Diary of the Dave #7

Ich habe heute La dolce vità (Das Süße Leben) von Fellini zum dritten (oder vierten) Mal gesehen. Beim ersten Mal war ich wohl etwa 16 oder 17 Jahre alt. Er lief an einem Montagabend (wohl 20.45) auf arte. Am nächsten Tag hatte ich früh um 8 Uhr Deutsch-Unterricht. Irgendwie konnte dieser Film mich damals nicht ganz befriedigen. Ich glaube, dass ich damals “Ginger & Fred” schon gesehen hatte: bei dem Film ist natürlich “mehr” los. Es gibt zwar auch keine “Story” im engeren Sinne, aber es gibt mehr “Action” im engeren Sinne. Nun dann… irgendwie hatte ich das Gefühl, bei “La dolce vità” etwas verpasst zu haben. Ich hatte sowohl Recht als auch Unrecht, was das betrifft (dieser Satz ist ja nun mal grammatikalisch ziemlich offen!). Die Trevi-Brunnen-Szene mit Anita Ekberg hatte natürlich sofort etwas Kultverdächtiges. Die Orgie-Szene am Schluss war irgendwie heftig. Aber… die Vater-Episode (denn “La dolce vità hat zwar kein Szenario, besteht aber doch irgendwie aus Episoden) kam mir etwas lang vor. Die erste Episode (mit Anouk Aimée) fand ich irgendwie komplett langweilig. Bei einer Dauer von 167 Minuten (2h 47min) kam mir der Film schon etwas lang vor.

Das zweite Mal (das zweite bewusste Mal, denn irgendwie habe ich das Gefühl, dass die heutige Sitzung die vierte war! Wo ist die anderthalbte geblieben im Gedächtnis?), also das zweite Mal schaute ich den Film kurz nach der Rückkehr aus Voronez. Obwohl ich auf dem absteigenden Ast war in meinem Privatleben (und auch in meinem Studienleben) fühlte ich mich auf dem aufsteigenden Ast (zumindest subjektiv). Der Film kam mir bedeutender vor. Obwohl ich ihn dann im Zug der Ereignisse wieder schnell vergessen habe. Ende Dezember 2009/Anfang Januar 2010 fiel mir irgendwie plötzlich die Schönheit des Soundtracks ein: Nino Rotas wundervolle Musik. Und plötzlich waren damit auch die Bilder des Films oder vielleicht sogar: die Gefühle des Films wieder da! Und heute war es soweit! Fellini hatte angeblich 90h Film belichtet, die er zusammenschneiden musste. Selbst 10h wären wahrscheinlich unerträglich gewesen. 30 bis 50 Minuten mehr hätte der Film aber durchaus ertragen können! Wäre auf 200 bis 220min hinausgelaufen (3h 20min bis 3h 40min). Hätte der Film kürzer sein können: 2h 00min, vielleicht noch 2h 20min? Wer weiß? Aber er braucht Zeit zum Wirken! Zeit zum WIRKEN!

Worum geht es überhaupt in diesem Film? Vereinfacht ausgedrückt: ein Mann führt ein ambivalentes, ja schizophrenes Leben zwischen… ja… zwischen… gut und böse… Ideal und Zynismus… Liebe und Kaltherzigkeit… Kunst und Kommerz… Literatur und Journalismus… Verlobter und Schlampe/Hure (“putana”). Aber ist diese Dichotomie so einfach? Das Leben mit seiner Geliebten/Fiancée gleicht tatsächlich manchmal einer Hölle: eine medikamentensüchtige, Jesus-besessene und EXTREM dominante Frau, die ihn so wie einen Hund liebt, den man an der Leine führt (z. B. zum Gassi gehen). Ist dann im Gegensatz dazu seine Liebe zur “Hure” Maddalena nicht reiner, schöner, ehrlicher? Auch wenn sie ihn letztlich zurückweist… immer wieder… Sei es, weil sie (noch) schläft oder sich mit einem anderen Mann vergnügt. Und seine Beziehung zu Steiner? Marcello (Marcello Mastroianni) schreibt zwar schmierige Klatsch-Kollumchen für “halb-faschistische” Zeitschriften! Gibt seine Ideale als erstklassiger Schriftsteller auf, um besseres, sicheres Geld zu verdienen, und in der Klatschwelt leben zu können. Steiner hingegen hat eine schöne Familie, lebt ein schöngeistiges Leben unter Künstlern, kultiviert sich weiter, wundert sich an den kleinen Dingen des Lebens (sei es seine Tochter oder die Geräusche von Donner und Meer). Zugleich ist er seinem Namen gleich: quasi verSTEINERt. Er fasst kein Fuß im wirklichen Leben, lebt unter abgehobenen Künstlern in einer Welt, die er letztlich nicht beherrschen oder kontrollieren kann (im Atomzeitalter des Kalten Krieges). Ja, die Medaille hat zwei Seiten, und wohin die “dunkle Seite” Steiner bringt, wissen wir ja! Tut also Marcello doch Recht, sich dem völlig dekadenten, müßiggängerischen Leben der Romer Schickeria hinzugeben? Nein!!! NEIN!!!

Insbesondere wenn man sieht, dass er dadurch das engelhafte blonde Mädchen “betrügen” muss. Seine engelhaften Frauen hat M. Scorsese tatsächlich von Fellini. Möglicherweise ist das blonde Mädchen die einzige Frau, die Marcello wirklich betrügt. Er hat ja mit mindestens drei Frauen Beischlaf. Aber (SPOILER) nicht mit Anita Ekberg. Sie spielt (oder ist?) die Personifizierung einer völlig degenerierten, dekadenten, oberflächlichen Medienfigur, die absolut austauschbar wäre: große, schöne, blonde Frau mit großem Busen gibt’s ja genug auf der Welt. Aber sie hat auch etwas vom unschuldigen kleinem blonden Mädchen in der Strand-Trattoria-Szene in der Mitte des Films (und im Epilog). “Siamo tutti sbagliatti.” Wir haben alle Unrecht! La dolce vità macht in seinen Episoden jeglichen Mist zum Ereignis! Darin besteht das Szenario-lose des Films. Auch die Journalisten des Films tun das Gleiche: Eine Frau schluckt zu viele Pillen, ein Fernseh-und-Kino-Star kommt an, ein Literat bringt sich um, der Ehemann einer Schauspielerin schläft in seinem Cabrio ein, zwei Lausekinder spielen einen Streich… all dies wird ganz bewusst von den Journalisten zu Medienereignissen GEMACHT.

Als Mediensatire funktioniert La dolce vità auch ganz gut. Dass sich Papparazzi als Begriff durchgesetzt hat, ist durchaus verdient! Marcello, in diesen ganzen Dingen, bleibt letztlich doch eine sympathische Figur. Eine identifizierbare Figur. Nun ja, zumindest ich als Mann kann mich mit ihm identifizieren. Und ich glaube, mit den etwas tieferen Problemen, die er hat, kann sich jeder und jede identifizieren! Ob sich Marcellos Leben auf dem aufsteigenden oder absteigenden Ast befindet, weiß man doch nicht. Es bleibt ambivalent. Je öfter man diesen Film sieht, umso besser, schöner und wunderbarer wird er! Egal, ob man selbst auf dem aufsteigenden oder absteigenden Ast sitzt…

Märchenstunde – Bernard & the Genie (GB 1991)

Dearest Darlings, ich bin kein großer Fan von Weihnachtsfilmen. Ich mag, wenn auch nicht übermäßig, die naive Unwirklichkeit von “Little Lord Fauntleroy”… den von 1980 mit Alec Guinness. Das wäre es auch schon, wäre da nicht die BBC und das Gespann Richard Curtis/Rowan Atkinson. Einst habe ich Bernie und der Weihnachtsgeist (so der illustre deutsche Titel) zufällig im WDR gesehen und seitdem kam er nur ein einziges Mal im deutschen Fernsehen. Bei dem alljährlichen Einerlei schon unerhört, dass dieser Charmebolzen von einem Film so versteckt wird.

Erzählt wird, wie der Titel schon nahelegt, die Geschichte vom Zusammentreffen des Dschinns Josephus mit dem Kunsthändler Bernard Bottle. Zu Beginn sehen wir, wie Josephus von einem orientalen Zauberer, der auf Grund eines tragischen Unfalls etwas außer sich ist, zum Leben eines Flaschengeistes verflucht wird. 2000 Jahre später hat Bernard seinen großen Tag: er hat Kunstschätze im Wert von 50 Mio. Pfund ausfindig gemacht. Doch statt der erwarteten Beförderung bekommt er die fristlose Kündigung. Gleich darauf verlässt ihn seine Freundin, die schon länger eine Affäre mit seinem besten Freund hat. Natürlich hat sie auch gleich die gemeinsame Wohnung leer geräumt. Als er schließlich an einer alten Öllampe reibt, explodiert diese und er landet im Krankenhaus. Man muss nicht extra erwähnen, dass Weihnachten ist. Zurück zu Hause trifft er auf Josephus und es kommt wie es kommen muss: beide lösen ihre Probleme. Bernard und Josephus lernen wieder die Lust am Leben und bereiten fast allen ein schönes Weihnachtsfest.

Die Grundgeschichte hört sich kitschig und idiotisch an… ist sie auch. Doch was dieser Film hat und was vielen Weihnachtsfilmen fehlt, ist Charme und Witz. Es gibt eine Szene, als Bernard Kindern ihre Wünsche erfüllen lässt. Die Kinder kommen mit Ponys und anderen Wertsachen ins Bild, nur bei einem ist nicht klar, was er sich gewünscht hat, bis plötzlich seine kleine Schwester explodiert. Der Wunsch wird zwar rückgängig gemacht, doch genau das ist es, was diesen Film ausmacht. Er feiert zwar die Freude am Leben, aber nicht mit der erzwungenen Erkenntnis, dass das Leben schön ist und die Menschen gut. Richard Curtis nimmt mit einer guten Prise schwarzen/britischen Humors die kleinen und großen Schwächen der Menschen auf den Arm, ohne dabei irgendjemanden etwas über das Leben beweisen zu wollen. Zuweilen wird er dabei auch albern, aber nicht so, dass man sich schämt, sondern eben mit Charme.

Die beiden Hauptdarsteller liefern dabei eine großartige Leistung ab. Alan Cumming gibt den sympathischen Verlierer, den man einfach gern haben muss, und Lenny Henry als weltfremder, extrovertierter Dschinn ist so überzogen, dass es ungeheuerlichen Spaß macht, ihm zuzusehen. Zudem gibt es exzentrische Nebenfiguren und Dekors, die dem Film seine Sympathie verleihen. Das Herzstück, das “Bernard & the Genie” aber wirklich sehenswert macht, ist niemand geringerer als Rowan Atkinson. Als Bernards Arbeitgeber Charles Pinkworth stellt er selbst seine Darstellung von Blackadder in den Schatten. Grenzenlos arrogant und mit der Krönung des snobistischen Sprachgebrauchs, die im Englischen möglich ist, ausgestattet, ist er der Geldaristokrat you love to hate. Was diesen grundsoliden und charmanten Film zu einem wirklich sehenswerten macht, sind Sätze wie: „I sack ye! I want you and your philanthropic little arse out of this building pronto.”, aus dem Mund eines Schauspielers, der Impertinenz ein neues Gesicht gibt.

Behaglichkeit – Shock Corridor (USA 1963) & The Naked Kiss (USA 1964)

Vorortidylle, wirtschaftlicher Aufschwung, glückliche Familien, Sauberkeit und Ordnung, der lächelnde Milchmann. der jeden Morgen seinem Job nachgeht… das offizielle, auf hochglanzpolierte Bild der US-amerikanischen 50er Jahre ist an Biederkeit und Hochmut kaum zu überbieten und zudem durch Hollywood so stark verbreitet worden, dass es bis heute gern als Zielscheibe von Kritik und Spott genutzt wird oder Grund für Nostalgie und Unbehagen bietet. „Pleasantville“ in seiner modernen Biederkeit bezieht sich genauso darauf wie jeder zweite Lynch-Film. Aber auch schon kontemporäre Filme kratzten am Bild der sauberen 50er, aber niemand so radikal und mit solch ätzendem Spott wie Samuel Fuller. In der ersten Hälfte der 60er, als diese Epoche der Sauberkeit genau genommen noch nicht von den um sich greifenden Gegenbewegungen beendet wurde, machte er zwei Filme die wie sein filmisches Vermächtnis wirken können. Die Genregrenzen, in denen Sich Fuller bis dahin bewegte, lies er hinter sich und Themen, die er früher nur angedeutet hatte, formulierte er in Shock Corridor und The Naked Kiss voll aus. Doch dafür musste er bezahlen und konnte in 15 Jahren keine Filme mehr in Hollywood realisieren, denn er wollte mit diesen Filmen nichts geringeres als die Maske von Sauberkeit, nationaler Einheit und Überlegenheit einem korrumpierten, heuchlerischen Land vom Gesicht zu reißen… zu einer Zeit als das noch keine Selbstverständlichkeit war.

Schauen wir uns als erstes Shock Corridor an, einem der offiziellen Meisterwerke Fullers. Auf den ersten Blick ist das kaum zu glauben. Ein Film von erhabener Trashigkeit, Vorhersehbarkeit und mit einem unfassbaren Ausmaß an Klischees. Der Plot lässt das Ausmaß schon erkennen: Reporter Johnny Barrett (gespielt von Peter Breck, vielleicht noch am ehesten bekannt aus “The Crawling Hand”) lässt sich in eine Nervenheilanstalt einschleusen, um einen Mord aufzuklären… den Pulitzer-Preis fest im Blick. Ein gewisser Sloan wurde umgebracht und drei Insassen waren Zeugen. Doch alle drei haben den Kontakt zur Realität verloren. Illustre Gestalten sind es, denen Barrett das Geheimnis entreißen muss: ein Kriegsveteran, der sich für Jeb Stuart, General der Südstaaten im amerikanischen Bürgerkrieg, hält, ein Afroamerikaner, welcher glaubt der Gründer des Ku-Klux-Klans zu sein, und ein Atomraketeningenieur, der sich wie ein sechsjähriges Kind benimmt. Barrett täuscht Inzestgelüste und Haarfetischismus (sic!) vor, um in die Nervenanstalt zu gelangen. Im Kampf um das Geheimnis der drei Zeugen steht aber zunehmend seine eigene geistige Gesundheit auf dem Spiel.

Plakativ führt der Film durch die Anstalt… durch den Shock Corridor. Hölzerne Dialoge, fadenscheinige Traumsequenzen und aufdringliche innere Monologe nötigen die Antriebskräfte der Figuren dem Zuschauer auf. Barrett und seine Lebensgefährtin tragen ihre Psychologie auf der Zunge spazieren. Die Schauspieler übertreiben jedes Gefühl so, dass James Dean und Emil Jannings wie dezente Schauspieler erscheinen. Die Insassen der Anstalt sind so inszeniert, dass auch der Letzte im Publikum nach zwei Sekunden versteht, dass diese Menschen verrückt sind. Kein (Hollywood-)Klischee wird ausgelassen. Sie sind hysterisch, schreien, handeln absonderlich (nachts Arien singen, auf dem trockenen und ohne Boot rudern usf.) und lachen, als ob sie die Welt bald unterwerfen. Das Ende des Films hält auch keine Überraschungen bereit, zu deutlich war der Plot des Films konstruiert. Das einzig Gute scheint erst einmal die schwarz-weiß Photographie von Stanley Cortez zu sein, die wuchtige und wundervolle Bilder erschafft, die sich einem in den Kopf brennen. In diesen Bildern finden sich auch mal weniger aufdringliche Andeutungen wie ein schief hängendes Bild von Freud im Büro des Klinikdirektors.

Und doch ist “Shock Corridor” reizvoll und vielleicht sogar ein großer Film. Denn die Momente in denen Barrett mit den drei Insassen redet, sind wie Schocks. Es sind Momente in denen Fuller plötzlich eine nicht mehr erwartete Eindringlichkeit entwickelt. Plötzlich reden Menschen, wirkliche Menschen. Plötzlich werden unter all den Oberflächlichkeiten persönliche Schicksale und Aussagen bemerkbar. Plötzlich verlässt der Film die Klischees seiner Inszenierung und entwickelt eine betörende Kraft. Es sind diese Momente die klar machen, dass dieser Film nicht realistisch sein möchte. Die USA werden zu einer Irrenanstalt stilisiert… beherrscht vom Wahn der Kommunistenjagd, des Rassismus, des Militarismus und einer verbissenen Erfolgsgeilheit. Jeder der drei hat eine dieser Ideologien so hart am eigenen Leib zu spüren bekommen, dass sie nur noch den Ausweg der Realitätsverdrängung nehmen konnten.

Kurze Phasen der Klarsicht, die sie haben, werden von Träumen eingeleitet. Doch diese Träume sind nicht die überdeutlichen Barretts, die durch die Propaganda von Wort und Bild beherrscht werden, sondern farbige, verzerrte, undeutliche Sequenzen von Subjektivität. Die folgenden Mono-/Dialoge sind auch nicht die psychologisierenden, festlegenden Dialoge des restlichen Films. Es sind Dialoge, die hinter der Fassade der Worte auch das Unbekannte einer Seele erahnen lassen. Der Wahn Hollywoods wird verlassen. Doch Barrett erkennt diese Phasen nicht, er will sie nur ausnutzen um an sein Ziel zu gelangen. Und so bleibt er blind dafür, dass er schon längst selbst mitten im Kampf um seine eigene geistige Gesundheit steckt.

“Shock Corridor” greift so eine Realität an, die ihre Augen vor den eigenen Problemen schließen möchte. Die sich in Wahnvorstellungen rettet und so die Probleme nur vermehrt. Doch “Shock Corridor” konnte Hollywood Fuller noch verzeihen, da der Film mit Verrückten und Ausgeschlossenen überfüllt ist. Die Anklage konnte auf diese und den Pulp geschoben werden. Was Fuller aber mit The Naked Kiss auf die Leinwand brachte, war ein roher, subversiver Schlag ins Gesicht der amerikanischen Kleinstadt, des Symbols von Anstand und Amerikas kultureller Überlegenheit. Das perfideste daran ist aber vor allem die Machart… das an Sarkasmus kaum zu überbietende Lachen ins Gesicht der Heuchelei.

Der Film beginnt furios. Von wilder Jazzmusik unterlegt zeigen rohe, hektische Bilder wie Kelly (gespielt von Constance Towers, in “Shock Corridor” Barretts Lebensgefährtin) einen Mann verprügelt und sich 75 Dollar von ihm nimmt, die er ihr schuldet. Der Vorspann folgt. Die darauf folgende Handlung hat einen deutlich ruhigeren Ton. Kelly kommt mit einem Bus in die Kleinstadt Grantville und ist von der Idylle wie verzaubert. Sie schläft mit dem Sheriff, aber das wird ihr letzter Job als Prostituierte sein. Die Magie des Glücks und des Anstands machen ihr klar, dass sie sich ändern will. Sie wird Kinderkrankenschwester, verliebt sich in einen reichen, gebildeten Mann, der sie heiraten möchte und baut sich eine glückliche Existenz auf. Der Kitsch übernimmt zusehends den Film. Plot, Bildsprache und Musik lassen “The Naked Kiss” das Bild einer Soap Opera annehmen… einer Soap Opera, in der sich alle Probleme in Wohlgefallen auflösen. Doch all das wird wie ein Bumerang zurück kommen und von Fuller ad absurdum geführt.

Wer sich schon sicher ist, dass er den Film sehen möchte, sollte diesen Absatz wahrscheinlich nicht weiter lesen, da das, was folgt ein Erlebnis ist, dass man selbst machen sollte. Doch ich muss schreiben, obwohl ich schweigen sollte: Alles scheint sich in Perfektion aufzulösen. Man weiß, dass irgendwas passieren muss, schließlich ist man in einem Samuel Fuller Film. Jede Überlegung, wo der Haken liegen könnte, läuft ins Leere. Die Soap-Opera-Vorstellung einer perfekten Welt scheint wahr geworden. Unerträglich ist das Glück und gerade als man zu überlegen beginnt, wie radikal es wäre einen Film in dieser Perfektion enden zu lassen, schlägt Fuller zu. Unerbittlich. Sekunden bevor der Zuschauer sicher erkennt, was der Haken ist, lässt er im Publikum einen Verdacht keimen. In einer perfide umgesetzten Wendung nimmt er den Traum des Glückes selbst, in Form eines Kinderliedes, und verwandelt dieses in den Abgesang auf die perfekte Welt. Kelly fällt in einen unsagbaren Abgrund und zieht jeden, der zusieht, mit. Es ist der naked kiss, der Kuss der Perversion und Samuel Fuller gibt uns diesen Kuss, der uns erfahren lässt, wie verkommen es hinter dem Schein der Kleinstadt, der USA aussieht. Ein Meisterwerk.

Das fliegende Auge: Breaking News von Johnnie To

Beim folgenden Text handelt es sich um einen leicht veränderten Auszug aus meiner unveröffentlichten Magisterarbeit über die Rauminszenierung in den Filmen von Johnnie To, die ich dieses Jahr fertiggestellt habe. Im Rahmen eines  vergleichenden Kapitels über “PTU” (2003) und “Breaking News” (2004) wird darin eine Plansequenz aus letzterem analysiert. Ausgewählt habe ich das Unterkapitel aus zwei einfachen Gründen, nämlich weil es 1.) in meinen Augen auch verständlich ist, wenn man die vorherigen und sich anschließenden Ausführungen nicht gelesen hat. Und weil sich 2.) zur hier des öfteren stattfindenden kritischen Auseinandersetzung mit dem Regisseur eine analytische gesellen soll.

1 Breaking News

Eine knapp siebenminütige Plansequenz leitet das Treiben in “Breaking News” ein. In dieser gerät die Observation einer Gruppe von Räubern aus Festlandchina in einer belebten Seitenstraße durch einen Zufall zur Schießerei. Von Fernsehen und Printmedien wird das augenscheinliche Versagen der Polizei zum Skandal stilisiert, also bemüht sich diese um Schadensbegrenzung. Nicht nur sollen die Flüchtigen gefasst, auch das Image der Gesetzeshüter muss wiederhergestellt werden. So wird eine Medienoffensive angestrengt, welche den Versuch darstellt, die Kontrolle zurück zu gewinnen; die Kontrolle über die Berichterstattung durch Speisung der Journalisten mit Videoaufnahmen der Polizeiarbeit und die Kontrolle über ihr eigenes und das Bild der Gangster in der Öffentlichkeit. Doch letztere, die sich derweil in einem Wohnhaus verschanzt haben, verwenden die gleiche Taktik. Über das Internet verbreiten sie Videos eines gemütlichen Mittagsmahls mit ihren Geiseln und gescheiterter Versuche der Polizei, das Haus zu stürmen. Eine Logik der Aktion und Reaktion gebietet über das Geschehen: Versorgen die Räuber ihre Geiseln mit Essen, verteilen die Ordnungshüter Gerichte unter den wartenden Journalisten und legen vor den Kameras selbst eine Mittagspause ein. Doch nach und nach dezimieren die Ordnungshüter ihre Gegner bis auf den letzten, der, durch die Straßen gehetzt, mit seinem Tod den Medien-Coup der Polizei perfekt macht.

In seiner Analyse von “Breaking News” legt Stephen Teo besonderen Wert auf zwei Aspekte: Die technischen Herausforderungen, die To sich bei Planung des Films selbst gestellt hat, und die Besonderheit einer weiblichen Actionheldin in Gestalt von Rebecca Fong. Frauenfiguren in der Rolle der Heldin finden sich in seinen Filmen nach 1997 allenfalls in den Komödien. Deshalb ist Rebecca Fong, die nicht nur die Medienpolitik der Polizei steuert und damit in gewisser Weise die Rolle der Regisseurin übernimmt, sondern im Finale die Spur des letzten überlebenden Gangsters aufnimmt, eine klare Ausnahmeerscheinung. Ein „neuer weiblicher, heroischer Archetyp“ ((„[…] new heroic female archetype“ (vgl. Teo, Stephen: Director in Action. Johnnie To and the Hong Kong Action Film. Hongkong: Hong Kong University Press, 2007, S. 142).)) in seinem Werk, der bis heute keine Ergänzung erfahren hat und allenfalls in den drei Superheldinnen des “Heroic Trio” entfernte Schwestern besitzt.

Bei den genannten technischen Herausforderungen handelt es sich um zwei aufwändige Plansequenzen. Unter Plansequenz oder Sequenzeinstellung wird an dieser Stelle, den Ausführungen von Metz folgend, die „autonome Einstellung“ verstanden, in der „eine ganze Szene in einer Einstellung behandelt [wird], d.h. die Einheit der ‘Handlung’ verleiht der Einstellung ihre Autonomie“ ((Metz, Christian: Probleme der Denotation im Spiel?lm. In Albersmeier, Franz-Josef (Hrsg.): Texte zur Theorie des Films. Stuttgart: Philipp Reclam jun. GmbH, 2003, S. 337)). Beide Plansequenzen bilden durch ihr Auftauchen in “Breaking News” eine Rahmung des Geschehens. Die erste wurde bereits angesprochen und schildert die Schießerei, welche die folgende Jagd in Gang setzt. Umgebung ist eine Seitenstraße, ein immobiler Handlunsgraum, der von der Kamera mit Hilfe eines Krans im Verlauf der sieben Minuten vertikal wie horizontal erfahren wird. Im Gegensatz dazu handelt es sich bei der zweiten um eine Verfolgung eines Busses durch ein Motorrad. Steadycam-Aufnahmen schildern die Szene mitsamt der Schießerei zwischen den beiden Fahrzeugen aus Sicht der Insassen des Busses (Fong und der letzte überlebende Gangster). Die Plansequenzen sind im Oeuvre Tos als genauso ungewöhnlich anzusehen, wie die weibliche Heldenfigur und sind bis heute Singularitäten in seiner Filmografie ((U.a. als Grund für den Einsatz dieses formalen Mittels in „Breaking News“ führt To an, dass er diese Art von Aufnahme vorher noch nicht bestritten habe (vgl. Teo, 2007, S. 136).)). Die drei wesentlichen Örtlichkeiten des Films werden vervollständigt durch einen Wohnblock, in den sich die Gangster nach der Schießerei flüchten. Ein Großteil des Films dreht sich danach um die Belagerung des Hauses durch Polizei und Presse sowie die Geiselnahme einer Familie, welche die Situation verschärft.

Was “Breaking News” weiterhin eine Sonderstellung innerhalb von Tos Oeuvre seit “The Mission” verschafft, ist die Tageszeit. Tos Policiers und Actionfilme tragen sich mehrheitlich entweder in der Nacht zu oder erreichen ihren Klimax nach Anbruch der Dunkelheit. Die Noir-Ästhetik, die so unterschiedliche Filme wie “Election”, “PTU” und selbst die Kurosawa-Hommage “Throwdown” dominiert, wird in “Breaking News” durch den Einsatz eines unterkühlten Filters ersetzt, der dem Film einen eisigen Blauton verleiht. Je weiter der Tag voranschreitet, desto stärker erscheint die bläuliche Sättigung, die im Aufeinandertreffen von Fong und dem Kopf der Räuberbande gegen Ende ihren Höhepunkt anstrebt. Den Effekt dessen beschreibt Teo als „noir coolness“, der stark mit der Charakterisierung der weiblichen Heldin zusammenhänge ((Vgl. Teo, 2007, S. 141)). Gleichzeitig muss an dieser Stelle die Unwirklichkeit dieser Farbbalance erwähnt werden, welche die Protagonisten in ein stahlblaues Zwielicht taucht, dessen Sterilität an die Hochglanzfassaden Hongkongs erinnert und damit gleichsam auf jenen Glanz, jene Modernität und Fortschrittlichkeit der Stadt verweist, welche die Polizei nach außen und besonders am Tage zu wahren sucht. Das blaue Leichentuch besiegelt geradezu erdrückend die Unausweichlichkeit der Gefangennahme oder des Todes des Gangsters. Doch jene Unausweichlichkeit ist sowohl für die Verfolger als auch für die Verfolgten bereits in den Hongkonger Straßen und Häusern, wie sie hier konstruiert werden, angelegt.

1.1 Plansequenz

Der Blick geht gen Himmel. Ein Himmel, der von jenen wie Unkraut aus dem Boden geschossenen Apartmenthochhäusern bevölkert wird, die Ackbar Abbas als sinnbildlich für die immer schon im Verschwinden begriffene Architektur der Stadt betrachtet. “Breaking News” wird damit durch ein vielsagendes Bild eröffnet, denn die Kamera senkt sich in der Folge auf heruntergekommene Wohnhäuser hinab, welche die Straße, in der es bald zur Schießerei kommen wird, säumen. Glanz und Verfall, Gegenwart und Vergangenheit existieren nebeneinander: „[…] Every building in Hong Kong, however new or monumental, faces imminent ruin, on the premise of here today, gone tomorrow […].“ ((Abbas, Ackbar: Building on Disappearance. Hong Kong architecture and colonial space. In During, Simon (Hrsg.): The Cultural Studies Reader. 2. Auflage. London und New York: Routledge, 1999, S. 147)) Schuld daran ist die Immobilienspekulation. So erfolgt eine Charakterisierung des Raumes mit Hilfe zweier zeitlicher Koordinaten, welche durch diese einfache Bewegung verbunden werden.

Hoch oben über dem Erdboden schwebt die Kamera am Himmel, um anschließend hinab auf die Straße zu gleiten, den Blick auf eine einzelne Person werfend, die einen der Eingänge betritt. Es ist einer der Räuber vom Festland. Der Gestus der Bewegung aus den Höhen hin zu den Menschen am Boden wird mit der Einleitung des Films nicht etwa fallengelassen. Vielmehr verbleibt der Blick in dieser Rolle des distanzierten, ja sogar neutralen Beobachters. Dementsprechend folgt die Kamera dem Gangster, als er ein Haus betritt, fast schon vorausschauend von außen, um ihn zwei Stockwerke weiter oben in der Wohnung seiner Kollegen wieder anzutreffen. Ein Blick durch das Fenster und schließlich in den Raum, hineingeworfen von einem allwissenden Auge, welches nach und nach die Fronten der bald folgenden Schießerei klärt. Denn sobald die eine Seite gezeigt wurde, verlässt die Kamera die Unterkunft und folgt einer vom Wind herabgetragenen Zeitung zu einem Auto, das vor dem Haus hält. Zwei Polizisten in zivil sitzen darin und observieren die Bande. Fließend bewegt sich die Kamera vorbei am Auto, um durch die Heckscheibe die Blickrichtung der Polizisten einzunehmen. Sie und wir beobachten das Geschehen vor dem Eingang. Drei Räuber verlassen das Haus. Ein weiteres Auto fährt vor. Über das Gefährt der Polizisten hinweg hebt sich dann der Blick der Kamera, um das davorstehende der Gangster zu fokussieren. Zwei Streifenpolizisten greifen unwissentlich ein in die Observation, als sie den Fahrer des Wagens der Räuber ermahnen. Vorbei an den Diskutierenden gleitet die Kamera zu den anderen Verbrechern, die die Situation aufmerksam, aber unauffällig von der Seite beobachten. Der Kreis der Bewegung durch den Raum wird geschlossen, als das Auge zurückkehrt zum Auto der Polizisten, die die Angelegenheit ebenso angespannt betrachten. Ein inszeniertes Ablenkungsmanöver anderer Cops in zivil auf der gegenüberliegenden Straßenseite wird beiläufig eingefangen, doch ehe sich die Streifenpolizisten aus der Gefahrensituation entfernen, entdeckt einer von ihnen eine verdächtige Tasche im Auto der Gangster. Was folgt ist der Stillstand vor der Eruption der Gewalt. Der Polizist, kerzengerade vor dem Auto stehend, verlangt zu wissen, was in der Tasche ist, auf die er zeigt. Die Kamera, gleichsam wie die Figuren im Moment der Statik gefangen, wartet wie ein unsichtbarer Beobachter eines Western-Duells auf die Reaktion. Als Viereck um das Auto gruppiert, verharren die Figuren für einen Moment wie eine geometrische Konstruktion in Mitten des Raumes, bilden Vektoren, die in ihrer Anordnung, das wird die Analyse der Filme zeigen, ein typisches Beispiel für die Definition der Tiefe des Raumes mit Hilfe von Körpern in den Werken von Johnnie To sind.

Was folgt, ist das Unvermeidliche. Die Streifenpolizisten werden von den Räubern erschossen, die observierenden Cops beginnen zurückzuschießen. Eine Straßenschlacht entbrennt. Zwischen den Parallelen der Bürgersteige schweift die Kamera im wortwörtlich fliegenden Wechsel umher, mal die eine Front, mal die andere heraushebend. So weit ist ihr Blick und damit auch der des Zuschauers den physikalischen Gesetzen enthoben, dass sie, während die Schießerei auf der Straße weiter läuft, für einen Moment das Interesse daran verliert, um zu einem Gangster ins zweite Stockwerk zu gelangen, der auf einem Fensterrahmen sitzt und von dort auf die Gegner schießt. Die Kamera folgt ihm, als er von dort herab auf die Straße springt, und hebt sich sogleich wieder in die Luft, als die Räuber zu entkommen suchen, um ein Panorama der Zerstörung zu zeigen. Einen wortwörtlichen Fluchtpunkt zeichnend, begibt sie sich danach wieder auf die Seite der Polizisten, die auf die Gangster am anderen Ende der Straße feuern. Wiederum durchfährt die Kamera diesen imaginären Flur, immer schneller auf die Gangster zu, die erst eine Panzerfaust laden und dann begleitet von einem 180°-Reißschwenk – die erste eigentlich dynamische, dem Geschehen entsprechende Bewegung in der Sequenz – diese auf die Polizisten abfeuern. Der Detonation folgt ein Schnitt. Das nominelle Ende der Plansequenz ((00:01:16-00:07:52)) nach fast sieben Minuten.

Eine Plansequenz als Auftakt eines Films zu verwenden, ist an sich, nach über hundert Jahren Filmgeschichte, kein Novum mehr. Robert Altman begann “The Player” (1992) auf diese Weise und Orson Welles verwandte lange vor ihm selbiges Mittel, um Touch of Evil (1958) einzuleiten. Gemeinsam hat der Auftakt von “Breaking News” insbesondere mit letzterem eine bestimmte Funktionalisierung. Wenn Schultes (8Schultes, Stefan: Faszination des Bösen. Orson Welles’ Filme in Hollywood. Remscheid: Gardez! Verlag, 2007, S. 311)) Beschreibung der dreieinhalb Minuten langen Verfolgung einer Bombe in einem Auto zum Schluss kommt, dass sie Dramaturgie, Figuren und Örtlichkeit des folgenden Films schon zu Beginn zusammenfasst, so ist ein vergleichbares Fazit auch nach Ansicht der ersten sieben Minuten von “Breaking News” zu ziehen. Nicht nur werden uns in narrativer Hinsicht abgesehen von Rebecca Fong die beiden wichtigsten Gruppen der Protagonisten und Antagonisten vorgestellt. Auch die Konstruktion des Raumes durch die im Grunde fliegende Kamera verweist auf das Verhältnis der Figuren und v.a. ihrer Rollen. Teo ((Vgl. Teo, 2007, S. 136)) verweist auf die „parasitische Verbindung“ zwischen Polizei und Gangstern, die in dieser Exposition hergestellt wird. Auf Grund der Kameraführung und des durch sie konstruierten Raumes kann man diese Verbindung allerdings noch weiter führen. Der bereits erwähnte neutrale Blick der Kamera in diesen ersten Minuten bevorzugt, anders als es etwa in der besagten Sequenz in “Touch of Evil” geschieht, keine der Figuren. In Orson Welles’ Film wird nicht nur der Moment des Suspense durch Zeigen der tickenden Zeitbombe in der ersten Einstellung eingeführt. Kurz darauf heftet sich die Kamera primär an die Fersen der beiden Protagonisten (Vargas und Susan) bei ihrem Spaziergang über die Grenze, was zur Folge hat, dass der Zuschauer „keine Möglichkeit [hat], sich feste Bezugspunkte zu schaffen. Orientierungslos muss er sich mit der Kamera treiben lassen.“ ((Schultes, 2007, S. 310)) Demgegenüber dient die ruhige, selbst in Momenten des Spektakels beobachtende, nicht involvierte Blickführung in “Breaking News” in erster Linie der Erforschung des Raumes. es handelt sich um einen stark begrenzten Raum (die Seitenstraße), der in 360°-Bewegungen erkundet und damit kinematografisch zusammengesetzt wird. Der einleitende Blick vom Himmel auf die Erde bietet einen Überblick über die räumlichen Gegebenheiten, die nachfolgenden Schwenks und Fahrten tasten sich entlang an den Objekten (Autos) und Grenzen (Häuserwände), welche den Raum im Detail strukturieren. Darin erscheinen auch die Menschen als geometrische Eckpunkte eines Netzes, dessen Ränder abgefahren werden. Damit werden ihre Rollen (Gangster versus Polizist) zugleich austauschbar, Antagonisten und Protagonisten werden zu Spiegelbildern. Ein Motiv, das im weiteren Verlauf des Films, wie sich zeigen wird, weitere Variationen erfahren wird. Bezeichnenderweise fliehen die Gangster ausgerechnet in einem Polizeitransporter.

Zunächst in der Schießerei parallelisiert entsprechend der beiden Straßenseiten, werden die Kombattanten meist in ihrer Aktion gezeigt, als würde die Kamera die Frontlinien eines Kriegsschauplatzes abfahren, ohne beide Seiten zusammen in ihrer Reaktion aufeinander zu zeigen. Mit der sich anbahnenden Flucht kulminiert die Sequenz in einer räumlichen Integration der Widersacher. Innerhalb des gesamten „Perspektivpanoramas“ ((Sierek, Karl: Ophüls, Bachtin. Versuch mit Film zu reden. Frankfurt am Main: Stroemfeld Verlag, 1994, S. 309)) der Sequenz wird die Straße nun mit einer perspektivischen Tiefenwirkung inszeniert und vereint auf zwei Bildebenen beide Fronten, typologisch vergleichbar mit den Ausführungen von Deleuze in Bezug auf die Plansequenzen von Renoir und Welles:

Die Einheit der Einstellung entsteht hier aus der direkten Verbindung zwischen Elementen, die der Vielfalt der sich überlagernden, nicht mehr voneinander isolierbaren Einstellungsebenen entnommen werden: Die Einheit ergibt sich aus dem Verhältnis von nahen und fernen Partien. ((Deleuze, Gilles: Kino 1. Das Bewegungs-Bild. Frankfurt am Main: Suhrkamp Verlag, 1997, S. 46))

So stehen, bevor die Granate der Panzerfaust diesen Raum durchquert, „die Elemente der einen Bildebene mit denen der anderen in Wechselwirkung“ ((Deleuze, 1997, S. 46)). Würde dieser Typus der Plansequenz, wie Deleuze ihn herausarbeitet – und welcher in “Breaking News” nur einen Teil einer Plansequenz ausmacht – in einer Dialogszene eingesetzt werden, befänden sich die Gesprächspartner beispielsweise im Bildvorder- und -hintergrund. Auf das Spektakel einer Schießerei angewandt, ist die Auflösung des Verhältnisses wiederum vergleichbar mit einem Westernduell, welches nicht parallel zur Achse der Duellanten, sondern auf der Achse der beiden gefilmt wird. Nur handelt es sich in diesem Falle – ebenfalls typisch für To – um Gruppen, nicht Einzelkämpfer. Dieses Verfahren fördert den Eindruck des Spiegelverhältnisses von Polizisten und Gangstern.

Es wurde schon angemerkt, dass die Art und Weise der Inszenierung der Schießerei von einer ausgeprägten Distanz geleitet wird. Eine Distanz im Sinne der Einnahme der Rolle des Beobachters durch die Blicklenkung der Kamera, welche sie zu Beginn übrigens mit Gangstern wie auch observierenden Polizisten gemein hat. Des Weiteren versagt sie sich, den privilegierten Blick nur einer Seite anzunehmen oder einen privilegierenden Blick, z.B. in Form einer Großaufnahme, auf einen der Teilnehmer zu werfen. Stattdessen ist der erblickte Ereignisraum zwar nicht total, sondern durch die Bewegung der Kamera mit ihrer Recadrage der Figurenbewegungen fragmentarisch. Das fast schon beiläufige Schweifen der Kamera vorbei an den Eckpunkten des Spektakels verrät allerdings einen Hang zum objektiven bzw. einem weltlichen Dingen enthobenen Blick.

Eine Verwandtschaft lässt sich, was die Erzählhaltung und die daraus folgende Raumdarstellung anbetrifft, herstellen zu einer Plansequenz in dem auf einer Kurzgeschichte von Ernest Hemingway basierenden Film Noir The Killers (1946). Diese schildert den Überfall auf eine Hutfabrik. Narrative Rahmung der Sequenz ist ein Gespräch Reardons (Edmond O’Brian) mit seinem Boss, für dessen Versicherungsgesellschaft er den Tod des „Schweden“ (Burt Lancaster) untersuchen muss. Reardon zeigt seinem Boss einen Zeitungsartikel, der den Ablauf des Überfalls beschreibt, an dem der Schwede beteiligt gewesen war. Was folgt, kann man als eine Art objektiver Flashback bezeichnen, der sich nicht aus den Erinnerungen eines Teilnehmers generiert, sondern aus der distanzierten Berichterstattung eines Artikels. Gemäß der Quelle der Information, die von Reardons Boss in Form eines Off-Kommentars die visuelle Schilderung der Ereignisse begleitet, verbleibt die Kamera während ihrer Kranfahrt stets in einer gewissen Entfernung zu den Räubern. Kurz werden sie durch eine Heranfahrt aus der Masse der Arbeiter herausgehoben, welche das Fabriktor durchschreiten, um dann mit einigen Metern Abstand ihrem Weg in das Büro des Zahlmeisters zu folgen. Wie auch in “Breaking News” begleitet die Kamera nicht etwa einzelne Figuren ins Haus, sondern beschränkt sich stattdessen auf die Rolle des Beobachters von außen. Durch die Fenster des Büros fällt ihr Blick auf den Überfall darin, ohne jedoch die Illusion zu erzeugen, sie würde sich in den Raum auf der anderen Seite hinein bewegen. Vielmehr folgt sie den Räubern bei ihrer Flucht vom Fabrikgelände, um sich bei der anschließenden Schießerei in die Luft zu erheben und das Geschehen und den Raum der Aktion in einer weiten Einstellung zu zeigen, die jegliche Individualisierung der Figuren am Boden vermissen lässt: „All of this action is presented from an ‘omniscient’ perspective […]. This position perfectly reinforces the clinical detachment of the narrator as he describes the confrontation […]“. ((Por?rio, Robert: The Killers. Expressive Sound and Image in Film Noir. In Silver, Alain/Ursini, James (Hrsg.): Film Noir Reader. 6. Auflage. New York: Limelight Editions, 2000, S. 181))

Im Vergleich zu “Breaking News” fällt wiederum der Gestus der unbeteiligten Beobachtung auf, der sich auf die Schilderung der Aktion beschränkt, was weitgehend aus der Ferne vor sich geht. Ebenfalls fehlt es der Plansequenz an jeglicher Privilegierung einzelner Figuren abseits der handlungsrelevanten Gruppe der Räuber, denen jede Großaufnahme versagt wird. Geradezu exemplarische Vertreter des Stilmittels werden die beiden Plansequenzen, zieht man Bettetinis Einschätzung der generellen Wirkung dieser Art autonomer Einstellung in Betracht:

[…] The plan-séquence tends to increase the moving image’s credibility […], and hence the indirect persuasiveness of its dialectic positioning between the author and the receiver of the message. ((Bettetini, Gianfranco: The Language and the Technique of the Film. Den Haag: Mouton, 1973, S. 175))

Die beiden beschriebenen Plansequenzen beschränken sich im Gegensatz zu jener in “Touch of Evil” auf einen übersichtlichen Ort der sich entfaltenden „Szene“, wenn man die beiden Orte (die Seitenstraße, der Fabrikhof) als „momentane Konstellation von festen Punkten“ ((Certeau, Michel de: Praktiken im Raum. In Duenne, J./Guenzel, S. (Hrsg.): Raumtheorie. Grundlagentexte aus Philosophie und Kulturwissenschaften. 4. Auflage. Frankfurt am Main: Suhrkamp Verlag, 2008, S. 345)) definiert. Die Plansequenz mit ihrer autonomen Kontinuität und Bewegung sowohl der Kamera selbst als auch innerhalb des Kaders ermöglicht die Entstehung eines Raumes, wie er vielleicht am ehesten dem Verständnis de Certeaus entspricht. Dieser hat den Raum in Abgrenzung zum Ort als „ein Geflecht von beweglichen Elementen“ definiert: „Er ist also ein Resultat von Aktivitäten, die ihm eine Richtung geben, ihn verzeitlichen […]“. ((Certeau, 2008, S. 345)) Die spezifische Qualität der Beziehung von Zeit und Raum innerhalb einer Plansequenz ist, wie oben erwähnt, u.a. in der Kontinuität dieser beiden Aspekte zu suchen, „denn diese plansequentiellen Abläufe entwerfen ein ‘unumkehrbares Ganzes’, dem nicht durch den Eingriff der Schere mögliche Reversibilität und subjektiv beeinflußbare Variationsbreite zugesetzt werden können […]“ ((Sierek, 1994, S. 325)). Die Zeit ist in besagter Sequenz in “Breaking News” deshalb gewissermaßen total. Zwar ist die Perspektive auf den Raum wegen der Kamerabewegung nicht total, befindet sich vielmehr in ständiger Veränderung, doch besitzt der Blick eine Tendenz zum Metaphysischen. Es ist ein Blick, der dem Geschehen enthoben, zunächst objektiv wirkt wie eben auch jener in der beschriebenen Sequenz in “The Killers”. Die Frage, die sich dabei stellt, ist allerdings, wie in “Breaking News” dieser Blick begründet wird, fehlt hier schließlich, wenn es sich auch um einen Film über mediale Verwicklungen handelt, eine objektive Erzählinstanz in Gestalt eines Artikels oder Berichts bzw. überhaupt die Annahme, Medien seien in der Lage, objektiv zu berichten. Diese werden im Film immerhin als bereitwillige Objekte der Manipulation charakterisiert.

Kontrapunkt: Das Experiment vs. The Experiment

Deutscher Psychothriller mit Moritz Bleibtreu hier, amerikanisches Remake mit Adrien Brody dort. Gleichzeitig liegt jedoch zwischen den beiden Filmen nicht nur der Atlantik, sondern auch ein großer Unterschied in zahlreichen Elementen der Drehbücher. Während bei Das Experiment der Autor der literarischen Vorlage am Drehbuch mitwerkelte, ist dieser Einfluss beim Remake nicht mehr zu spüren. Mario Giordano schrieb den Roman „Black Box“, wobei er sich von dem wirklich stattgefundenen Stanford Prison Experiment inspirieren ließ. Und so gleicht die Versuchsanordnung in „Das Experiment“ dem Feldversuch von Psychologen-Koryphäe Philip G. Zimbardo auch eher als jener in The Experiment.

Schon bei der Ausgangssituation ergeben sich dabei Unterschiede hinsichtlich der Versuchsanordnung. Acht Wärtern stehen dabei zwölf Gefangene im Original, 18 Gefangene im Remake gegenüber. Wurde der Versuch im Original in den Räumlichkeiten einer Universität durchgeführt, findet er im Remake an einem abgelegenen, ländlichen Ort statt. Dies sind zunächst nur Kleinigkeiten. Ein wesentlicherer Unterschied besteht in dem Eingreifen oder in der Wechselwirkung mit der Versuchsleitung.

Während Professor Thon (Edgar Selge) im Original als Versuchsleiter, höchste Autorität und vermittelnde Instanz immer wieder Kontakt zu den Wärtern und Gefangenen aufnimmt und Feedbacks hinsichtlich bestimmter Ereignisse gibt, ist diese Interaktion im Remake nicht gegeben. Die Situation wirkt dort nicht nur nach außen hin abgeschlossen, sondern nahezu hermetisch abgeriegelt. Der Kontakt nach Draußen – sei es auch nur bis zur Cafeteria oder in die Flure des Institutsgebäudes – findet nie statt. Einzig ein rotes Lämpchen, welches über die Angemessenheit der Sanktionen der Wärter gegenüber den Gefangenen urteilt (im Glauben daran, dass alle Aktionen durch die installierten Videokameras überwacht werden) ist vorhanden. Die personale Autorität und Legitimation durch die Versuchsleitung ist der scheinbar Sicherheit versprechenden Autorität des technisierten Überwachungsstaats gewichen. Während die Versuchsleitung versagt, indem sie die eskalierende Situation zu unterbinden versucht (Streit darüber, ob Experiment fortgesetzt werden soll; Prof. Thon ist im entscheidenden Moment abwesend; seine Assistenten werden nicht als Autoritäten akzeptiert, sondern als Störfaktoren von Außen betrachtet), lässt die unpersönliche Überwachung Gewalt und Eskalation zu, greift nicht ein und versagt auch in ihrer Funktion als Kontrollinstanz. Es scheint, dass in Deutschland auch  77 Jahre nach Hitlers Machtergreifung durch personale Autorität legitimiertes Agressionsverhalten möglich ist (Siegfried Kracauer lässt grüßen), während in den USA die Autorität sich hinter ihren technischen Möglichkeiten versteckt und sich als Post-9/11-Überwachungsapparat und -konglomerat entpuppt (Foucault grüßt aus der Ferne).

Eine weitere „Amerikanisierung“ fand bei den Charakterzeichnungen der beiden Hauptfiguren statt. Moritz Bleibtreu als „77“ ist ein gescheiterter Intellektueller, der in dem Gefängnisexperiment eine „gute Story“ sieht, diese an die Zeitung verkauft und fortan als störendes Element den ohnehin bestehenden Rollenkonflikt immer weiter anheizt. Er ist aufbrausend und provokant, aber schließlich gebrochen. Adrien Brody als „77“ hingegen ist ein gescheiterter Hippie und Friedensaktivist, der gleich zu Beginn aus seinem Job als Krankenpfleger entlassen wird. Den Rollenkonflikt zwischen Wärter und Gefangenen heizt er nicht primär um der Eskalation willen, sondern aufgrund seiner Abneigung Autorität gegenüber an. Er ist ein Kämpfer für Fairness (nicht Gerechtigkeit!), nachdenklich. Wo Bleibtreus Figur den Gruppenzusammenhalt unter den Gefangenen zerstört und fast alle gegen sich aufhetzt, fördert Brodys empathischere Figur die Solidarität, den kollektiven Widerstand der Gefangenen gegen die Wärter.

Eine ähnliche Wandlung hat Berus (Justus von Dohnanyi) alias Barris (Forest Whitaker), Anführer der Wärter, erfahren. War Berus ein kleiner Fluglotse, dessen Familie zerbrochen ist und der endlich Anerkennung aufgrund der Erniedrigung der Gefangenen bekommen will (über Respekt gegenüber seiner Autorität), pflegt Barris seine autoritäre Mutter und flüchtet sich in tiefreligiöse Überzeugungen inklusive Scheingerechtigkeiten. Beide weisen ein pedantisches Streben nach Ordnung auf, nach festen Strukturen, die nur sie selbst schaffen können, indem sie bestehende Normen und Regeln rigoros durchsetzen. Doch während Barris nach Befreiung, nach Umsturz und Ausbruch aus dem bisherigen Leben strebt, in dem er eingesperrt ist (evident: er rasiert sich eine Glatze), ist Berus an dem Ausleben eines Kontrollbedürfnisses gelegen, welches lange Zeit unter seiner Frustration schlummerte. Dieses offenbart sich in einem Videointerview, in welchem Berus die für ihn wichtige Tatsache erwähnt, dass er in etlichen Jahren seiner Tätigkeit noch nie zu spät gekommen ist.

Zusammenfassend lässt sich dabei festhalten, dass “Das Experiment” viel Wert auf die Plausibilität schleichender Verhaltensveränderungen unter der Versuchsanordnung legt, während bei “The Experiment” aufgrund einer auf Spannung und Zuspitzung ausgerichteten Inszenierung die psychologische Dimension in den Hintergrund tritt. Ein Vergleich zwischen Eckert (Timo Dierkes) und Chase (Cam Gigandet), welche beide dieselbe gewalttätige Figur mit sexualpathologischen Zügen (und schließlich: Vergewaltiger in spe) darstellen, ist dahingehend evident: Ersterer ist ein sexuell frustrierter, misogyner Elvisimitator, Letzterer ein promiskuitiver und dümmlich gezeichneter Frauenheld, der sich als Mehrwert von der Teilnahme an dem Gefängnisexperiment “Muschis” erhofft und in einer kurzen Rückblende beim Sex mit einer Frau auf einem WC gezeigt wird.

Wer gerne selbst einen Vergleich zwischen dem deutschen Original und dem amerikanischen Remake vornehmen möchte, kann das ab dem 02. Dezember tun. Dann wird „The Experiment“ auch in Deutschland auf DVD veröffentlicht. Meine Kritik zum Film findet ihr bei news.de.