Kontrapunkt: Schilf – Als Komparse am Set in Jena

Es war 09.30 Uhr, als ich mich auf dem Holzweg befand. Nicht im übertragenen Sinne des Wortes, sondern auf der gleichnamigen Straße vom Ziegenhainer Tal Richtung Wanderparkplatz Fuchsturm. Ein steiler Anstieg, der mich am Morgen des 12. Mai 2011 ins Schwitzen brachte. Es war ein Tag eines ganzen Monats Dreharbeiten, die das Team von Schilf in Jena und Umgebung filmten – und ich war mittendrin. Im botanischen Garten wurden Tage zuvor schon Aufnahmen gemacht, in der kleinen Raucherkneipe „Quirinus“ und, bei einem Film um zwei Physiker kaum verwunderlich, in verschiedenen Räumlichkeiten und Hörsälen der Friedrich-Schiller-Universität Jena. Insgesamt vier Mal war ich mit dabei – als Komparse.

Lange stieg ich hinauf, bis ich auf Beteiligte eines Filmteams traf. Beleuchter, die gerade metergroße, faltbare Lampenschirme zwischen allerlei Geäst im Wald platzierten, Fahrer und Co. schickten mich zur „Basis“, den Wanderparkplatz. Meine Rolle war an diesem Tag die eines Polizisten der Spurensicherung und ich sollte mit einem „Kollegen“ ein Fahrrad von einem Abhang auf die Straße hieven und dann in einen VW Caddy packen. Die Schauspieler Bernhard Conrad und Sandra Borgmann spielten Ermittler, die nach einem Fahrradunfall gerade einen Tatort sichern und den heranfahrenden Physikprofessor Mark Waschke verdächtig beäugen (Foto – bereitgestellt vom X-Verleih). Ich tat meine Arbeit freilich im Hintergrund, unauffällig und stumm und bin für den Zuschauer im Kino hinterher kaum zu erkennen. Wenn ein Komparse Glück hat, darf er für wenige Sekunden sichtbar durchs Bild huschen (wie ich beim Dreh einige Tage später in einem zur Polizeistation umdekorierten Gebäude in Weimar).

 Knapp vier Stunden dauerten diese Aufnahmen und jedes Mal hieß es „Danke!“, wenn der Take zuende gedreht war und „Bitte!“, wenn es wieder vom Anfang losging. An diesem Drehtag wurden nur wenige Komparsen gebraucht, insgesamt nicht mehr als zehn. Drei von ihnen waren echte Polizisten, die über eine darauf spezialisierte Agentur gebucht wurden. Die Gesetzeshüter reisten aus Berlin an und brachten Lederjacken mit Abzeichen, die Overalls der Spurensicherung, Polizeiautos mit Magnetlettern des Schriftzugs und einem abnehmbaren Sirenenaufbau gleich mit. Ihr Einsatz beim Film ist dabei eine willkommene Abwechslung zum Dienst auf der Wache und zuletzt waren sie in einer ZDF-Krimiserie zu sehen. Dort wurde freilich schneller gedreht, Szenen wären schneller im Kasten, versicherte mir einer von ihnen zunehmend genervt, als wieder einmal Warten angesagt war – die grundsätzliche „Tätigkeit“ eines Komparsen.

Umbaupausen waren auch dabei, will die Szenerie doch aus mehreren Blickwinkeln aufgenommen werden, damit Regisseurin Claudia Lehmann und Schnittmeister Nikolai Hartmann sich später die beste davon aussuchen können. Und so wurde einmal aus einem heran fahrenden Auto heraus gefilmt, von oben hinab aufs Auto, einmal stand die Kamera unmittelbar vor Bernhard Konrad und Sandra Borgmann. Immer wieder wurde die Szene, die im fertigen Film nur wenige Sekunden ausmacht, wiederholt.

Immer wieder wurden die Komparsen „auf Anfang“ gestellt, mussten spielen oder hatten Pausen, wenn sie nicht im Bildausschnitt auftauchen sollten. Aufgrund von warmen Temperaturen schwitzte ich im Overall zusehends und sehnte das Ende herbei, weil auch das aus Obst und Plätzchen und Keksen bestehende Catering auf einer provisorischen Bierzeltgarnitur nahe dem Set irgendwann keinen Reiz mehr auf mich ausübte. Gegen 15.30 Uhr war dann alles im Kasten und es ging verspätet in die Mittagspause – ohne Zwischenfälle. Andere Komparsen beim Dreh am Weimarer Hauptbahnhof (Foto) hatten da weniger Glück, schlossen sich die Zugtüren doch schneller als erwartet. Nächster Halt: Leipzig – ohne Fahrkarte.

Eine anstrengende, aber auch interessante Erfahrung war es, mal bei einem Film mitzuwirken. Aber es hat trotz aller Anstrengungen und allen Wartens Spaß gemacht. Als ich nach Hause ging, drehte das Filmteam fleißig weiter. Spätestens dann war ich froh, „nur Komparse“ gewesen zu sein.

Dieser Artikel ist in einer leicht geänderten Version zuerst im Lokalteil Jena der Ostthüringer Zeitung OTZ erschienen. “Schilf” läuft seit Donnerstag, den 08. März bundesweit im Kino.

Kontrapunkt: Filmrolle Berlinale 2012

Hier werden meine persönlichen 13 Filmeindrücke von Samstag, dem 11. bis Freitag, dem 17. Februar auf dem größten Publikumsfestival der Welt rekapituliert.

Dollhouse (IRL 2012) – Panorama

Die Irin Kirsten Sheridan drehte vier Jahre nach “Der Klang des Herzens” wieder in ihrer Heimat. Ihr mit Handkamera gefilmtes Drama um die überraschende Einblicke hervorbringende Destruction-Party in einem leerstehendem Haus spielt mit den Dualismen Ordnung und Chaos, Leben und Tod, kindliche Sorglosigkeit und erwachsenem Übernehmen von Verantwortung. Maßgeblich zu einer unwirklichen, träumerischen Atmosphäre tragen auch eingespielte Songs von Dead Man’s Bones bei, welche von Schauspieler Ryan Gosling mitgegründet wurde. “Independent” wird also auch auf der Tonspur groß geschrieben. Schade ist indes, dass der Film keine Auflösung seines thematisierten Konflikts präsentiert, sondern sich abrupt aus der Affäre stiehlt und Vieles unerklärt lässt.

The Woman in the Septic Tank (RP 2011) – Forum

Ein Film übers Filmemachen – nicht aus den USA, sondern aus dem Indenpendent-Kino der Philippinen. Sämtliche Inszenierungsweisen innerhalb eines Films im Film (Arme Mutter verkauft ihr Kind an einen Pädophilen) werden durchdekliniert – unterlegt mit einem das Drehbuch rezitierendem Voice Over. Mal albern, mal urkomisch wird in wackeligen Handkamerabildern von den Klischees des philippinischen Kinos erzählt mit der großartigen Eugene Domingo, die neben “Elevator”-Schauspiel noch zwei weitere Arten sehr anschaulich darstellt und mit soviel Selbstironie die Lacher auf ihrer Seite hat.

Barbara (D 2012) – Wettbewerb

Sachlich-nüchtern wie immer inszeniert Christian Petzold dieses Drama um die Assistenz-Ärztin Barbara (Nina Hoss), die aus der DDR des Jahres 1980 ausreisen will. Doch trotz einer West-Bekanntschaft (Mark Waschke) und Stasi-Willkür fällt ihr die Entscheidung, die ostdeutsche Provinz zu verlassen, zunehmend schwer – auch weil sich Oberarzt André (Ronald Zehrfeld) als liebenswerter und verständnisvoller Kollege entpuppt. Nina Hoss’ reduziertes Mienenspiel und eine nahezu statische Kamera, die zugunsten vieler Schnitte kaum fährt oder schwenkt, passen zur bedrückenden Enge des kontrollierten Lebens im Arbeiter-und-Bauern-Staat. “Barbara” wohnt gar eine beeindruckende Spannung inne, die durch ein subtiles, aber omnipräsentes Zeitkolorit noch verstärkt wird.

Don – The King Is Back (IND/D 2011)Berlinale Special

Wie würde Bollywoods Antwort auf “Mission: Impossible” wohl aussehen? Genauso wie diese Shah Rukh Khan-Egoshow vermutlich, die jedoch durch Selbstironie und beeindruckende Actionsequenzen mit unterschiedlichsten Stilmitteln (Zeitlupen, Zeitraffer, Kranfahrten, Jump Cuts) in keiner der 140 Minuten langweilt. Der großspurige Pate Don (Khan) plant mit seinen Kumpels einen Coup auf die Deutsche Zentralbank und will Druckerplatten für Euro-Scheine stehlen. Interpol – einer der Agenten: der sträflich unterforderte Florian Lukas – hat jedoch etwas dagegen und so kommt es zu einem temporeichen Katz-und-Maus-Spiel, auch weil Don plötzlich von allen Kollegen verraten wird.

Dictado (Childish Games, E 2012) – Wettbewerb

Ein solide inszenierter Psychothriller aus Spanien, bei dem Lehrer Daniel (Juan Diego Botto) nach dem Tod seines Freundes Mario in dessen Tochter Julia das nicht gealterte Mädchen Clara zu entdecken glaubt, dessen Tod die beiden Männer in Kindertagen verschuldeten. Beunruhigend anschwellende Streicher und ein annehmbarer Spannungsbogen können nicht darüber hinweg trösten, dass man sich nur in einem wenig originellen Aufguss von Hitchcocks “Vertigo” befindet, dem am Ende dann gänzlich die  eigenen Ideen ausgehen. Und: Was hat dieser durchschnittliche Film eigentlich in einem internationalen Wettbewerb verloren?

Spanien (A/BG 2012) – Forum

Innerhalb der bedrückenden Stimmung dieses in Niederösterreich spielenden Episodenfilms begegnen sich alle der Beteiligten durch Zufälle. Dabei spielen Glaube und eine biblische Aufladung der Figuren eine große Rolle, da Gottesfurcht der Antrieb von Protagonist Sava (Grégoire Colin) als illegaler Migrant ist und Regisseurin Anja Salomonowitz das Motiv des Füßewaschens und der in einer Kirche herumkrabbelnden Ameisen als entsprechende Bezüge einsetzte, wie sie im anschließenden Q&A verriet. Ein nachdenkliches, intensives Drama um Geschichten, die das Leben schreibt und Alltagsprobleme spiegelt. Nur wenige Klischees stechen dabei etwas negativ hervor.

Shadow Dancer(GB 2012) – Wettbewerb

Ebenso bieder erzählter wie inszenierter Thriller im historische Bedeutung evozierenden Grauschleier-Look um den Nordirland-Konflikt, in welchem Attentäterin Colette (Andrea Riseborough) Anfang der 90er Jahre zur Zusammenarbeit mit MI5-Mann Mac (Clive Owen) gezwungen wird. Dieser stellt ihre Sicherheit an erste, die “Mission”, Informationen über die geplanten Aktionen ihrer Brüder zu beschaffen, an die zweite Stelle und zieht damit den Unmut seiner Kollegen (u.a. Gillian Anderson) auf sich. Brisantes politisches Thema, nüchterne Umsetzung – so hat man es gern auf der Berlinale. Dennoch wäre dieser Film im Fernsehen besser aufgehoben und verliert im Direktvergleich zu Hirschbiegels “Five Minutes of Heaven” und Tykwers “Heaven” (zu denen er zumindest vage Bezüge herstellt) deutlich.

Bugis Street Redux (SGP/HK 1995/2011) – Panorama

Hongkong-Regisseur Yonfan legte die neue Version seines Coming-of-Age-Movies vor, in welchem die 16-Jährige Lian (Hiep Thi Li) in dem Tollhaus Sin Sin Hotel voller transsexueller Ladyboys lernt, ihre  Liebes-Bedürfnisse auszuprägen. Geprägt von Ansprachen direkt in die Kamera, warmen Farben und einer jazzigen Musikuntermalung gelingt Yonfan auch dank einer ultrasüßen Hauptdarstellerin das warmherzige Kaleidoskop einer ausgeprägten Szene innerhalb eines Viertels in Singapur, das jedoch im Prozess zunehmender Modernisierung zu verschwinden droht. Ein beeindruckender, manchmal allerings arg lärmender Einblick in die Parallelwelten der Prostitution und Travestie in Fernost.

Mommy is Coming (D 2011)Panorama

Dylan (Lil Harlow) und Claudia (Papi Coxx) sind ein lesbisches Pärchen, das gern einmal wilden Spontan-Sex mit der Penetration einer Pistole auf dem Rücksitz eines Taxis hat. Doch Claudia will mehr, was zur zwischenzeitlichen Trennung führt. Just in diesem Moment will Dylans sexuell frustrierte Mutter nach Berlin kommen – und wird schlussendlich von ihrer eigenen Tochter penetriert. Letzteres ist nur die albernste Wendung dieser überkonstruierten Verwechslungskomödie, die neben wackeligen HD-Handkamerabildern und grenzwertig expliziten Darstellungen der Penetration weiblicher Genitalien nur gute Ansätze auf der Interpretationsebene zu bieten hat. Von der queeren Zielgruppe mit Szenenapplaus frenetisch gefeiert, aber schauspielerisch mager und inhaltlich ziemlich (dildo-)bananig kann auch das ironische Spiel mit Lesben-Klischees nicht mehr viel herausreißen.

Haywire (USA/IRL 2011) – Wettbewerb (Außer Konkurrenz)

Einen Actionthriller wie einen Arthaus-Film zu inszenieren, das kann nur Steven Soderbergh. Lange Einstellungen, eine unaufgeregte Inszenierung, jazzige Musikuntermalung und unvermittelte, radikal physische Fights: Eleganz und Stil statt Highspeed und Spektakel – mit einem Hauch gespannter Ruhe im Stile von Jim Jarmusch. Innerhalb einer über ausufernde Rückblenden erzählten “Bourne”-Geschichte wird Agentin Mallory Kane (Gina Carrano) in eine Intrige verwickelt und muss brutal um ihre Freiheit kämpfen – ihre Jäger stets auf der Spur. Das ist schnörkellos, kompromisslos und stets spannend. Einzig ein CGI-Reh als bemühtes komödiantisches Element und Michael Douglas in einer für die Narration unerheblichen Nebenrolle hätte es nicht gebraucht.

No Man’s Zone (J/F 2012) – Forum

Dafür, dass die Synopsis im Programmheft Analogien vom “tarkowskijschen Stalker” bemüht, war ich über diese Fuskushima-Doku doch etwas enttäuscht. 360 Grad-Kameraschwenks, die die ganzen Ausmaße des Tsunamis 2011 in Japan offenlegen und Menschen, die von ihrem Schicksal in der 50 km-Zone um Fukushima erzählen, sind zusammen ein paar Zutaten zu wenig, um 103 Minuten zu fesseln. Der sachliche wie kritische Off-Kommentar, der mit der “Sucht nach den Bildern der Zerstörung” die mediale Aufmerksamkeit nach den beiden Katastrophen hinterfragt, gibt dabei die meisten Denkanstöße in dieser ansonsten leider etwas blutleer und puristisch geratenen Dokumentation von Fujiwara Toshi.

Das Meer am Morgen – La mer à l’aube (F/D 2011) – Panorama

Im besetzten Frankreich des Sommers 1941 soll nach dem heimtückischen Mord an einem deutschen Offizier ein Exempel unter den Internierten der einheimischen Bevölkerung statuiert werden. Volker Schlöndorffs Geschichtsstunde spart weitsichtige, diplomatische Bedenken an der Ausführung von Hitlers Befehl seitens deutscher Offiziere wie Ernst Jünger (nachdenklich: Ulrich Matthes) nicht aus, was lohnenswert ist, aber auch mächtig ausbremst. Die Charakterzeichnung der französischen Kommunisten gerät hingegen arg eindimensional, auch in den Motiven der wahren Attentäter. Actionszenen und jeder sonstige Aufwand bei der behäbigen Inszenierung werden ausgespart, Dialoge sind lang und wirken aufgesagt, was bei einer Lauflänge von knapp 90 Minuten und der Finanzierung bedeutet, dass dieses Kriegsdrama sehr bald auf arte zu sehen sein wird – und dort auch viel besser aufgehoben ist als im Kino.

Gnade (D/NO 2012) – Wettbewerb

Tiefsinniges und großartig gespieltes Schuld-und-Sühne-Drama, bei dem sich ein entfremdetes deutsches Auswanderer-Ehepaar (Jürgen Vogel, Birgit Minichmayr) über die fahrlässige Tötung eines Mädchens in Hammerfest wieder nahekommt. Matthias Glasner inszeniert reduziert, stellt die wunderschöne Schnee- und Eislandschaft Nordnorwegens in Cinemascope-Bilder aus und untermalt diese nur selten mit Chormusik, die zusammen mit der Monate dauernden Polarnacht zudem als Metapher für menschliche Kälte, Schuld und fehlende Moral herhält. Leider stoßen die letzten Bilder des Films inklusive einer ebenso unpassenden wie offensichtlichen Werbung für Apple-Produkte bitter auf.
Einen kleinen Rückblick zu den Berlinale Shorts findet ihr hier.
Einen etwas anderen Festivalbericht von mir könnt ihr hier nachlesen.

Kontrapunkt: The Artist – Ein moderner Stummfilm von vielen


Es ist einer seiner letzten erfolgreichen Filme, die George Valentin (Jean Dujardin) hinter der Leinwand verfolgt. Nach dem Ende des Films tritt er auf die Bühne und führt mit seinem Hündchen Kunststücke vor. Er ist ein Entertainer, ein Lebemann wie er im Buche steht und die Hauptfigur in The Artist. Die Filmgeschichtsbücher schreibt Michel Hazanavicius indes mit seiner formalästhetischen Kuriosität nicht neu. Sein Stummfilm ist kein „klassischer“, sondern ein „moderner“, einer von vielen eigenwilligen Exponaten in dieser Galerie, die von Aki Kaurismäkis Juha über Franka Potentes Der die Tollkirsche ausgräbt bis hin zu Esteban Sapirs La Antena reicht – mit dem Unterschied, dass er am meisten “Hollywood” von ihnen ist.

Allen gemein ist die Referenz auf ihr Medium, den Film, und seine Geschichte. Dies ist auch der Unterschied zum „klassischen“ Stummfilm: Während die Stummfilmtechnik bis in die 20er Jahre dem state of the art der Produktionsbedingungen entsprach, ist dieser Stil heute durch technische Entwicklungen obsolet. Mit anderen Worten: Während der Stil des Stummfilms damals ein etablierter war, bedarf er heute einer Begründung – in Form einer Bezugnahme auf die Zeit seiner Verortung oder hinsichtlich seines Sujets, was in La Antena mit einer despotisch beherrschten „Stadt ohne Stimme“ gelang. The Artist bedient beide Arten: Historisch angesiedelt in der Übergangsphase zwischen Stumm- und Tonfilm Ende der 1920er/Anfang der 1930er Jahre legitimiert er sein Hin- und Herspringen zwischen beiden Ästhetiken. Ein surrealer Traum, in der Hauptfigur Valentin sich selbst als letzten Stummen in einer tönenden Welt wahrnimmt, in der eine zu Boden schwebende Feder entsprechend früher Probleme bei der Tonmischung einen Donnergroll auslöst, ist als stilistischer Ausreißer damit ebenso „entschuldbar“ wie eine Szene um die Produktion eines tönenden Stepptanzes inklusive akustischer Anweisungen am Set.

Der „moderne Stummfilm“ als – im Sinne André Bazins – Stilfamilie des Kinos weißt als wesentliches Element die Verinnerlichung des modernen Films auf – zuvörderst und zunächst problematisch erscheinend den seltenen Einsatz von Ton. Abseits experimenteller Arbeiten scheint dabei zunächst The Call of Cthulhu ein „moderner Stummfilm“ äußerst starker klassischer Prägung. Doch ist zumindest der Bildertypus, der sich in seinen Kontrasten und Effekten schnell als digitaler entlarvt, ein anderer, eben „moderner“.

The Artist reflektiert stets nicht nur sich selbst als ästhetisches Experiment, sondern auch das Kino. Die Story um einen Filmstar, der sich mit dem Ende seiner Kunstform konfrontiert sieht, ist keine, die Hazanavicius hätte erfinden müssen: Für Stummfilmstars wie Pola Negri bedeutete der Tonfilm aufgrund ihres starken Akzents, bei Skeptikern wie Emil Jannings aufgrund ihrer selbst gewählten Distanzierung zu dieser „niederen Kunst“ den Niedergang der Karriere. Ebenso wie Chaplins Tramp in Modern Times gibt sich jedoch George Valentin auch bei seinem ersten Tonfilmarrangement nicht die Blöße: er spricht nicht, auch wenn sein Keuchen der Erschöpfung nach einer Stepptanz-Einlage deutlich zu hören ist.

Hollywood steht zu seiner Historizität, steht zu seinem System der Stars als glamouröse Identifikationsfiguren und Publikumsmagneten, auch wenn diese irgendwann ihren Zenit überschreiten. Hollywood steht jedoch auch zu seiner Ökonomie, zu seiner mutlosen Maxime, die all zu ambitionierten Vorhaben und originellen Ideen, was Inszenierung, Besetzung, Narration und Thema angeht, nicht zuletzt seit dem „Hays Code“ einen Riegel vorschiebt. John Goodman als gewiefter Produzent (Foto) repräsentiert genau dieses System. The Artist gelingt es, über den Umweg Cannes durch dieses engmaschige Korsett zu schlüpfen, mit einem Regisseur, der das reflexive Zitieren schon mit seinen Agentenfilm-Parodien OSS 17 eingeübt hat, mit einem Hauptdarsteller, welchem Glamour und lässige Selbstgefälligkeit ins Gesicht geschrieben stehen, mit einer Hauptdarstellerin (Bérénice Bejo), welche erotische Ausstrahlung mit Rehaugen-Charme vereint. Kurz: Stocklangweilige und inzwischen als Konventionen etablierte Zutaten, wenn sie nicht als „moderner Stummfilm“ in einem tatsächlich gewagten neuen Gewand präsentiert würden, was zuvörderst daran liegt, dass er nicht in den USA, sondern in Europa entstand.

Kontrapunkt: Flop Five 2011

Mal wieder viel zu wenig Müll gesehen letztes Jahr. Aber jeder vernunftbegabte Mensch zielt ja eher auf Schmerzvermeidung. Das ist mir als Nachzügler nur bedingt gelungen. Los geht’s.

Platz 5: Priest (USA 2011)

Krieg zwischen Vampiren und Menschen in einer postapokalyptischen Welt: nicht wirklich neu. Und dazu noch die vielen unmotivierten Filmreferenzen, wovon jene an „John Carpenter’s Vampire“ mit Vampiren in staubiger Western-Atmosphäre und „Blade Runner“ (regennasse Mega-City) noch die auffälligsten sind. Am schlimmsten ist der an „Matrix: Reloaded“-Zeitlupenkämpfe erinnernde Showdown auf einem Zug, bei welchem Priester Paul Bettany gegen Mensch-Vampir Karl Urban antritt, der aussieht wie Clint Eastwood in „Für eine Handvoll Dollar“. Die mit Zeitlupen und dunklen Bildern überfrachtete Van Helsing-Mär fällt auch durch etliche Überkonstruiertheiten negativ auf.

Platz 4: Conan 3D (USA 2011)

Marcus Nispel knöpfte sich das nächsten Franchise vor, das er mit schnellen Schnitten, fehlender Ironie, ultrabrutal und fernab des Geists der Vorlage neuverfilmte. Ein barbarisch charmefreier Pin-Up-Conan (Jason Mamoa) metzelt sich durch eine dünne Handlung und dreckig-düstere Bilder, bei welcher insbesondere der Kampf mit lächerlichen Sandmännern negativ auffällt. Eine öde Veranstaltung, bei der ungleich des Remakes von „Freitag der 13.“ noch nicht einmal so etwas wie Atmosphäre aufkommen will. Mehr dazu von mir bei NEGATIV.

Platz 3: Krieg der Götter (USA 2011)

Nach Zac Snyder lässt nun auch der eigentlich zumindest visuell innovative Ex-Werbeclip-Regisseur Tarsem Singh muskelbepackte Krieger durch die immer gleichen CGI-Kulissen prügeln. Die gehaltlose Story um einem Halbgott, der gegen die Titanen antritt, um das Überleben der Menschheit zu garantieren, tut so, als hätte es „300“ mit seinem Blutgespritze-in-Zeitlupen-Szenen nicht gegeben und präsentiert – abgesehen von Mickey Rourke – nur Schauspieler, die lustloser nicht herumstehen und -kämpfen könnten.

Platz 2: Resturlaub (D 2011)

Der Leser von Tommy Jaud-Romanen weiß, worauf er sich einlässt: Anspruchslose, aber witzige Unterhaltung erwartet ihn zwischen den Buchdeckeln. Umso erstaunlicher, dass man selbige in dessen Verfilmung nur selten findet. Tiefergelegter Ekel-Humor scheint sich in den letzten Jahren als Erfolgsgarant der deutschen Kinokomödie herauskristallisiert zu haben, wie auch die widerlich schleimigen Schweighöfer-Filme nahelegen. Eine unsympathische Hauptfigur (verkörpert von Maximilian Brückner), die vor ihrer Freundin in der oberbayrischen Provinz davonläuft, macht das alberne Fremdschämen im Minutentakt in dieser Stereotypen-Parade auch nicht erträglicher. Mehr von mir dazu auf critic.de.

Platz 1: Hidden 3D (IT/CDN 2011)

Diese Gurke ist für mich der Flop des Kinojahres 2011. Die Ausgangsidee um die Externalisierung von Süchten in der Entzugsklinik ist hanebüchen, der Handlungsverlauf folgt strikt dem Klischeehandbuch des Horrorfilms (gruseliges Haus mitten im Nirgendwo, in Keller hinabsteigen, Teilen der Gruppe) und hält ein enttäuschendes Finale bereit. Dass dieser Müll mit blassen Darstellern und idiotischen Dialogen überhaupt ins Kino gelangen konnte, ist seinen mies getricksten 3D-Effekten (Insektenschwärme!) zu verdanken, die die Spannungslosigkeit sogar noch fördern. Selten haben sich knapp 80 Minuten Laufzeit so lang angefühlt!

Im Verfolgerfeld:

Melancholia: Lars von Trier irritiert zwischen einer genialen Exposition und einem apokalyptischen Finale mit einer öde vorgetragenen Depressionsgeschichte.
Hell: Perfekter Beleg dafür, dass deutsche Endzeit-Filme nichts taugen, die dann auch noch ungeniert bei Hollywood-Vorbildern wie „The Road“ abkupfern.
Green Hornet: Selten einen inspirationsloseren Superheldenfilm mit unsympathischerer Hauptfigur gesehen.

Nicht gesehen, aber heiße Kandidaten für die Liste:
Transformers 3, Your Highness sowie der Ochsenknecht-Gangsterfilm Homies.

Kontrapunkt: Vergessene Filme – TV in den 90ern

Bei einigem nostalgischen Stöbern in den unermesslichen Hallen meines Videoarchivs kam mir der Gedanke, eine Reihe mit “vergessenen Filmen” zu starten. Nicht einmal 500 Menschen haben diese Produktionen in der IMDb bewertet, sie sind einem breiten Publikumskreis bisher nicht bekannt? Super, dann schaue ich sie mir an! Zunächst habe ich TV-Produktionen der 90er Jahre (wieder-)entdeckt.

Der Todesplanet – New Eden (USA 1994)

Stephen Baldwin gibt im 23. Jahrhundert als zu einer Haftstrafe verurteilter Ingenieur auf einem Wüstenplaneten den Öko-Messias und kämpft mit einem friedliebenden Völkchen nach moralischen Bedenken dann doch gegen brandschatzende und mordende „Sand-Piraten“. Tobin Bell, bekannt als Mastermind aus den „Saw“-Filmen, unterrichtet ihn vorher in der Kampfkunst und noch weiter vorher kriegt er die heißeste Ische im Trümmerdorf (Lisa Bonet) ab, deren Haar trotz permanentem Wassermangels und Übergriffen stets perfekt frisiert ist. In einer dürftigen Story werden viel „Dune“, ein bisschen „Mad Max“ und ein Hauch von „Star Wars“ (Söhnchen heißt schließlich Luke) zu einem unentschlossenem, aber immerhin leidlich unterhaltenden SciFi-Liebesdrama-Action-Brei gemixt, dessen Finale (ein Zweikampf!) leider mangels Budget ziemlich enttäuscht. Originell: die häufig eingesetzte Blockflöte beim angedeuteten Ethno-Score. Doch insgesamt regiert neben großartig schlechten Papier-Monologen wie „Tut es nicht, weil es moralisch ist. Tut es, weil es vernünftig ist!“ das Mittelmaß.

Night of the Running Man (USA 1995)

Las Vegas – die Stadt der zerplatzenden Träume: Taxifahrer Jerry (Andrew McCarthy) findet auf dem Rücksitz einen Koffer voller Geld. Der Dieb kam bei einem Verkehrsunfall ums Leben. Dumm nur, dass es der eigentliche Besitzer zurückhaben möchte und der gewiefte Killer Eckhart (Scott Glenn) auf ihn angesetzt wird, der Jerry quer durch die USA verfolgt. Dieser virile Geselle wird treffend eingeführt mit einer Sex-Szene und einem Dialog mit einem alten Freund, bei dem Eckhart ihn zuerst fragt, wie es um sein Sexleben bestellt ist. Potenz ist ein zentrales Motiv bei dieser Hatz, da auch dem von der Pussy zum Mann mutierenden Jerry nach diversen Drangsalierungen nur mit Hilfe einer gerade kennengelernten und schon begatteten Krankenschwester die Flucht gelingt. Kein Wunder eigentlich, denn Mark L. Lester saß auf dem Regiestuhl, der ja schon in “Phantom-Kommando” Action und die männliche Sexualität miteinander verband und verhandelte. Ein kleiner, spannender und handwerklich solider Actionthriller, der jedoch im Verlauf zunehmend mit einigen Konstruiertheiten und logischen Schwächen zu kämpfen hat und zwei auffällige Untersichten rätselhafter Bedeutung als auffälligstes Stilmittel in einer ansonsten konventionellen Inszenierung aufweist.

Das Finale (D 1998)

Während des DFB-Pokalfinals zwischen Hertha BSC und Hansa Rostock dringt eine Bande von Terroristen ins Berliner Olympiastadion ein, erbeutet die Ticketeinnahmen und verschanzt sich in der Überwachungszentrale. Einzig der Ex-Polizist und jetzige Chef der Sicherheitsfirma Tobias Bender kann da noch helfen. In dieser deutschen Antwort auf „Sudden Death“  gibt Francis Fulton-Smith den Möchtegern-Bruce Willis mit dem Charisma eines quietschgelben Auswärtstrikots. Der wie eh und je trockene und coole Christoph Waltz mit Rollennamen Kant spielt ihn als Ober-Bösewicht lässig an die Wand und Armin Rohde als der wohl schlechteste, da analysefreiste Fußball-Kommentator schlechthin, bleibt eine unnötige Witzfigur. Überraschende Wendungen, Archivaufnahmen eines echten Fußballspiels und eine zumindest gegen Ende ordentlich kleckernde Pyrotechnik sorgen in dieser stark auf amerikanische Vorbilder schielende ProSieben-Produktion trotz einiger tiefer Griffe in die Klischeekiste (traumatische Vergangenheit des Protagonisten, arg dick aufgetragene Love interest) für Abwechslung.