König des Schmerzes – Freiheit, Repression & Colin Firth in A Single Man & The King’s Speech

Abgesehen vom Hauptdarsteller (Colin Firth), dem Ausführenden Produzenten (Harvey Weinstein) und einer Schnittmenge, was Nominierungen für den Oscar betrifft, haben Tom Fords A Single Man und Tom Hoopers The King’s Speech eigentlich nicht viel gemein. Während der eine mit Hilfe einer ästhetischen Überstilisierung einen Tag im Leben eines homosexuellen Collegeprofessors schildert, verfolgt der andere in trüben Farben den über mehrere Jahre andauernden Kampf eines Prinzen mit seiner eigenen Sprache. Doch in beiden Fällen handelt es sich bei den Figuren um Briten, in beiden Fällen werden sie von Colin Firth gespielt und in beiden Fällen ist ihre Gegenwart wesentlich durch die Traumata der Vergangenheit geprägt.

Einen tiefen Graben zwischen die beiden Filmen zieht allerdings die Charakterentwicklung. A Single Man ist die Geschichte eines Mannes, der in seiner Trauer bis zu Unkenntlichkeit Teil eines ihn unterdrückenden Systems geworden ist und an einem schicksalhaften Tag für einen kurzen Moment daraus ausbricht. The King’s Speech wiederum erzählt von Bertie, der sein ganzes Leben lang zurecht gebogen wurde, um in die Schablone der Monarchie zu passen und diese Wandlung erst als König mit seiner großen Rede bei Kriegseintritt vollendet. Ein Mann und ein repressives System – das ist die Ausgangslage beider Filme. Dabei geht es in erster Linie nicht einmal um die gesellschaftliche Unterdrückung an sich, d.h. um die politische Konnotation, die George Falconer in “A Single Man” sicherlich zu spüren bekommt. Vielmehr ist hier die Psyche der beiden Protagonisten von Interesse, die sich in der Ästhetik und vor allem der mise en scène der Filme niederschlägt und in der Star Persona des Colin Firth ihr Bindeglied erfährt.

Image, Star Persona, Britishness

“The King of Pain” – so lautet der Titel eines Dossiers der Vanity Fair, das anlässlich der Oscars 2011 in der Hollywood Issue der Zeitschrift zu finden ist. Thema ist der britische Schauspieler Colin Firth, zu diesem Zeitpunkt zum zweiten Mal für den Academy Award nominiert. Erleuchtendes sucht man in dem Text vergebens, dafür subsumiert der Titel das über die Jahre aufgebaute Image des Colin Firth nahezu perfekt. Unter Star Image, das sei angemerkt, wird Richard Dyer* folgend der Star als media text verstanden, konstruiert mit Hilfe der Attribute, welche in erster Linie die Filme bieten. Nicht Colin Firth, die Person, ist in diesem Fall relevant, sondern Colin Firth, der Star, ein gewissermaßen immaterielles Wesen, das in den Köpfen der Zuschauer und auf der Leinwand existiert. “König des Schmerzes” ist deswegen eine so treffende Umschreibung dieser Persona, weil es im Grunde die Antithese zur quintessential britishness bildet, die mit Colin Firths Figuren und so auch mit seinem Image häufig assoziiert wird. Es ist das Klischee des Gentlemans, welches von “Pride & Prejudice” über “The Importance of Being Earnest” bis hin zu “Bridget Jones’ Diary” schließlich in einen Mittelklassetraum transferiert wird. Ein diffuses Konglomerat an Symbolen wird damit assoziiert, von denen die stiff upper lip, der viktorianische Stoizismus, womöglich das bekannteste ist. Es ist der äußerliche Sieg von – um mit Austen zu sprechen – Verstand über Gefühl.

A Single Man und The King’s Speech untermauern dieses Image, sie bilden rein ausgehend von den Figuren keine Abweichung von dem Rollentypus, durch den Colin Firth berühmt geworden ist. Sie widersprechen  dem Image nicht, das ihn bei einer Umfrage kürzlich auf Nummer 1 der idealsten Celebrity-Nachbarn katapultiert hat. Eine Liste, auf der ein nicht weniger bekannter Schauspieler mit einem undeutlicheren Image wie etwa Anthony Hopkins wohl niemals Platz nehmen wird. Von “A Single Man” und “The King’s Speech” lassen sich motivische Parallelen quer durch die Filmografie Firths ziehen. Das reicht vom Weltkriegsveteran, der in A Month in the Country (1987)  mit seelischen Narben und einem Stottern aus dem Krieg heimkehrt, zum traumatisierten Soldaten aus dem Falklandkrieg in Tumbledown (1988) , über den vom Verlust seelisch malträtierten Ben in Trauma (2004) und schließlich zu einem weiteren innerlich verwundeten Weltkriegsveteran in Easy Virtue (2008). Anders als viele Feuilletonisten uns seit den Oscar glauben machen wollen, ist es nicht die Vielseitigkeit, die Colin Firths Spiel ausmacht, sondern die Ausleuchtung, Aushölung und Umdeutung ein und desselben Klischees in einer Vielzahl von Filmen. Es ist die Entlarvung der Britishness als Fassade und mit ihr der sagenumwobenen Stiff Upper Lip mit von Traumata zerfressenen Figuren, die ihren persönlichen Schmerz und manchmal den ganzen Schmerz der Geschichte zu bewältigen suchen. Insbesondere The King’s Speech stellt sich bei genauerer Betrachtung als Dekonstruktion dieses Mythos der britischen Oberschicht heraus und Colin Firth ist ihr Gefäß.Räume der Seele – Mise en Scène in The King’s Speech

“The King’s Speech” wird häufig als konventionelles Kostümdrama in der Tradition der Merchant Ivory-Filme abgetan. Eine Einschätzung, die vielleicht mehr mit dem Oscar-Erfolg des Films zu tun hat, als mit seiner tatsächlichen Inszenierung. Mit einem relativ geringen Budget ausgestattet, verzichtet “The King’s Speech” über weite Strecken auf die glamourösen Landhäuser des Adels und spielt sich stattdessen im zumeist vom Nebel** erstickten London der 30er ab. Unter der Regie von Tom Hooper ereifert sich The King’s Speech nicht daran, den Prunk einer Monarchie darzustellen. Vielmehr erscheint das Königshaus mit seiner kontrastreichen Lichtsetzung wie ein düsteres, klaustrophobisch anmutendes Gefängnis, so dass es nicht einmal der Geschichten Berties über seine grausame Nanny bedarf, um Schlussfolgerungen zu ziehen, wo das Stottern seinen Ursprung hat. In diesem Sinne ist Tom Hooper weitaus radikaler in der Bildgestaltung als etwa James Ivory, der in “Was vom Tage übrig blieb” mit der Klassengesellschaft und dem Problem der Britishness ähnliche Themen streift.

“The King’s Speech” ist ein Weg ins Licht im doppelten Sinne. Er erzählt, wie Bertie aus dem Schatten des Königshauses in die Öffentlichkeit tritt und erstmals wirklich Kontakt zu den unklaren Schemen aufnimmt, die in der Ferne, abseits der Gitter das britische Volk ausmachen. Andererseits gehen wir – ästhetisch gesehen – diesen Weg mit Bertie durch die erdrückenden Weitwinkelaufnahmen dunkler Speisesäle und Versammlungsräume, um am Ende, nach zwei Stunden Laufzeit auf dem Balkon des Buckingham Palace zu landen, durch den das Licht gleißend einfällt, während Bertie und seine Queen die Massen aufmunternd in den Krieg winken. Davor wird das Gebilde “Monarchie” zudem durch Horden anonymer Handlanger denotiert, die nicht nur Bertie umringen. Den erkrankten König George V. ergeht es ähnlich in einer eindrücklichen Szene, in der dieser seine Umwelt nicht mehr erkennt. Wie ein unschuldiges Kind sitzt er da, verwirrt, bar aller Insignien der Macht, ein ängstlicher Mensch, nicht mehr.

Den düsteren Innereien der Monarchie gegenüber steht der zeit- und im Grunde auch raumlose, weil bühnenartige Therapiesaal des Lionel Logue. Tom Hoopers Cadrage platziert Bertie hier meist an den Rand des Bildausschnitts und zwingt ihn in eine erdrückende Flächigkeit, die durch die ebenfalls an Bühnenzubehör erinnernde Wand hinter ihm erzeugt wird. Alle Konzentration und Aufmerksamkeit wird durch den Einsatz des negativen Raums*** in diesen Sequenzen auf den am Rande kauernden Prinzen gelenkt. Diese Einstellungen stehen im starken Kontrast zu den überladenen Weitwinkelaufnahmen der monarchischen Räumlichkeiten der Macht. Erst im Verlauf der Therapie ist Bertie der Erkundung dieser Bühne mächtig und betritt schließlich deren intime Mitte, als er Logue von den Qualen seiner Kindheit erzählt. Der gescheiterte Schauspieler Lionel Logue gibt Bertie sozusagen Lehrstunden, die ihn auf seinen kommenden Beruf vorbereiten. Und er ist erfolgreich. Während Logue und Bertie den ganzen Film über als Antithesen im Schuss-Gegenschuss-Verfahren verhandelt werden, kommt es in der letzten Szene des Films zur Synthese, werden Bertie und Logue im selben Bildausschnitt überblendet. Bertie ist George VI. geworden und er spielt seine Rolle gut.

Architektur und Raum in A Single Man

Im Gegensatz zu “The King’s Speech” fällt die formale Gestaltung von A Single Man weit schneller ins Auge, wahrscheinlich sogar vor der Wahrnehmung irgendwelcher anderer Merkmale des Regiedebüts von Tom Ford. So gut wie alles ist stilisiert in diesem Film, von der Cadrage über den Gestus der Figuren bis hin zur Art und Weise, wie Colin Firth versucht, ein gefrorenes Brot “aufzutauen”. Die Hauptfigur selbst ist jedoch der größte Motor, wenn es um die absolute Kontrolle des äußeren Erscheinungsbildes geht. Deswegen sehen wir ihr zu Beginn zu, wie sie ihren immer gleichen Alltag durchläuft, ihre adrette Berufskleidung richtet und schließlich eine Vielzahl persönlicher Gegenstände auf eine Weise auf dem Schreibtisch anordnet, die selbst Monk zur Glückseligkeit führen würde. George Falconer ist ein Perfektionist aus Notwendigkeit, denn Kontrolle und Ordnung halten ihn gefangen in den Bahnen des gesellschaftlich Akzeptablen. Nur in diesem Gefängnis kann er eine Form von 60er Jahre-Normalität vorgaukeln.

So ist selbst das Haus, das er mit seinem verstorbenen Lebenspartner geteilt hat, zu einem Kerker geworden. Wo Tom Hooper sich für Weitwinkelaufnahmen mit einem Hang zur Fischaugenoptik entscheidet bzw. seinen Helden auf eine Theaterbühne stellt, ist Tom Ford ein Fan von intradiegetischer Rahmung, der Rahmung des Bildes innerhalb eines Frames. Das erratisch designte Wohnhaus, das so ganz und gar nicht in die Vorstadt-Monotonie passen will, ist zur starren Einöde geworden, welche jede der Bewegungen ihres Bewohners noch einmal in einem Frame im Frame einzufangen scheint, wie das obige Bild zeigt, das eigentlich schon einem Zelluloidstreifen gleicht, der sich durch den Vorgarten schlängelt. Geht Tom Hooper den Weg der Totalen und Halb-Totalen, ist Tom Ford der Mann für beklemmende sowie sinnliche Detailaufnahmen. Wenn er seinen Protagonisten nicht gerade in einen Türrahmen, vor einen Spiegel oder zwischen Jalousielamellen zwängt, nimmt er die Welt war, so wie dieser es tut: In Lippen-, Augen- und Haarfragmenten.

Die einzwängende Form der Cadrage begleitet George Falconer zunächst mit auf Arbeit und ins Büro. Einzige Ausnahmen sind der Hörsaal, in dem er vergleichsweise frei (und in einer Totalen) über die Repression von Minderheiten sprechen kann und diverse Erinnerungsstückchen. Ein Abend auf der Couch. Ein Tag am Strand. Letzterer mag in seiner glänzenden schwarz-weiß-Optik wie ein Davidoff-Werbespot wirken. Die unwirtliche Felslandschaft, in der sich das Paar sonnt, die von den Kräften der Natur selbst geformt zu sein scheint, ist dafür das genaue Gegenteil all dessen, was George in seiner posttraumatischen Vorstadtwelt einengt. Sie ist Freiheit und sie wird ihren Widerschein in den Wellen finden, in die George und Kenny gegen Ende des Films rennen werden. “The King’s Speech” ist formal gesehen eine einzige Bewegung vom Dunkel ins Licht, von düsteren Palasttotalen zu einem hell erleuchteten Balkon. Dessen Analogon in A Single Man bleibt fraglos die auffällige Farbpalette, welche Tom Ford zum Tragen bringt. Was anfängt als entsättigtes Leben im Zeichen der Trauer, endet als farbenprächtige Wiederentdeckung der Schönheit, die George Falconer am letzten Tag auf Erden erneut lieben lernt. Gleichzeitig befreit sich dieser George aus den Zwängen der ihn umgebenden Kadrierung, springt in die wilden Wellen und kommt in ein paar entspannten, stark saturierten Aufnahmen mit Kenny in seinem plötzlich gemütlich – wie früher – wirkendendem Eigenheim wieder heraus. So wie er im Laufe des Films seine geschniegelte Häftlingskleidung (lies: den anonymisierenden Anzug) verliert, entlässt ihn auch Tom Fords Kamera in den letzten Minuten aus dem Spannungsfeld der intradiegetischen Rahmungen.

Disziplinierung und Repression

Ein Schauspieler, ein Mann, ein System – das sind die drei Punkte, an denen sich The King’s Speech und A Single Man überschneiden, wenn auch die Zutaten jeweils unterschiedliche Endergebnisse produzieren. Verkürzt gesagt, gliedert sich in dem einen Film ein Mann in ein System ein, in dem anderen bricht einer für wenige Stunden aus. In letzterem schüttelt George Falconer für eine Weile das panoptische Vorstadtleben ab, in dem er seine Trauer begraben hat. Er entschwindet in einer letzten Nacht einer repressiven Gesellschaft, die einen wie ihn nur in der Unsichtbarkeit duldet, und bezahlt dies am Ende mit dem Tod.

In The King’s Speech läuft dagegen eine weitaus komplexere Charakterwandlung durch. Augenscheinlich liefert “The King’s Speech” eine positive Underdog-Story, eine atheistische Erweckungsgeschichte, in der ein Prinz durch den Kontakt mit dem Volk (Lionel Logue) zu einem König wird, um sein Land durch den Krieg zu führen. Gleichzeitig zeugt die Inszenierung von einer Monarchie als repressives System, das die einzelnen Mitglieder durch eine strikte Disziplinierung von Körper und Geist in seine Bahnen lenkt. Die Sprache, immerhin das zentrale Motiv des Films, als Mittel der Aufrechterhaltung von Ordnung und Ausübung von Macht ist ein altbekanntes Thema der Philosophie. Doch abgesehen davon ist gerade auch der Körperdiskurs in “The King’s Speech” ein hilfreiches Mittel, um die Sprachevolution des werdenden Königs in den rechten Kontext zu rücken. Das Stottern des Prinzen ergibt sich in einer Kreisbewegung aus der körperlichen Malträtierung, die er als Kind hat erfahren müssen, um dem Konsens des “Normalen” zu entsprechen. Dies betrifft Berties Umpolung vom Links- zum Rechtshänder (Left. I was punished. Now I use the right.), die Quälereien seiner Nanny und die Begradigung seiner Beine (Bloody agony. Straight legs now.)

“Papa, we’re not a family, we’re a firm”, meint Bertie einmal zu seinem Vater George V. und gibt damit eine passende Charakterisierung des Systems der Monarchie ab, wie es The King’s Speech zeichnet. Natürlich wird der Königsfamilie eine erbauliche Vorbildfunktion in Zeiten des Krieges zugestanden. Abgesehen davon erscheint sie doch in erster Linie wie eine Publicity-Maschine, die sich ziemlich schnell an die modernen Medien gewöhnt hat und nun von Bertie fordert, ins Geschäft einzusteigen. Die Komplexität des Bildes von der Monarchie, welches “The King’s Speech” zu eigen ist, liegt darin begründet, dass Bertie dies, anders als sein Bruder, tatsächlich tut. Er vollzieht den Schritt, eignet sich eine normale Sprechweise an, wird funktionierender Teil des Systems, das ihn zuvor physisch und psychisch traumatisiert hatte. Bertie ergibt sich in Abwandlung von Foucaults Repressionshypothese**** der repressiven Macht der Monarchie und wird erst dadurch zu einem vollwertigen Subjekt. Er bezwingt schließlich seine Ängste, gewinnt einen eigenen Willen, wie in seinem Umgang mit dem Erzbischof von Canterbury zu sehen ist, und entrinnt dem Schicksal seines an Epilepsie verstorbenen Bruders (Died at 13, hidden from view. Too embarrassing for the family.). Vor diesem Hintergrund erscheint das “Happy End” des Films umso vieldeutiger. Die positive Note dieses Endes ist, dass ein König es schafft, sein Volk vor einem aufreibenden Krieg mit unzähligen Opfern etwas Zuversichtlichkeit zu zusprechen. Trotz eines Weges ins Licht ist es ein erstaunlich düsteres Ende für so eine “einfache” Underdog-Story. Düsterer vielleicht noch, als der einsame Tod eines Collegeprofessors, der zum letzten Mal von der Freiheit gekostet hat.


*Vgl. Richard Dyer: Stars. London: British Film Institute, 1998 und Richard Dyer: Heavenly Bodies. Film Stars and Society. London: British Film Institute, 1986

**Der Nebel ist zudem eine clevere Methode, mit der Tom Hooper seinen Film mit Verzicht auf teure Sets gedreht hat, schließlich wird die eventuell störende Moderne im Hintergrund so effizient ausgeblendet.

***Auf die Nutzung des negativen Raums verweist Tom Hooper selbst in einem Interview mit Incontention.com

****vorgebracht in: Michel Foucault: Überwachen und Strafen. Die Geburt des Gefängnisses. Frankfurt am Main: Suhrkamp, Neuauflage 2008

Paranoider Tagtraum – Leben und Sterben lassen (GB 1973)

Der ungarische Gesandte spricht vor den Vereinten Nationen und der Delegierte des United Kingdoms fällt tot um. Nur die weißen Anwesenden schrecken auf. Die Gesandten von San Monique, Honduras und so fort, welche durch ihre schwarze Hautfarbe verbunden sind,  scheinen eher desinteressiert. Nur der Zuschauer sah, dass eine Hand mit eben dieser schwarzen Hautfarbe sich für den Tod verantwortlich zeichnete.

Ein Mann mit weißer Hautfarbe steht alleine vor einem „Fillet of Soul“-Restaurant in New Orleans. Durch seine Hautfarbe sticht er in dem offensichtlich von Schwarzen dominierten Viertel deutlich hervor. Die inzwischen an ihm vorbei schreitende Begräbnisprozession lässt ihn noch fremder erscheinen. Der Trauerzug ist nicht nur durch den demonstrativen Aufmarsch afroamerikanischer Modestile der 30er bis 60er für den englischen Agenten ausgrenzend oder durch den für ihn fremden Duktus von Musik und dem Schreiten der Trauernden, sondern ebenso durch die einfache Existenz der Trauernden. Denn der Mann passt nicht in diese Umgebung, weil er nicht weiss, wessen Tod solchen Schmerz verursacht. Als sich das Messer des Schwarzen neben ihm in seinen Körper bohrt, fragt sich der Zuschauer eigentlich nur, wieso er nicht erkennen konnte, wie fremd und unerwünscht er die ganze Zeit war. Er war von einer Masse Gleichgesinnter umzingelt, deren Schmerz nicht der Tod eines Menschen ist, sondern sein Leben, das Leben des weißen Mannes.

Der dritte weiße Mann, der zu guter Letzt stirbt, befindet sich auf San Monique an einen Pfahl gefesselt. Die Kurve des Klischeegehalts der Morde durch Schwarze steigt steil an, denn er befindet sich in den Klauen eines Voodoopriesters, der ihn während einer Zeremonie mittels einer Schlange tötet. Das ganze Dorf tanzt dazu in Ekstase. Die Ängste vor den afrikanischen Kulturen seit Beginn der Kolonisation Afrikas (atavistische Tänze, wilde Menschenopfer und auch ein Hauch von Kannibalismus)  scheinen wahr geworden zu sein und den Tod dieses weißen Mannes zu fordern.

Was diese drei Szenen verbindet, mit welchen Leben und Sterben lassen beginnt, ist die Etablierung des Grundproblems des folgenden Films: die grundsätzliche Verschiedenheit von afrikanischen/afroamerikanischen und den europäischen/euroamerikanischen Menschen. An diesem Punkt kann man in “Leben und Sterben lassen” einen rassistischen Film sehen, doch zu bewusst werden die kulturellen Unterschiede als Antriebsfeder des Films genutzt. Die ganze Spannung, von der sich “Leben und Sterben lassen” nährt, liegt in der Fremdheit der Kulturen und der daraus entstehenden Angst.

Natürlich ist dieses James Bond-Abenteuer keine anthropologische Studie und schon gar keine Untersuchung der Kulturen der Afroamerikaner oder der Karibik, welche im ganzen Film prominent vorgeführt werden. Vielmehr handelt es sich um die Darstellung eines Blickes auf diese Kulturen durch die Brille der weißen Zivilisation… eines ängstlichen, unverständigen und vor allem nicht parteilosen Blickes. Kurz: alles was wir zu sehen bekommen, ist die paranoide Illusion des zutiefst rassistischen James Bond.

Scorsese/Schrader haben den latenten Rassismus Travis Bickles in “Taxi Driver” durch den Blick der Kamera dargestellt. Die Kamera fährt an bunt gekleideten, schwarzen Zuhältern vorbei, welche hasserfüllt starren. Doch was wir sehen, ist keine Objektivität, sondern das Unbehagen Bickles gegenüber einer gesamten Rasse, welche für ihn nur noch unergründlicher, finsterer Abschaum ist. Der Schwarze Mann ist für ihn keine Kinderschreckfigur mehr, sondern furchterregende Realität.

“Leben und Sterben lassen” funktioniert auf die gleiche Weise. Guy Hamilton zeigt uns keine Realität, sondern den Blick James Bonds auf diese. So schafft er eine überaus gelungene Analyse des rassistischen Verfolgungswahns einer unbedarften Actionfigur. Vielleicht ist diese auch so gelungen, weil die gezeigte Paranoia der Sicht der Urheber entspricht, aber unter der Oberfläche dieses scheinbar naiven Actionabenteuers, das zu den besten der Serie gehört, lauert ein tiefer Abgrund, der den Wahn rassistischer Angst auslotet.

So ist der gesamte Film durchzogen von Motiven einer vereinigten schwarzen Rasse, welche sich autonome Orte der Rebellion geschaffen hat, in denen Weiße unerwünscht und machtlos sind. Nehmen wir nur die Harlem-Sequenzen in dem jeder Schwarze ein Agent von Drogenbaron Mr. Big ist. 007 und die vereinzelten CIA-Agenten finden sich an einem Ort wieder, wo das Leben eines Weißen oder eines Verräters an der eigenen Rasse nicht viel Wert ist. Denn wenn James Bond wieder einmal in einem „Fillet of Soul“-Restaurant durch einen Mechanismus in der Wand verschwindet, interessiert es scheinbar niemanden. Doch hinter dem Desinteresse zeigt sich die Fratze des Wissens um die Beseitigungsmöglichkeiten des weißen Mannes und das stille Gutheißen derselben. Das schlechte Gewissen James Bonds projiziert sich auf die Unterdrückten, welche seiner Meinung nach nur den Feind in ihm sehen können und sich deshalb gegen ihn verschwören. Überall lauern Gegner und Hass.

Die von Klischees gespeiste Angst Bonds führt sogar soweit, dass seine Fantasie einen Voodoozampano, der Touristen unterhält und an dem er kurz vorbei läuft, zur linken Hand des Bösewichts macht. Natürlich ist dieser die offensichtliche Wahl von 007, da er alles verkörpert, was er nicht versteht und was ihm an der Kultur der Schwarzen unangenehm ist. Er ist wild, ungehemmt, fremdartig und machtvoll auf eine atavistische Weise. Bonds Furcht lässt ihn nicht erkennen, wie lächerlich dieser Touristenschreck in Wirklichkeit ist.

Nachdem der MI6-Agent den Heroinhandel aufdeckt, welcher die Tode zu Beginn des Filmes verursachte, bietet sein Kopf ihm schlussendlich eine wahrhaft paranoide Lösung: Einhorn ist Finkle. Er, der überall Verschwörungen und Widersacher sieht, personifiziert alles Böse in einer Person. Der Regierungschef von San Monique und der New Yorker Drogenbaron Mr. Big können nur dieselbe Person sein. Solch ein großes Netz des Antagonismus muss von einem Menschen zusammen gehalten werden, mit dessen Tod, das Netz zu zerstören ist. Doch hier irrt sich James Bond und der Film zeigt es unumwunden auf. Nachdem er alle Schurken getötet hat, sitzt der ominöse Voodoopriester auf der Lokomotive, die Bonds Zug zieht, und lacht dem Zuschauer ins Gesicht… den Schwarzen Mann wird James Bond niemals los, denn er existiert nur in seiner Phantasie und stirbt nur mit seinem Rassismus oder mit ihm.

Gescheiterte Träume Teil 2 – La coquille et le clergyman (F 1927)

Der dritte Film im Bunde der tatsächlich aus dem Kreis der Surrealisten stammenden[1] Filme ist auch der am wenigsten bekannte: La coquille et le clergyman (Die Muschel und der Kleriker). Gedreht wurde er von Germaine Dulac nach einem Drehbuch von Antonin Artaud. Letzterer war mit der Umsetzung seines Drehbuchs nicht zufrieden. Wer es schafft, die 5-6 unfassbar öden Seiten des Drehbuchs zu lesen, wird sich fragen, was Artaud an diesen Film stört. Dulac hat sicher nicht alles perfekt getroffen, aber doch ihr Möglichstes getan, dem Buch gerecht zu werden. Es besteht die Möglichkeit, dass Artaud die Bilder aus seinem Kopf besser hätte umsetzen können. Doch wahrscheinlicher ist, dass er ebenfalls gescheitert wäre, denn was das Gelingen von „Un chien andalou“ so besonders macht, ist im Grunde, dass surrealistische Filme unmöglich sind, jedenfalls so wie sie sich die Pariser Surrealisten (insbesondere Artaud) vorstellten, denn sie wollten Filme und Literatur schaffen, welche die Eindringlichkeit eines Traumes haben sollten.

La coquille et le clergyman hat bessere Ideen als „L’âge d’or“, aber auch jede Menge Leerlauf. Der Film handelt von einem Priester, der Sex mit einer Frau möchte, aber ein General ist immer wieder im Weg. Erzählt wird das natürlich in abstrakten Bildern und Geschichten, wie zu Beginn als der Kleriker eine Flüssigkeit aus einer riesigen Muschel in kleine Reagenzgläser schüttet und diese anschließend wegwirft. Meist geschehen aber zusammenhanglose Dinge, wie der minutenlange Gang des Priesters durch unbestimmte Gänge. Er schwingt bedeutungsvoll einen Schlüssel und schließt Türen auf, aber sonst herrscht Ödnis in der Handlung. Dieser Leere, die keine nachvollziehbare Erklärung anbietet, kann man mit Anstrengung vielleicht interessante Zusammenhänge abringen, aber berührender wird es deshalb auch nicht. An der Eindrücklichkeit eines Traums scheitert der Film kläglich.

Den Grund dafür findet man am einfachsten in ihren Vorstellungen zur Literatur. André Breton, Großwesir des Surrealismus, hat Romane gehasst: „[…] an Dummheit grenzende Klarheit, das Leben von Hunden. Noch im Wirken der besten Köpfe macht sie sich  bemerkbar; das Gesetz der geringsten Anstrengung drängt sich ihnen am Ende auf wie allen anderen auch. Eine belustigende Folge dieses Tatbestandes ist in der Literatur zum Beispiel die Überfülle von Romanen.“[2] Für ihn war der Roman der Agent der Logik, der Realität, der Psychologie und der Kleinlichkeit. Und bei allen seinen nur zu verständlichen Kritikpunkten übersieht er, dass er durch die Ablehnung narrativer Zusammenhänge seinem Ziel Kunst zu schaffen, die eindrücklich wie ein Traum auf Menschen wirken solle, entgegen arbeitet. So haben es die Surrealisten auch nicht verstanden, ihre wirklich großartigen Manifeste in die Tat umzusetzen. Bücher wie „Les champs magnétiques“ (Die magnetischen Felder; von André Breton und Philippe Soupault)  sind unlesbar, da sie nur eine Ansammlung von Sätzen sind. Kafka hat die Verbindung von Traum und Wirklichkeit in seinen Texten greifbarer erreicht, weil er nicht auf die narrativen Zusammenhänge verzichtete, wie Milan Kundera feststellte.[3] Auch die von den Surrealisten so geliebten Fantômas Romane von Pierre Souvestre und Marc Allain sind bessere Beispiele für eine automatische Schreibweise[4] als die ermüdenden Bücher der Surrealisten.

Mit den Filmen verhält es sich auf ähnliche Weise. So schreibt Antonin Artaud: „Man muß nach einem Film suchen mit rein visuellen Situationen, dessen Drama aus einem Schock für die Augen entsteht, aufgenommen, wenn man so sagen darf, in der Substanz des Blickes selbst, ohne Verwurzlung in psychologischen Umschreibungen logischer Art, die nichts sind als ins Visuelle übertragener Text. Es handelt sich nicht darum, in der visuellen Sprache ein Äquivalent für die geschriebene Sprache zu finden, die die Bildersprache nur schlecht übersetzen würde, sondern vielmehr darum, die Essenz der Sprache selbst vergessen zu lassen und die Handlung auf ein Niveau zu verlegen, wo jede Übersetzung unnötig wird und wo diese Handlung fast intuitiv auf das Hirn wirkt.“.[5] Was er vom Film wollte, ist im Grunde eine eigene Realität, die direkt auf den Menschen wirken sollte. Doch Film ist nicht real und der Zuschauer weiß das. Wie das Wort schon sagt, schaut er eben nur zu und besonders bei abstrakten Filmen ist dies der Fall. Es gibt sicherlich gute experimentelle Filme, welche Zuschauer in ihren Sog ziehen können, doch die emotionale Eindrücklichkeit eines narrativen Films werden sie nie erreichen… schon gar nicht den Schock, das Zusammenzucken, welches ein Horrorfilm erreichen kann.

Das Problem ist die Fremdheit der Bilder. Ein Traum, in all seiner Irrealität, hat etwas Natürliches, Vertrautes und gerade deshalb etwas so Einprägsames und  Erschütterndes. Artauds Vorhaben musste scheitern, denn die in seiner Phantasie so mitreißende Essenz der Bilder hat in der Wirklichkeit nur einen ästhetischen Wert. Schönheit, der die Vertrautheit fehlt.

Ein kurzer Blick auf Jean-François Lyotards Theorie vom „Anti-Kino“ macht vielleicht deutlich, warum. Er sah in Zusammenhängen und wiederkehrenden Elementen ein Gefängnis für Bilder, die durch diese ihre innewohnende Kraft verlören. Er wollte ein Kino, das von einem Kind versinnbildlicht wurde, das ein Streichholz abbrennt und die Flamme anstarrt… ohne dass es einen gesellschaftlichen Nutzen oder ein zusammenhängendes Handeln gäbe.[6] Er übersieht, dass Bilder nicht die existentielle Realität einer Flamme haben, da man sich nicht dran verbrennen kann. Die Bilder auf der Leinwand müssen es erst erreichen, dass man sich mit ihnen identifiziert. Diese Kraft haben sie nicht von sich aus.

Artaud erwartete wie Lyotard, dass jegliche gezeigten Bilder existentiell auf den Zuschauer wirken könnten. Deshalb wollte er auch die Essenz der Sprache loswerden. Er wollte keinen Traum erzählen (und jeder kennt das Gefühl der Armseligkeit der Nacherzählung eines Traums, der im eigenen Kopf so reich an Eindrücken ist), sondern ihn zeigen. Er dachte, dass, wenn er traumartige Bilder zeigen würde, diese  auf die Zuschauer wirken würden, wie wenn diese sie selbst erlebten… als ob die Leinwand für den Zuschauer die Realität wäre. Deshalb war Artaud von La coquille et le clergyman in der Version von Germaine Dulac so enttäuscht, weil er einfach nur sich bewegende Bilder sah… die ihn wahrscheinlich auch noch langweilten. Doch statt seine Naivität zu erkennen, schob er die Schuld auf Dulac.

Er wollte nicht wahrhaben, dass narrative Zusammenhänge die Vertrautheit schaffen, die für eine Identifikation mit dem Geschehen nötig sind. Zu sehr hasste er Logik und Psychologie und damit eine nachvollziehbare Geschichte. Doch durch diese entsteht erst eine Welt im Film, wie irrational sie auch ist, die aus dem Zuschauer einen Teilnehmer machen kann. So muss es für Artaud ein Graus gewesen sein, dass im innovationsfeindlichen, geldgierigen Hollywood Filme gemacht wurden, die ihm  nicht gefielen, aber viel eher seine Wünsche erreichten. Wahrscheinlich wäre er schreiend aus dem Kino gerannt, hätte er das Ende von „Die Sehnsucht der Veronika Voss“ gesehen, als die Titelfigur äußert: „Wissen Sie, wie das da drüben heißt? Traumfabrik. Eine Fabrik in der Träume gemacht werden und nicht Geld. Das müssen Sie sich mal vorstellen, dass man Träume machen kann … ganz einfach machen.“


[1] Zumindest wurde der Film 1927 gedreht, was  die Möglichkeit lässt, dass das Drehbuch vor Artaud Rauswurf 1926 durch André Breton geschrieben wurde. Wenn er es danach schrieb, ist das auch nicht weiter schlimm, weil es ja irgendwie zum guten Ton eines wahren Surrealisten gehörte, sich von Breton aus der Gruppe werfen zu lassen.

[2] Breton, André: Erstes Manifest des Surrealismus, in: Karlheinz Barck (Hrsg.): Surrealismus in Paris 1919 -1939, Ein Lesebuch, Leipzig 1990, S. 82-120, S. 88.

[3] Kundera, Milan: Verratene Vermächtnisse, Frankfurt am Main 1996, S. 53.

[4] Das automatische Schreiben war ein Versuch die Tore des Unterbewusstseins zu öffnen, indem man aufschrieb, was aus einem raus sprudelte, ohne dies bewusst zu steuern oder zu überdenken. Laut der wunderbaren Dokumentation „Fantômas – Das grausame Genie“ von Thierry Thomas haben Souvestre und Allain genau dies gemacht … ohne surrealistischen Überbau. Sie schrieben deshalb nicht irgendwas, sondern ordneten ihre Einfälle dem Erzählen einer Geschichte unter. Sie hatten jeweils nur einen Monat Zeit für ihre 300seitigen Bücher, weshalb sie die Kapitel stundenlang diktierten. Nur dem grob miteinander festgelegten Leitfaden des Plots mussten sie dabei folgen. Ihre Ideen wurden deshalb nicht durchdacht, sondern sprudelten nur aus ihnen raus, wodurch man über ihre Geschichten auch zunehmend tiefer in ihr Unterbewusstsein blicken konnte. (Übrigens haben die de Funès Filme mit dem Wahnsinn der Bücher außer dem Namen nichts gemeinsam.)

[5] Artaud, Antonin: Kino und Realität, in: Karlheinz Barck (Hrsg.): Surrealismus in Paris 1919 -1939, Ein Lesebuch, Leipzig 1990, S. 591-594, S. 592.

[6] Lyotard, Jean-François: Das Anti-Kino, in: Liebsch, Dimitri (Hrsg.): Philosophie des Films, Grundlagentexte, Paderborn 2005, S. 85-99.

Gescheiterte Träume Teil 1 – Ein andalusischer Hund (F 1929) & Das goldene Zeitalter (F 1930)

„Diese Nacht träumte ich – nicht von Literatur – diese Nacht träumte ich, daß ich nicht träumte. Und ich behaupte, daß für die Besessensten von uns eigentlich nur fehlende Alpträume wirkliche Alpträume sind. Im Leeren kreisend, könnte unser Geist sich nicht damit abfinden, gar nicht mehr zu kreisen. Und in der Gemeinschaft unserer Gedanken, Zuneigungen und Abneigungen wirkt die Geschichte von diesem Mann fort, der während einer Hungersnot seine Kinder aß, um ihnen den Vater zu erhalten.“,[1] sagte René Crevel in einem der unzähligen Texte, in dem die Surrealisten einzufangen versuchten, was sie denn eigentlich wollten. Und was wollten sie? Alpträume! Träume! Ekstase! Wahnsinn! Absurdität! Witz! Schmerz! Abenteuer! Kurz: alles, nur nicht die Biederkeit des Realismus und des Alltags. Sie wollten aus ihren eingefahrenen Wegen aufgeschreckt werden und sie wollten keine billigen Erklärungen für ihre Handlungen zulassen. Sie wollten mehr Tiefe als der Realismus ihnen aufzwängte.

Albert Camus sagt, dass sie das konkrete Irrationale und den objektiven Zufall wollten.[2] Doch da sollte er etwas genauer sein. Denn sie wollten das Irrationale, aber nicht den Zufall. Der Unterschied zwischen den beiden ist der gleiche wie zwischen jemanden, der auf die Straße geht und blindlings los schießt, und dem Gedicht, dessen Wörter aus einem Hut gezogen werden. Das Eine ist schrecklich, das Andere egal. Es ist aber auch der Unterschied zwischen Un chien andalou und L’âge d’or.

Un chien andalou (Ein andalusischer Hund) entstand aus der Verbindung zweier Träume … einem von Luis Buñuel und einem von Salvador Dalí. Zusammen erarbeiteten sie ein Drehbuch: „Das Drehbuch wurde innerhalb von einer Woche nach einer sehr einfachen Regel geschrieben, für die wir uns in voller Übereinstimmung entschieden hatten: keine Idee, kein Bild zuzulassen, zu dem es eine rationale, psychologische oder kulturelle Erklärung gäbe; die Tore des Irrationalen weit zu öffnen; nur Bilder zuzulassen, die sich aufdrängten, ohne in Erfahrung bringen zu wollen, warum.“[3] Daraus entspross eine wilde Achterbahnfahrt durch das Unterbewusste zweier Träumer. Die 18 Minuten des Films sind angefüllt mit Bildern, die das Fehlen eines rationell nachvollziehbaren Plots nicht weiter schmerzlich machen. Grob geht es um Lust… um einen Mann, der durch ein gewalttätiges Schauspiel (eine Frau spielt mit einer abgetrennten Hand) Lust bekommt… Lust nach einer Frau… Lust, die ihn mit Wahn beherrscht… Lust, die nur von seiner Zivilisation zurückgehalten wird… Lust, die die romantische Liebe als öden Langweiler entlarvt… grob.

Motiv auf Motiv wird aneinandergereiht: das aufgeschlitzte Auge, die Ameisen auf der Hand, der Mund, der aus dem Gesicht des Mannes verschwindet und an dessen Stelle die Achselhaare der Frau treten und so fort. Aber was diesen Film das Wunder eines guten surrealen Films gelingen lässt, ist der Zusammenhang zwischen den Bildern und Motiven, die zwar ambivalent und nicht schlussendlich interpretierbar bleiben, aber nie beliebig sind. Überall ist die Faszination für die wohlige Angst vorm Sex zu spüren. Buñuel, der im Alter froh war, endlich seinen Sexualtrieb los zu sein, war ebenso wie der asexuelle Dalí[4] von diesem Thema beherrscht und sie waren ihr Leben lang davon gezeichnet. Man merkt Herzblut und Besessenheit an jeder Stelle des Films, da beide diese für die Thematik besaßen. So schafften sie es, den Zuschauer tief zu treffen und Un chien andalou weiß auch bis heute mit seinem Reigen des sexuellen Wahnsinns zu fesseln.

Ganz anders L’âge d’or (Das goldene Zeitalter). Laut Buñuel soll es sich bei diesem Film ebenso um die Darstellung einer amour fou handeln, so sagt er zumindest in der Dokumentation „A propósito de Buñuel“. Doch in diesem Wust aus willkürlich zusammengewürfelten Ideen lässt sich keine Stringenz finden. Es scheint, dass Buñuel ein paar antiklerikale, antibürgerliche Ideen übrig hatte, die mal mehr, mal weniger interessant sind. Diese setzte er nach dem Erfolgsmuster von „Un chien andalou“ wieder zusammen, nur dass er erheblich dezenter inszenierte. Durch diese Beliebigkeit im Vortrag fehlt die Dringlichkeit des andalusischen Hundes… vor allem das Gefühl, dass sich die Ideen aufgedrängt hätten, ist sehr selten zu spüren. Vielleicht fehlte ihm die Zusammenarbeit mit Dalí, der nur per Brief einige Motive einreichte und später irgendwie richtig zu Protokoll gab: „Ich wäre willens gewesen, einen hundertmal größeren Skandal auszulösen, aber aus ‘wesentlichen Gründen’ – umstürzlerisch eher aus Übermaß an katholischem Fanatismus als aus naivem Antiklerikalismus.“[5]

Grob geht es um einen Mann, der brutal ist, öffentlich über Frauen herfällt und vielen bürgerlichen Menschen auf verschiedene Weise auf die Nerven geht. Meist geschehen aber Dinge ohne diesen Mann: ein Bauernwagen fährt durch einen Salon, ein Mann erschießt sein Kind, weil es ihm den Tabak aus der Hand schlägt oder es wird offenbart, dass Jesus an den 120 Tagen von Sodom teilgenommen hat. Die Belanglosigkeit wird aber an einem Punkt im Film deutlich, wenn eine Frau sagt, dass es schön ist, die eigenen Kinder zu töten. Das Problem ist, dass man ihr nicht glaubt, denn zu keinem Zeitpunkt weiß der Film, das Gefühl von Aufrichtigkeit zu vermitteln. Sie scheint es nur zu sagen, weil es ein provozierender Satz ist, aber nicht weil es ihr wirklich Spaß machen würde, so einen Satz auch nur zu denken. So ist L’âge d’or wunderlich genug, um in der Stunde Laufzeit nicht  übermäßig zu langweilen, aber auch nicht interessant, schön oder aufregend genug, um Genuss oder Erstaunen hervorzurufen… eben wie Tristan Tzaras Hutgedicht.


[1] Crevel, René: Über die Naivität, in: Karlheinz Barck (Hrsg.): Surrealismus in Paris 1919 -1939, Ein Lesebuch, Leipzig 1990, S. 61-62, S. 61.

[2] Camus, Albert: Der Mensch in der Revolte, Hamburg 1969, S. 115.

[3] Buñuel, Luis: Der letzte Seufzer, Berlin/Köln 2004, S. ? (im Kapitel zu “un chien andalou”).

[4] Hier könnte man so viele bekannte, ermüdende Dinge schreiben, wieso er asexuell war, deshalb nur eine poetische Annäherung: Georges Bataille hat in eben dem Jahr der Veröffentlichung von „Un chien andalou“ Dalís Bild Le jeu lugubre (Das finstere Spiel) als Feier einer/der Kastration interpretiert. So schreibt er: „Die Statue links wiederum personifiziert die ungewöhnliche  Befriedigung, die aus der plötzlichen Kastration bezogen wird […] Die Hand, durch die die Männlichkeit des Kopfes verdeckt wird, ist eine typische Regelverletzung, die für Dalís Malerei typisch ist, wo die Personen, die meist ihren Kopf verloren haben, ihn nur unter der Bedingung wiederfinden, daß sie vor Entsetzen Grimassen schneiden. Daher sei es erlaubt, in allem Ernst zu fragen, wie es um jene steht, die hier zum erstenmal die geistigen Fenster weit aufgehen sehen und die dort ein kastriertes, poetisches Wohlgefallen ansiedeln, wo nichts weiter als die schreiende Notwendigkeit aufscheint, Zuflucht zur Schande zu nehmen.“ (zitiert nach: Descharnes, Robert und Néret, Gilles: Dalí, Das malerische Werk, Köln 2001, S. 143.) Der folgende Bruch von Dalí und den Surrealisten mit Bataille ist wohl nicht darauf zurückzuführen, dass er weit daneben lag.

[5] zitiert nach: Descharnes, Robert und Néret, Gilles: Dalí, Das malerische Werk, Köln 2001, S. 189.

Die Magie der Propaganda – Die Kraniche ziehen (UdSSR 1957) und Soy Cuba (C/UdSSR 1964)

„Hundert Jahre habe ich nichts Ähnliches gesehen“, hat Picasso über Die Kraniche ziehen gesagt. Nicht weniger enthusiastisch äußerte sich Martin Scorsese über Soy Cuba: “Dieser Film stellt alles in den Schatten, was wir heute machen.” Trotzdem sind beide filmgeschichtlich nicht gerade mit Lorbeeren überhäuft worden. Bekam der erste immerhin noch die Goldene Palme in Cannes 1958, war “Soy Cuba” bis zum Ende der Sowjetunion fast unbekannt. An der Kameraarbeit kann es nicht liegen, denn Sergei Urussewskis Klasse wird gerade in diesen beiden Filmen sichtbar. Das Problem ist, dass diese beiden Filme als Propagandafilme wahrgenommen werden. Bei “Die Kraniche ziehen” kann man es am deutlichsten erkennen. Während der Tauwetterphase nach Stalins Tod entstanden, wird meist lobend erwähnt, dass er eine geringere politische Lehrhaftigkeit gegenüber den vorherigen Filmproduktionen besitzt. Was aber zugleich heißt, dass er diese noch hat. Er ist das geringere Übel, das zwar durch die Arbeit von Regisseur Michail Kalatosow und eben Kameramann Urussewski beeindruckt, aber immer noch das Stigma der Lüge und der Manipulation(-sversuche) trägt. Doch schauen wir uns die Filme an. Wird dieses Urteil ihnen gerecht?

Die Kraniche ziehen handelt von Weronika, einem jungen Mädchen, das verliebt und glücklich ist. Doch die Kraniche ziehen über Moskau und der Zweite Weltkrieg bricht aus. Ihr Geliebter Boris zieht freiwillig in den Krieg, während sie in Moskau bleibt. Und genau an diesem Punkt beginnt der Film, die Dimension zu zeigen, die Picasso den Atem raubte. Die Kamera beobachtet nicht, sie dringt tief in Weronika und Boris ein. Sie zeigt dem Zuschauer nichts, sondern lässt ihn am eigenen Leib spüren. Das Bombardement Moskaus, während dessen Boris‘ Bruder Weronika seine Liebe gesteht, ist wie ein wild zuckendes expressionistisches Gemälde. Angst und Verzweiflung sind mit der Hand zu fassen. Weronika entscheidet sich, den Bruder zu heiraten. Nach dem Gesehenen… Gefühlten, ist es nur zu verständlich, dass sie nicht allein sein möchte. Doch der Film geht weiter und sie erlebt im Krieg eine Welt, in der sie jeden Halt verliert. Wilde, zerhackte Bilder am Höhepunkt des Filmes entziehen auch dem Zuschauer das Gefühl von Sicherheit. Der Terror des Krieges auf den Einzelnen und besonders die Verzweiflung Weronikas werden in atemberaubende Bilder gepackt, die einen die Schicksalsschläge im eigenen Nacken fühlen lassen.

Weronika entzieht sich so einer Symbolhaftigkeit, die für Propaganda notwendig ist. Die poetische Kraft der Kamera macht sie zu einem Individuum. Einem Individuum, welches nichts verdeutlicht, sondern den Zuschauer erfahren lässt. Wenn sie am Ende Boris‘ Tod dadurch überwindet, dass sie den heimkehrenden Soldaten die Blumen schenkt, die für ihren Geliebten bestimmt waren oder Hoffnung fühlt durch die Rede eines Soldaten, in der dieser vom angebrochenen Weg in eine bessere Welt kündet, in der täglich gegen den Faschismus und die Unterdrückung gekämpft wird, dann lässt sich Weronika zwar von Propagandaslogans berühren, aber nicht verführen. Nach dem Durchgestanden braucht sie Hoffnung zum Leben und während der an allen Enden zu spürenden Erleichterung hofft sie auch das Unmögliche, nämlich die Sowjetpropaganda. So ziehen am Ende des Films wieder die Kraniche über Moskau, der Krieg ist vorbei. Aber Kraniche kommen wieder.

Soy Cuba funktioniert auf ähnliche Weise, auch wenn das Problem der Propaganda hier etwas komplizierter ist. In vier Episoden wird die Zeit der kubanischen Revolution eingefangen. Ein amerikanischer Freier möchte aus Neugier eine Nacht bei einer Hure zu Hause verbringen und landet in einem elenden Slum. Ein Bauer verliert allen Mut, als er von seinem Pächter erfährt, dass sein Land verkauft wurde und er verschwinden muss. Ein Student möchte einen korrupten Polizisten umbringen, bringt es aber nicht übers Herz, nur um kurz darauf zu sehen, wie eben dieser Polizist einen seiner Freunde umbringt. Ein Bauer verliert einen Sohn im Bombenhagel, den die Armee über seinem Land im Kampf gegen Fidel Castros Rebellen abwirft.

Auch hier ist es die Kamera, die den Zuschauer eine Welt erfahren lässt, die nach Veränderung schreit. Alles scheint aus der Bahn geworfen. Gesichter sind meist schief im Bild. In entrückten Kamerafahrten durch den Rauch und die Düsternis der Casinos verliert der Zuschauer jedes Gefühl für den Raum. Die Realität löst sich auf. Eine manische, zuckende, schreiende Kamera zeigt nicht wie der Bauer aus der zweiten Episode wütend mit einer Machete auf seine Ernte einschlägt… sie beobachtet nicht, sie lässt die Verzweiflung, die tiefe, hoffnungslose Verzweiflung in jedes Bild fließen.

In wunderschönen Bildern wird eine paradiesische Insel gezeigt, deren Palmen und Pflanzen in einem unirdischen Weiß scheinen… einem goldenem Schein, der in seiner blendenden Schönheit den Großteil der Bewohner verhöhnt. So zeigt der Film das riesige Ausmaß des kubanischen Leides und damit, dass man Revolutionen nicht einfach auslösen kann, sondern das Leid nötig ist, ein riesiges, unerträgliches Leid, das man vorher nicht kannte. Wenn am Ende die Menschen lieber für das Vaterland sterben, als in Unfreiheit zu sterben, wie sie singen, dann wollen sie im Grunde Hoffnung für ihr Leben. Einen Grund nicht zu sterben. So folgen sie auch revolutionären Idealisten, die ihnen den Himmel auf Erden versprechen. Der Film endet folglich auch mit der Revolution, denn er ist zu keiner Zeit ein Film pro Fidel Castro oder den Kommunismus, sondern ein Film über Leid und Hoffnung. Er zeigt die Freude des Sieges und belässt es dabei, denn vielleicht liegt in der Freude auch schon wieder der Hohn der Zukunft.