Psychotische Ordnung – Psycho (USA 1960) & Braindead (NZ 1992)

Diesmal soll es um zwei Filme gehen, die keiner Vorstellung bedürfen. Dass jeder Psycho gesehen hat, setze ich einfach mal voraus, und sollte dies auf den Leser dieser Zeilen nicht zutreffen, dann sollte dieser auch nicht weiterlesen. Denn wenn es einen Film gibt, den man unvoreingenommen sehen sollte und bei dem jedes Wort ein Spoiler ist, dann dieser. Braindead hingegen lebt nicht wie “Psycho” von dem perfiden, kalt und perfekt inszenierten Terror, der in jeder seiner Wendungen steckt, sondern von seiner Anarchie und dem wild in Szene gesetzten Splatter. Splatter, der so bewusst übertrieben wird, dass er dem Zuschauer Lachsalve auf Lachsalve entlockt, denn, was man heute kaum noch bemerkt, Peter Jackson war einst ein großer Komiker. Und genau darin liegt die Differenz zwischen beiden Filmen begründet, die sich im Grunde nur in einem Punkt unterscheiden, der alle weiteren Ungleichheiten bedingt: der eine ist sehr sachlich und aufgeräumt, während der andere chaotisch und überschäumend ist.

Schaut man sich die Hauptsteller der beiden Filme an (wobei “Psycho” natürlich damit spielt, wer denn der Hauptdarsteller ist, doch nehme ich mir einfach heraus zu sagen, dass Norman derjenige welcher ist), so sieht man, dass beide Filme dieselbe Ausgangsposition haben, von denen sie sich diametral entgegengesetzt fortbewegen. Norman Bates und Lionel Cosgrove sind Mitte/Ende Zwanzig und leben mit einer dominanten Mutter zusammen. Beide schaffen es nicht sich von ihr zu lösen. Auch wie sie auf das Eindringen des weiblichen Geschlechts in ihre Welt reagieren, hat Ähnlichkeiten, doch hier fangen die Unterschiede an. Beide versuchen die Frauen zu verdrängen, doch der eine tötet dafür, während der andere den weniger radikalen Weg des Meidens sucht. Jeder dieser Wege erleidet einen fulminanten Schiffbruch an deren Ende die Zerrüttung Normans steht und die blutüberströmte Rettung Lionels. Der Schlüssel für diese ungleichen Verläufe liegt im Dreck begraben.

Wenden wir uns also erst einmal Norman Bates zu. Am Ende des Films erfahren wir, dass er seine Mutter umgebracht hat. Umgebracht weil sie nicht seiner Vorstellung einer reinen Mutter entsprach. Sie hatte eine Affäre. Sie hinterging so nicht nur Norman sondern auch seinen toten Vater. Ihr sexuelles Verlangen passte nicht in Normans Welt. Sie musste dafür bestraft werden, dass sie nicht die vollkommene Mutter war. His mother was a clinging, demanding woman and for years the two of them lived as if there was no one else in the world. Die Mutter, nach dem Tod ihres Mannes wohl selbst auf der Suche nach Stabilität, wurde zur Tyrannin für Norman und so zur Verkörperung seines Über-Ichs. Als sie diesen Anforderungen nicht gerecht wurde, tötete Norman sie und erschuf seine „perfekte“ Mutter in seinem Kopf. Eine Mutter die ihn zur Perfektion antrieb, weil sie diese verkörperte, und ihn ständig verlachte, weil er am Unmöglichen scheiterte.

Nur in seiner kleinen Welt schaffte er es Ordnung zu halten, von seiner Mutter angespornt. Schließlich ist das Über-Ich die Instanz der Regeln und des Gesetzes. Doch sobald eine Frau im Motel abstieg, die ihn erregte, bröckelte die Reinheit des Bates-Motels. Um es mit Klaus Theweleits fulminanten Buch „Männerphantasien“ zu sagen: Norman spürte in solchen Momenten seine Erektion bröckeln. Sein Ganzkörperpanzer, sein verkrampfter Versuch seine klar umrahmte (erigierte) Selbstdefinition aufrechtzuhalten, wäre durch Sex, Ejakulation, Entspannung zusammengebrochen. Aus Rache bringt Normans Mutter die Frauen um. Mord als Sexsubstitut. Die Überreste dieses Exzesses externalisiert Norman im entfernten Sumpf. Und man muss nicht „The pervert’s guide to cinema“ gesehen haben, um Normans Stolz nach dem Putzen des Bades nachvollziehen zu können. Das von Blut verdreckte Bad erstrahlt, als ob nichts geschehen wäre. Der Einbruch des Chaos der Welt ist verschwunden. Die perfekte kleine Welt, in der es weder Dreck noch Unsicherheit gibt, ist wieder hergestellt. Eine Welt, die Gefühlen feindlich entgegen steht. Deshalb ist die Wand von Normans Esszimmer auch mit ausgestopften Tieren übersät. Sie sind der Tod mit dem Norman sich umgibt. Damit ist nicht die Tötung von Frauen gemeint, sondern der Tod des Lebens… er kann das Leben nur noch akzeptieren, wenn es fein säuberlich an der Wand hängt und keine Probleme mehr macht. Auch Hitchcocks Inszenierung, ordentlich, sauber und rationell, spiegelt auf diese Weise Normans Subjektivität.

Lionel Cosgrove ist da etwas anders gestrickt. Die Welt, die seine Aufräumversuche sabotiert, die immer wieder Chaos in seine Ordnung einbrechen lässt, bringt in ihm die Erkenntnis zum reifen, dass er sich nur retten kann, wenn er sich mitten in den Sumpf schmeißt. Die Ursache für die aufziehende Flut an Körpersäften liegt wiedermal bei der Mutter. Diese verfolgt ihren Sohn bei seinem vielleicht ersten Date in den Zoo, um ihn zu kontrollieren… ihn und die Gefahr, verlassen zu werden. Als Lionel sein Date Paquita in den Arm nimmt, wird die Mutter prompt von einem Rattenaffenzombieirgendwas gebissen. Langsam aber sicher verwandelt sie sich in der Folgezeit in einen Zombie, der sehr viel Aufmerksamkeit beansprucht. Paquita verschwindet mehr und mehr aus dem Geschehen, welches vor allem aus Lionels Versuchen besteht, seine Mutter und ihre zunehmende Zahl an Opfern/Mitzombies im Keller vor der Öffentlichkeit zu verstecken. Er möchte die häusliche Ordnung wahren, doch immer mehr bricht das Unterdrückte in die Wirklichkeit. Es bleibt ihm nichts anderes übrig, als sich den untoten Massen zu stellen.

Lionel will wieder Ordnung herstellen, doch nicht die sterile Ordnung von Norman Bates sondern eine viel rudimentärere. Er will nicht den Stolz seiner Mutter, sondern die Befreiung. Folglich greift er nicht zum Wischmopp, sondern zum Häckselgerät seines Vertrauens und taucht die Szenerie in Schmutz, Schlamm, Schleim, Brei und Blut. Es folgt die Feier einer Erlösung. Mit jedem Tropfen blutigen Breis in seinem Gesicht fallen ihm unsägliche Lasten an Schuldgefühlen und Unsicherheiten von den Schultern. Nichts ist von den festen Konturen zu sehen, die Norman Bates so krampfhaft sucht. Alles löst sich auf in einem großen, undefinierbaren Mus. Was zu sehen ist, ist folglich nichts anderes, als dass Lionel sich mit seinen Gefühlen auseinandersetzt, dieser Schlick, unsagbar und ohne fest zu definierende Grenzen. Eben ganz im Gegenteil zu Norman, der seine Gefühle unterdrückt, der eine pervertierte, reine Ratio anwendet, um die Welt seinen Vorstellungen anzupassen und dadurch zu töten. Lionel aber kämpft sich zur Auflösung seines krankhaften Über-Ichs durch und lässt alle Dämme brechen, die er um sich errichtet hat.

Die wilde und keinesfalls perfekte Form des Films ist somit ebenfalls das optimale Vehikel, um diese Befreiung zu begehen. Denn letztlich ist die Machart des Films genau so breiig und nur mit minimalen Konturen versehen wie der gezeigte Sumpf aus Zombieüberresten. Es gab scheinbar keine Idee, die nicht sofort umgesetzt wurde … dramaturgisch passend oder nicht. Kung Fu Priester, kopulierende Zombies, intelligentes Gedärm, nichts zeigt der Anarchie (des Humors) Grenzen auf.

Das fulminante Ende von Braindead führt Lionel aber noch einmal in gefährliche Nähe zu Norman. Ersterer wird von seiner Mutter in deren Uterus zurückgesaugt. Das untote Mutter(Über-Ich-)monster bleibt zurück. Lionel droht wie Norman zu enden, doch er kämpft sich durch die Grenzen dieses Körpers zurück und wird ein zweites Mal geboren, inklusive einer Flut aus Blut und Nachgeburt. Der Film endet mit zwei von Schleim überzogenen Menschen, die sich, ohne sich zu säubern (und das ist das wahrlich Große des Films) küssen. Überzogen vom Schlabber der Untoten hat sich Lionel Cosgrove mit der Hilfe einer nicht weniger triefenden Paquita von seinen Komplexen befreit und ist so ein neuer Mensch geworden.

Damit soll nicht gesagt sein, dass man keinen Spaß dabei empfinden darf, wenn man mal wieder sein Badezimmer putzt und von dem angerichteten Blutbad befreit. Das kann man ruhig genießen, aber man sollte auch ab und zu genießen, in die Unordnung, in den Schlamm zu springen und den geliebten Menschen zu küssen, bevor man die Lippen von den Resten der Gedärme und Körperflüssigkeiten der umliegenden Kadaver befreit hat.

Verblümte Lügen – Ordet (DK 1954)

In „A Hundred Years of Japanese Film” unterscheidet Donald Richie zwischen zwei Formen der Realitätsdarstellung im Film: der Repräsentation und der Präsentation. Die Kunsttradition des Westens bis Ende des 19. Jahrhunderts ist die Repräsentation, die Nachahmung der Wirklichkeit. Das Kunstwerk versucht seine Künstlichkeit zu verstecken und so den Eindruck direkter Wirklichkeit zu erreichen. Im Film ist dies der Realismus: unauffällige Schnitte ohne erzählende Montage, alltägliche Geschichten einfacher Menschen, dezenter Musikeinsatz und so fort. Kurz, Filme die den Anschein einer direkten Wiedergabe der „objektiven“ Realität erreichen wollen.

In der Moderne und im traditionellen Japan wird Kunst eher als Präsentation verstanden. Ikebana oder japanische Gärten sind hier hilfreiche Beispiele. Ein Urwald hatte im traditionellen Japan nichts natürliches. Erst der Eingriff des Menschen, der ihn Form und Sinn gibt, lässt Natur entstehen. So ist es im präsentativen Film erst die menschliche Aufbereitung, die aus Sicht einer repräsentativen Kunsttradition als Verfremdung wahrgenommen wird, die Wirklichkeit entstehen lässt. Überspitzt gesagt, erst Montage, expressionistische Schatten, Surrealismus, wilde Schießereien, Musical-Einlagen, seltsam redende Zwerge usf. können die Wirklichkeit des Menschen erfassen und erfahrbar machen.

Sicherlich sind diese beiden Positionen sehr grob und die Grenzen verlaufen fließend, darüber ist sich Richie auch im Klaren, aber doch sind sie sehr hilfreich … und auch sehr subjektiv, womit wir endlich bei Ordet (“Das Wort”) angelangt sind. Es ist Carl Theodor Dreyers vorletzter Spielfilm und typisch für sein Spätwerk, das nur vier Filme in drei Jahrzehnten umfasst. In diesem setzt er sich auf einem dänischen Bauernhof in den zwanziger Jahren mit Glauben, Religion und Christentum auseinander.

Auf dem Borgenhof lebt der alte Morten Borgen mit seinen drei Söhnen. Der Älteste, Mikkel, und seine schwangere Frau Inger stehen kurz davor, ein weiteres Kind zu bekommen. Der zweite Sohn, Johannes, ist während des Theologiestudiums verrückt geworden und hält sich für Jesus persönlich. Der jüngste Sohn, Anders, hat sich in die Tochter des Schneiders Peter Petersen verliebt und möchte diese heiraten. Das Problem dabei ist, dass Morten und Petersen tief verfeindet sind, da sie die geistigen Oberhäupter zweier im Dorf konkurrierenden evangelischen Glaubensbekenntnissen sind. Der Film ist aber kein weiterer Romeo & Julia-Aufguss, sondern eine Meditation über den Glauben. Alle drei Handlungsstränge stellen die Frage nach der Wahrhaftigkeit von Glauben, nach dem Wert des Glaubens fürs Leben und dem Wert des Lebens für den Glauben. Interesse an Religion, und wenn es nur der Glaube an den Atheismus ist, sollte man für diesen Film haben.

Der Stil des Films stellt nun einen wichtigen Schlüssel für das Verständnis der Handlung dar. Lange Einstellungen, wenig Musik und eine irgendwie doch alltägliche Geschichte – es scheint klar, dass es sich um einen realistischen Film handelt. Doch der Realismus ist sehr spröde, das Schauspiel extrem hölzern, die Dialoge werde noch steifer vorgetragen, als sie  es sowieso schon sind. Die Figuren agieren wie Roboter, die ihren Text aufsagen. Jedes Leben ist aus ihnen gewichen. Sie scheinen in den entrückten Bildern auf der Leinwand gefangen zu sein… wie in ihrem Leben. Der Film besteht aus Gemälden trostlosen Seins. Tristesse kann kaum eindrucksvoller dargestellt werden. Der psychologisierende Stil des Kammerspiels, auf den der Film basiert, wird so von Dreyer ad absurdum geführt. Die Worte, die eigentlich die Menschen charakterisieren sollen, bleiben an der toten Oberfläche der leblosen Figuren. Und genau das ist der Punkt, an dem man sich entscheiden muss: ist der Realismus des Films gescheitert oder vielleicht soll es gar nicht realistisch sein? Entweder sind die Schauspieler und das Drehbuch schlecht oder diese verzerrende Form, dieser Expressionismus soll zeigen, dass die Religiosität der Figuren nur eine Maske ist, die ihre innere Leere verdecken soll.

Doch es gibt einen Moment nach dreiviertel des Films, der mehr noch als die von Edvard Munch inspirierte Kamera und das Schauspiel zeigen, dass Dreyers Realismus nicht scheitert, sondern dass Ordet gar nicht realistisch sein möchte. Nachdem der Tod auf dem Borgenhof zugeschlagen hat und Johannes verschwindet, verschwindet mit ihm der karge Stil Dreyers. Douglas Sirk scheint die Regie an sich gerissen zu haben. Die Filmmusik trieft plötzlich aus den Boxen, Wischblenden wo man hinschaut, aber vor allem scheinen die Menschen plötzlich wie zum Leben erweckt. Doch sie haben nicht zu einer tiefen Erfahrung des Lebens gefunden, sondern versuchen nur ihre weitere Leere und ihre Hilflosigkeit mit Melodramatik zu überdecken. Darüber hinaus ist der Film aber in dieser Sequenz viel realistischer, wie eine Erlösung beobachtet man die Belebung der Menschen, nur um wenig später zu erkennen, dass man getäuscht wurde. Die Figuren fallen wieder in den alten Trott. So kann dieser kurze Teil als sarkastischer Kommentar über die Lüge des Realismus-Eindrucks verstanden werden, denn: „Film, das ist 24 mal in der Sekunde Lüge, und weil alles Lüge ist, ist es auch die Wahrheit. Und, dass Wahrheit eben Lüge ist, das gibt jeder Film preis. Es ist nur, dass im Film Begriffe die Lüge tarnen und sie als Wahrheit erklären. Das ist für mich die winzige und einzige Utopie.“, wie Fassbinder Eddie Constantine in “Die dritte Generation” sagen lässt. Dreyer tarnt dabei, gerade in dem er die Tarnung auffliegen lässt. Er zeigt, dass er die Dinge nicht zeigt, wie sie sind, und macht das Erlebnis seiner Filme nur umso größer, da wir ihm nur umso mehr glauben.

Am Ende steht ein Film von monumentaler Größe, eigensinnig und wunderschön inszeniert, und mit dem radikalsten Ende, mit dem man in der zweiten Hälfte des 21. Jahrhundert einen Film beschließen kann.

Kontrapunkt: Halloween – Die familiäre Triade

Pünktlich zu Halloween habe ich mir John Carpenters Klassiker des Slasher-Films noch einmal angeschaut. Doch neben einer nahezu perfekten Spannungskurve und einer äußerst subtilen Inszenierung sind mir bei der nunmehr vierten oder fünften Sichtung von Halloween – Die Nacht des Grauens auch andere Dinge aufgefallen: Der auffällige Umgang mit der Zahl Drei und – damit verknüpft – das Motiv der Familie.

Die erste Auffälligkeit gleich zu Beginn, zum Prolog im Jahre 1963: Der kleine Michael beobachtet aus einem Point-of-View das Herumalbern seiner Schwester Judith mit ihrem Freund. Er geht um das Haus herum, betritt es durch den Hintereingang. Erst läuft er durch die Küche, schnappt sich ein Messer, dann läuft er durchs Esszimmer. In der Mitte ein Tisch, an dem exakt drei Stühle stehen. Schon seltsam, wenn die Familie Myers aus fünf Mitgliedern, Eltern und drei Kindern, besteht. In dem Moment, in welchem Michael seine Schwester tötet, sind seine Eltern abwesend. Die familiäre Triade – Vater, Mutter, Kind – ist aufgebrochen, auch eine Ersatzfamilie als sozialer Kontrollmechanismus des Verhaltens ist durch das Verschwinden von Judiths Freund nicht vorhanden.

In diese Leerstelle sticht Michael Myers als Sanktionierung des unzüchtigen Fehlverhaltens buchstäblich mit dem Messer hinein. Als er dann, als seine Eltern nach Hause kommen, mit der Rüge seines kolossalen Fehlverhaltens, indem er mit seinem Status als Störfaktor der familiären Ordnung konfrontiert wird, reagiert er mit einem Schock. Einem anhaltender Schockzustand, der sich in der fehlenden Differenzierung von Gut und Böse, richtig oder falsch und dem Fehlen jeglicher Moral manifestiert, wie Psychiater Dr. Loomis (Donald Pleasance) Michaels Psyche später beschreibt.

In der Halloween-Nacht 1978* fallen Michael Myers drei Teenager zum Opfer. Allesamt jedoch nicht in den Momenten ihrer körperlichen Zusammenkunft, sondern in der Situation davor oder danach, im Zustand, als die Paar-Dyade aufgesprengt ist. Annie wird im Auto von Michael getötet, als sie zu ihrem Freund fahren will – also in dem Moment, als sie ihre Aufsichts-, also Fürsorgepflicht als Babysitterin vernachlässigt und auch so die funktionierende (Ersatz-)Mutter-Kind-Dyade aufsprengt. Lynda und Bob werden auch erst nach dem Sex von Michael getötet, als Bob Bier holen geht und sich das Paar physisch voneinander trennt. Dennoch tritt Michael Myers immer als Störfaktor auf, dringt in die Privatsphäre der Paare ein und irritiert durch sein Wahrnehmen der amourösen Paar-Gefühle des „sensitiven Verbundenseins“**. Aus diesem Grunde wird jedes Mal die Zweisamkeit aufgebrochen, bleibt das Paargefüge ungleich seiner Eltern nicht intakt.

Die letzten Minuten des Films sind dabei der Supergau der Dreierkonstellationen. Erst findet Laurie Strode (Jamie Lee Curtis) die drei Leichen ihrer Freunde, wobei der Grabstein über Annies Leiche, die auf dem Bett mit ausgebreiteten Armen drapiert wurde, auf die Geschichte der Familie Myers hinweist, gleichzeitig jedoch auf die zerstörte (Ersatz-)Familientriade referiert. Dann werden die drei bis dahin parallel verlaufenden Handlungsstränge um Loomis’ Ermittlungen, Myers’ Heimkommen nach Haddonfield und Laurie Strodes Vorbereitungen auf den Halloween-Abend zusammengeführt. Laurie erlebt die größte und unmittelbarste Bedrohung für ihr Leben, als sie mit den beiden Kindern, Tommy und Lindsay allein ist, also in einer Situation, in der eine „Störung (…) der reinen und unmittelbaren Gegenseitigkeit“*** stattfindet. Lindsay wurde zuvor von Annie bei Laurie abgeliefert und just in diesem Moment schreitet Michael Myers zum ersten Mal in der Halloween-Nacht zur Tat.

Beim Showdown treffen wir die Zahl Drei wieder an. Mit der Ankunft von Dr. Loomis im Haus entsteht wieder die Dreierkonstellation, allerdings in pervertierter Form. Bruder und Schwester werden in einer nahezu inzestuösen Intimsituation überrascht, in der der Tötungstrieb anstelle des Sexualtriebs getreten ist. Loomis wird zum störenden Dritten, trennt die pervertierte Dyade durch seine Handfeuerwaffe. Michael Myers stirbt den dritten seiner drei Tode (Nadel im Hals, Messer im Bauch, erschossen).

* Dieser Essay bezieht sich nur auf die Geschehnisse von Teil eins.
** Georg Simmel: „Die quantitative Bestimmtheit der Gruppe“. In: ders.: „Schriften zur Soziologie“, S. 258
*** ebd., S. 259

Der Mythos der Realität – Medea (I/BRD/F 1969)

Zum 200. Geburtstag wurde die Schlacht von Jena-Auerstedt 2006 als Kissenschlacht nachgestellt. Ob der Initiator Pasolini-Fan ist, entzieht sich meines Wissens, aber doch zieht sich der Geist Pasolinis durch eine solche Aktion. Filme wie „Das 1. Evangelium nach Matthäus“, „Edipo Re“ oder eben Medea sind von Menschen in lächerlichen Kostümen bevölkert. Musik von anderen Kontinenten und anderen Zeiten liegt über dem Geschehen, die Kameraarbeit erinnert teilweise an zweitklassige Dokumentation. Das Paradigma der historischen Genauigkeit, der Realitätsdarstellung wird mit Füßen getreten. Alles sieht künstlich und vieles billig aus. Aber man sollte sich nicht täuschen, es liegt kein Budgetproblem vor. Genau in diesem Umgang mit der Realität liegt die Klasse dieser Filme. Es wird dem Zuschauer nicht vorgegaukelt, ein historisches Geschehen zu verfolgen, nein … wenn der Zuschauer diese Illusion haben möchte, dann muss er sie selbst aufbauen, sonst sieht er nur schlechte Schauspieler, die mehrfach in provinzielle Theaterumkleiden gefallen sind. Doch gerade durch diese „verfehlte“ Illusion liegt das Augenmerk auf dem Unterschied zwischen einer „objektiven“ Realität und dessen fiktionalen Aufbereitung/Verarbeitung in Form einer Geschichte. Damit ist Pier Paolo Pasolinis Bruch mit dem Neorealismus nicht weniger radikal als der Antonionis oder Fellinis, in deren Schatten er als „Skandalregisseur“ sein Dasein zu fristen scheint.

„Medea“ behandelt nun vornehmlich auch dies, die Lücke zwischen Mythos und Realität, Bild und Sprache, Gefühl und Ratio, Antike und Moderne. Natürlich geht es auch irgendwo um Jason, Argonauten und goldene Vliese. Am Anfang predigt ein Kentaur zum aufwachsenden Jason und erzählt von Göttern, dass Jasons Thronfolge durch dessen Onkel verhindert wird und über Mythos und Realität. Dass nur der Mythos die Realität erschaffen könne, denn Fiktion hält die Realität zusammen. Er redet bis Jason das Reich der Moderne, des Verstandes verlässt, in dem er aufgewachsen ist, um Thronfolger zu werden. Er begibt sich in das Land der Bilder, des Mythos und der Gefühle und das heißt Schweigen. Schweigen für lange Zeit. Ein Schweigen, dass mit den Vorstellungen von den entsetzten Gesichtern von Schülern und Studenten, die dachten, sie könnten den Film gucken, damit sie das Buch von Euripides nicht lesen müssen, angefüllt sind. Denn was folgt ist harte, Sitzfleisch erwartende Kinokost.

Über weite Strecken ist Medea ein Film ohne gesprochenes Wort, dem man nur mit Konzentration die Grundgeschichte abkämpfen kann: Medea (gespielt von Maria Callas Callas) hilft Jason das goldene Vlies zu rauben. Er wird trotzdem kein Thronfolger und hat zwei Kinder mit Medea. Nach zehn Jahren verlässt er sie, um in ein anderes Königreich einzuheiraten. Doch an Euripides ist Pasolini kaum interessiert. Die Geschichte bildet nur den Rahmen für die symbolisch aufgeladenen Bilder zur Erörterung der Beschaffenheit der Wahrnehmung der Realität. Besonders der Arbeit von Ennio Guarnieri (Kamera) und Nino Baragli (Schnitt) ist es zu verdanken, dass der Film eine fremde, magische Welt zeigt … eine Welt der Gefühle und des Traums. Niederschmetternde, monumentale Bilder wechseln sich ab mit besagten symbolisch überladenen oder geradezu lächerlich billigen Aufnahmen. Der Schnitt hinterlässt Fragen, statt diese zu beantworten. Rationell nicht immer zu erfassen, versucht „Medea“ die poetische Annäherung an das Problem der Kommunikation zwischen Gefühl und Verstand.

Bevor Jason also seine Frau und Kinder verlässt, taucht der Kentaur wieder auf und predigt: zwischen Jason, dem Verstand, und Medea, dem Gefühl, liegt eine Lücke. Medea versucht aus Liebe, diese zu schließen, endet aber entfremdet von sich und enttäuscht von ihrem Geliebten, der sich von ihr abwendet. Hass wächst in ihr heran. Sie kehrt zu ihren Wurzeln zurück, wie sie sagt. Die Bilder übernehmen wieder die Macht und Medea ergreift mit ihnen die Macht über die Welt. Das Bild von Medea wird mit den Bildern von Landschaften und Geschehen überlagert. Der Blick der Callas lässt keinen Zweifel, die Welt steht unter ihrem Bann … in ihrer Vorstellung. Doch gerade die Vorstellungen geben ihr die Macht, die Welt zu beeinflussen. Damit fängt sie an, eine Sprache zu sprechen, die auch Jason versteht, die Sprache des Schmerzes.

„Medea“ ist nicht gerade ein Unterhaltungsfilm, wenn man dies erwartet, wird man wohl am ehesten angeödet sein. Wenn man sich aber darauf einlässt, erhält man einen bemerkenswerten Film, der versucht, Gefühl ebenso wie Verstand anzusprechen.

Hinter den Kulissen – Meshi (Naruse Mikio/1951) & House of Bamboo (Samuel Fuller/1955)

In der neuen Rubrik “Recall” wird Robert a.k.a. vannorden regelmäßig in den Annalen der Filmgeschichte kramen und in Gestalt von Texten im Grenzbereich zwischen Kritik und Essay seine Ergebnisse präsentieren. In der ersten Ausgabe stellt er Naruses “Meshi” Samuel Fullers amerikanischen Blick auf Japan in “House of Bamboo” gegenüber.

Zwei Filme wie sie unterschiedlicher nicht sein könnten. Ein old school Actionthriller der ruppigen Sorte und ein Familiendrama voll Feingefühl. Aber doch behandeln sie dasselbe. Oder eigentlich auch nicht dasselbe. Sie erzählen von Japan in der Nachkriegszeit. Japan unter dem Einfluss der Moderne oder Amerikas, wie man es sieht. Doch während Fullers “House of Bamboo” einen Blick hinter die Fassade Japans wirft und dort das amerikanische Grauen findet, entdeckt „Meshi“ (Das Mahl) von Naruse dort das Nichts… die Leere der Realität, die mit dem täglichen Leben zu füllen ist. Doch der Reihe nach.

Meshi ist mehr oder weniger ein typischer Vertreter des Shomingeki-Genres, also ein Familiendrama, welches die untere Mittelklasse behandelt. In diesem geht es nun um Michiyo, die nach zwei Jahren Ehe erkennt, dass sie herb enttäuscht ist… von ihrem Mann, der Ehe und ihrem Leben. Tagein, tagaus muss sie dieselben Arbeiten verrichten, nichts Neues geschieht. Mit der Monotonie der Tage hat sie ihre Individualität verloren. Ihr Mann verdient gerade genug um sie über Wasser zu halten. Folglich herrscht das harte Regiment der Sparsamkeit, dem sie jede Annehmlichkeit (für ihren Mann) abkämpfen muss. Ihr Mann beachtet sie auch kaum noch. So allein gelassen, fühlt sie sich vom Leben verraten.

Folgen hat das aber erst als Satako, die Nichte ihres Mannes, zu Besuch kommt. Diese nimmt sich alles heraus, was sich Michiyo nicht gestattet; Freizeit, Vergnügen, Geld verschwenden, ein unabhängiges Leben (als Tänzerin und ohne Heirat). Zudem bekommt die Besucherin von ihrem Mann Zuwendung und Aufmerksamkeit. In Angesicht dieses unbekümmerten Mädchens beginnt der Käfig ihrer Ehe unerträglich zu kratzen. Michiyo flieht zu ihrer Mutter und ihrem Bruder nach Tokio. Dort bekommt sie aber dieselbe Antipathie zu spüren, welche sie Satako spüren ließ, denn bei ihrer Familie wird sie selbst als das unbekümmerte Mädchen wahrgenommen, das vor dem Ernst des Lebens flieht.

Ob sie am Ende zu ihrem Mann zurückkehrt, eine Affäre mit ihrem reichen Cousin anfängt oder versucht ein unabhängiges Leben allein zuführen, sei dahin gestellt. Wie jedoch die Ausweglosigkeit der Situation Michiyos dargestellt wird, zeigt die große Virtuosität Naruses. Formal sehr streng ausgeführt, mit Bildern die vor Kälte klirren, entwirft er ein Land der Tristesse. Die Bildsprache unterstreicht dies nur mehr. Ohne Blick für oberflächliche Ästhetik fotografiert Naruse Menschen in ihrer Welt. Die Inszenierung beschränkt sich dabei auf die heimische Gasse, die aus verschiedensten Wickeln fotografiert wird und so nur die Entfremdung des Raums hinterlässt. Gleiche Perspektiven gibt es nur bei gleicher Tätigkeit, was lediglich die Monotonie unterstreicht. Diese Regel wird auch nur einmal bedeutsam gebrochen. Also Entfremdung an allen Ecken.

Nicht das Humor und Wärme fehlen würden, auch diese hat der Film, aber sie scheinen unter Missgunst, Armut und der Qual des Lebens zu ersticken. So flieht Michiyo vor der aufreibenden Einförmigkeit der Ehe, findet aber keine Alternativen. Sie liebt ihren Mann, aber nicht das Eheleben und nur wegen Geld zu heiraten, verspricht auch kein Glück. Aber vor allem ihr Wunsch, alleine zu leben und ihre Freiheit finden, ist nicht zu verwirklichen. Die ständigen Vorwürfe über ihr Verhalten, die am Ende jeder Unterhaltung stehen, die Unmöglichkeit einen Job zu finden, herzzerreißend am Schicksal einer alleinerziehende Mutter dargestellt, lassen die Vermutung in ihr reifen, dass man als Frau (in Japan) nur in der Jugend eine angenehme Zeit verleben kann. Das Leben der Erwachsenen ist von Qual und Zerrissenheit beherrscht, welche die Widersprüchlichkeit Japans, hin und hergerissen zwischen Tradition und Moderne, spiegeln. Naruse blickt hinter die Maske eines wieder aufstehenden, sich modernisierenden Japans und findet nur die Leere… durch die angsterfüllte Kälte der Menschen erzeugt. Liebevoller, herzlicher Menschen, die gar nicht anders können, als aneinander vorbei zu leben. Am Ende steht bei Naruse auch nicht wie meist bei seinem großen Regiekollegen Ozu die Kommunion mit der Welt und ihren Leiden, sondern die Wertschätzung der Verlierer, die trotz aller Qualen am Leben bleiben. Und ja, die abschließenden Worte sind höchst diskussionswürdig, aber sie sind der einzige schwerwiegende Makel eines wunderbaren Films.

House of Bamboo bezieht sich nun auf dieselbe Welt, ein Japan, dass zwischen Tradition und Moderne gefangen scheint, doch hinter den Kulissen findet Samuel Fuller etwas ganz anderes. Erst einmal stirbt aber ein Amerikaner in Tokio. Ermordet mit derselben Waffe, die schon während eines Überfalls auf einen amerikanischen Waffentransport benutzt wurde. Amerikanische und japanische Behörden arbeiten nun zusammen, um die Verbrecher zu fassen. Eddie Spanier, ein Freund des toten Amerikaners kommt ebenfalls ins Land der aufgehenden Sonne und gelangt ins Innere des verantwortlichen Kartells, bestehend aus ehemaligen amerikanischen Soldaten. Den Gangstern wird nun vom Inneren und Äußeren eingeheizt, doch der wahre Feind sitzt ganz wo anders.

Die Zutaten dieses für Fuller typischen Filmes sind Paranoia, hypermaskuline Männer, samuraiartige Gangster und ein Japan unter amerikanischen Einfluss. Während bei Meshi der Einfluss Amerikas/des Westens durch billigen Importreis, billige westliche Kleidung oder kapitalistische Spekulationsgeschäfte sehr dezent angedeutet wird (wie vieles Zentrale eher angedeutet als ausbuchstabiert wird), zeigt House of Bamboo diesen mit dem Holzhammer. Wer bei Samuel Fuller Dezenz erwartet, ist sowieso an den falschen geraten. Er ist schließlich „die Faust des Kinos“. Doch man darf seine Filme nicht mit Trash verwechseln. Neben all dem Schund in den Dialogen und den Charakterzeichnungen steht die große Kunst, neben Männlichkeits- und Gewaltglorifizierung eine sensible Seele, alles untrennbar miteinander verbunden. Dies wird in einer Einstellung in „House of Bamboo“ deutlich. Eddie Spanier, der versucht als Schutzgelderpresser über die Runden zu kommen, wird von zwei Japanern durch eine traditionelle Papierwand geworfen und der Blick wird frei gegeben auf Sandy Dawson (gespielt vom großartigen Robert Ryan), der umgeben von seinen Schergen über der Szene thront. Das Bild ist klar, hinter der japanischen Fassade steckt die amerikanische Hegemonie.

Doch Fullers Japan hat nicht viel mit Naruses Japan gemein. Wenn nicht der Fuji(yama) im Hintergrund zu sehen wäre, könnte man denken, dass die Handlung nicht in Tokio, Japan, sondern in Tokio, Tennessee stattfinden würde. So fällt eine Japanerin einem fremden Mann in die Arme und weint. In „Meshi“ braucht man lediglich die eigenen Hände, um die Berührungen unter den Menschen zu zählen. Dieser expressionistische Gefühlsausbruch ist Teil Hollywoods und nicht Japans. An vielen Stellen kann man erkennen: Fuller ist weniger an einer japanischen Realität interessiert als an einer Erörterung amerikanischer Probleme. Hinter der japanischen Fassade entdeckt er einen sich ausbreitenden, paranoiden, amerikanischen Krebs. Aber er ist zu wenig scheinheilig, um Sandy Dawson zu verteufeln, weshalb man einen differenzierten, unmoralischen Film bekommt, voller cooler, zerrissener Gangster, die so flach sind wie die Leinwand, auf die sie projiziert werden. Mit allem Respekt.