leben und Sterben lassen beginnt, ist die Etablierung des Grundproblems des folgenden Films: die grundsätzliche Verschiedenheit von afrikanischen/afroamerikanischen und den europäischen/euroamerikanischen Menschen. An diesem Punkt kann man in “Leben und Sterben lassen” einen rassistischen Film sehen, doch zu bewusst werden die kulturellen Unterschiede als Antriebsfeder des Films genutzt. Die ganze Spannung, von der sich “Leben und Sterben lassen” nährt, liegt in der Fremdheit der Kulturen und der daraus entstehenden Angst.

Natürlich ist dieses James Bond-Abenteuer keine anthropologische Studie und schon gar keine Untersuchung der Kulturen der Afroamerikaner oder der Karibik, welche im ganzen Film prominent vorgeführt werden. Vielmehr handelt es sich um die Darstellung eines Blickes auf diese Kulturen durch die Brille der weißen Zivilisation… eines ängstlichen, unverständigen und vor allem nicht parteilosen Blickes. Kurz: alles was wir zu sehen bekommen, ist die paranoide Illusion des zutiefst rassistischen James Bond.

Scorsese/Schrader haben den latenten Rassismus Travis Bickles in “Taxi Driver” durch den Blick der Kamera dargestellt. Die Kamera fährt an bunt gekleideten, schwarzen Zuhältern vorbei, welche hasserfüllt starren. Doch was wir sehen, ist keine Objektivität, sondern das Unbehagen Bickles gegenüber einer gesamten Rasse, welche für ihn nur noch unergründlicher, finsterer Abschaum ist. Der Schwarze Mann ist für ihn keine Kinderschreckfigur mehr, sondern furchterregende Realität.

“Leben und Sterben lassen” funktioniert auf die gleiche Weise. Guy Hamilton zeigt uns keine Realität, sondern den Blick James Bonds auf diese. So schafft er eine überaus gelungene Analyse des rassistischen Verfolgungswahns einer unbedarften Actionfigur. Vielleicht ist diese auch so gelungen, weil die gezeigte Paranoia der Sicht der Urheber entspricht, aber unter der Oberfläche dieses scheinbar naiven Actionabenteuers, das zu den besten der Serie gehört, lauert ein tiefer Abgrund, der den Wahn rassistischer Angst auslotet.

So ist der gesamte Film durchzogen von Motiven einer vereinigten schwarzen Rasse, welche sich autonome Orte der Rebellion geschaffen hat, in denen Weiße unerwünscht und machtlos sind. Nehmen wir nur die Harlem-Sequenzen in dem jeder Schwarze ein Agent von Drogenbaron Mr. Big ist. 007 und die vereinzelten CIA-Agenten finden sich an einem Ort wieder, wo das Leben eines Weißen oder eines Verräters an der eigenen Rasse nicht viel Wert ist. Denn wenn James Bond wieder einmal in einem „Fillet of Soul“-Restaurant durch einen Mechanismus in der Wand verschwindet, interessiert es scheinbar niemanden. Doch hinter dem Desinteresse zeigt sich die Fratze des Wissens um die Beseitigungsmöglichkeiten des weißen Mannes und das stille Gutheißen derselben. Das schlechte Gewissen James Bonds projiziert sich auf die Unterdrückten, welche seiner Meinung nach nur den Feind in ihm sehen können und sich deshalb gegen ihn verschwören. Überall lauern Gegner und Hass.

Die von Klischees gespeiste Angst Bonds führt sogar soweit, dass seine Fantasie einen Voodoozampano, der Touristen unterhält und an dem er kurz vorbei läuft, zur linken Hand des Bösewichts macht. Natürlich ist dieser die offensichtliche Wahl von 007, da er alles verkörpert, was er nicht versteht und was ihm an der Kultur der Schwarzen unangenehm ist. Er ist wild, ungehemmt, fremdartig und machtvoll auf eine atavistische Weise. Bonds Furcht lässt ihn nicht erkennen, wie lächerlich dieser Touristenschreck in Wirklichkeit ist.

Nachdem der MI6-Agent den Heroinhandel aufdeckt, welcher die Tode zu Beginn des Filmes verursachte, bietet sein Kopf ihm schlussendlich eine wahrhaft paranoide Lösung: Einhorn ist Finkle. Er, der überall Verschwörungen und Widersacher sieht, personifiziert alles Böse in einer Person. Der Regierungschef von San Monique und der New Yorker Drogenbaron Mr. Big können nur dieselbe Person sein. Solch ein großes Netz des Antagonismus muss von einem Menschen zusammen gehalten werden, mit dessen Tod, das Netz zu zerstören ist. Doch hier irrt sich James Bond und der Film zeigt es unumwunden auf. Nachdem er alle Schurken getötet hat, sitzt der ominöse Voodoopriester auf der Lokomotive, die Bonds Zug zieht, und lacht dem Zuschauer ins Gesicht… den Schwarzen Mann wird James Bond niemals los, denn er existiert nur in seiner Phantasie und stirbt nur mit seinem Rassismus oder mit ihm.