The Social Network (USA 2010)

Justin Timberlake hat die dankbarste Rolle in The Social Network. Als Napster-Erfinder Sean Parker stolziert er herum wie ein Paradiesvogel im grauen Programmierer-Alltag. Ein Lebemann ist er, den man nur einmal ansehen muss, um zu wissen, warum es ihm nach Ruhm und Reichtum giert. Parker schleppt die Frauen reihenweise ab. Selbst wenn er pleite ist, geht er noch in die teuersten Clubs. Zum Größenwahn gesellen sich bei ihm ganz traditionell Paranoia, Drogen, Exzesse aller Art. Sean Parker ist damit das genaue Gegenteil von Mark Zuckerberg (Jesse Eisenberg). Ebenso wie Eduardo Saverin (Andrew Garfield), die Winklevoss-Brüder (Armie Hammer x2) und wohl noch viele andere wird Parker auf der Strecke bleiben. Überholt von einem, dessen Motive komplexer sind, dessen Sättigungsgrad selbst nach Ende der 120 Minuten nicht in Sichtweite ist. Mark Zuckerberg kommt nicht aus prestigeträchtigem Hause wie die Zwillinge Winklevoss, er ist weder so umgänglich wie Eduardo Savarin, noch so exzentrisch wie Parker. Auf den ersten Blick steht einem da ein leeres Blatt Papier gegenüber, mit einem eigensinnigen Blick, ja, aber einer emotionslosen Fassade. Googelt man Bilder des realen Mr. Zuckerberg sieht man immer dieses breit grinsende Jungengesicht, welches sich problemlos in die eigene Freundesliste einreihen könnte. In David Finchers “Facebook-Film” wird man von diesem verschont. Auf eine Freundschaft mit Zuckerberg möchte man danach im Übrigen verzichten.

Doch Freundschaft ist relativ, darauf verweist schon die Tagline von “The Social Network”. 500 Millionen Freunde – das ist eine Zahl, die den Wahn der Freundschaftseinladungen, der allseitigen Vernetzung mit Grundschulantagonisten, Grüßbekanntschaften und tausende von Meilen entfernten Berühmtheiten überspitzt. Ich habe dreihundert Freunde, aber sie dreihundertfünfzig, er vierhundert und Mark, der Mark hat Fünfhundertmillionen – und gleichzeitig keinen einzigen am Ende des Tages, am Ende des Aufstieges, der Gerichtsprozesse, des Vermögenswertes von 6,9 Milliarden Dollar. Das macht 13,8 Dollar pro Facebook-User, keine große Zahl für einen Menschen. Wer trauert schon 13,8 Dollar nach oder – umgerechnet – rund 10 Euro. 10 Euro kann man verschmerzen. Verrechnet man nun Zuckerbergs reale Sozialkontakte in “The Social Network” mit ihrem derzeitigen Facebook-Wert, kommt man auf einen Verlust – innerhalb von 120 Minuten Laufzeit/ein paar Jahren (nur die “engen Freunde”) – von unter hundert Dollar. Das ist nichts.

Geld aber ist nicht der Antrieb von Zuckerberg. So wenig man der äußeren Erscheinung von Bill Gates die Milliarden anmerkt, so wenig ist das beim Facebook-Gründer der Fall. Zuckerberg sehnt sich nach Aufmerksamkeit, aber nicht die von der menschlichen Sorte. Es ist die abstrakte Variante, die welche durch “Beziehungen” entsteht, nicht in Beziehungen. Letztere sind schließlich viel zu kompliziert und verlangen ein Mindestmaß an Empathie. Deswegen will er in einen der Final Clubs in Harvard. Deswegen ersetzt in der ersten Szene des Films, der ersten und finalen Verletzung, im Rosebud-Moment sozusagen, deswegen ersetzt in diesem Moment, als sich seine Freundin von ihm im Streit trennt, der Wunsch nach “Beziehungen” vollständig den nach Beziehungen.

Zwei Szenen eröffnen “The Social Network” und bereiten auf das vor, was da kommen möge, beinhalten bereits alle wichtigen Elemente der charakterlichen Entwicklung und ihrer formalen wie inhaltlichen Ausgestaltung. Mark sitzt mit seiner Freundin in einem Pub. Das Dialogfeuer beginnt, welches erst kurz vor Ende des Films verstummen wird. Es geht um die Final Clubs und darum, dass selbst dieser Tisch im Pub “Beziehungen” zu verdanken ist. In wenigen Minuten werden Marks Prioritäten offenbar, die ihn blind gegenüber den Gefühlen anderer werden lassen. Doch andererseits: Häufig scheint er zu blinzeln, scheint er das emotionale Trampeltier absichtlich hervorgeholt zu haben, um dem tiefbeleidigten Trotz eines Fünfjährigen freien Lauf zu lassen. Dann die Titelsequenz: eine unspektakuläre eigentlich. Mark läuft abends über den Havard-Campus nach Hause. Seine Freundin hat gerade mit ihm Schluss gemacht. Er ist ganz allein unter all den Kommilitonen. Mittendrin und doch nur dabei. Mark geht nach Hause, um den ersten Schritt in Richtung Facebook zu tun und am Ende des Weges werden all die Leute, an denen er unbehelligt vorbei gegangen ist, die ihn keines Blickes gewürdigt haben, wohl in seiner Freundesliste stehen. Die Frage, die David Fincher und sein Drehbuchautor Aaron Sorkin aufwerfen, ist ganz einfach: Wird die 500-Millionen-Freundesliste den abendlichen Weg nach Hause weniger einsam machen?

“The Social Network” ist vieles, aber am wenigsten verdient er den Titel “Facebook-Film”. Mit “Citizen Kane” wird er schon verglichen, der auch vielmehr als nur ein William Randolph Hearst-Film ist. So tief in die Filmgeschichte soll hier nicht gegriffen werden. Nur kurz: Kane ist Sean Parker ähnlicher als Mark Zuckerberg. Zurück zu Fincher: “The Social Network” zeigt seinen Regisseur in bisher ungekannter Zurückhaltung. Nur wenige Spielereien blitzen hier und da auf, bei einem Ruderwettkampf etwa, stattdessen hat sich Fincher dem Drehbuch verschrieben. Und was für ein Drehbuch das ist! Drei Zeitebenen – die Entwicklung von Facebook parallelisiert mit zwei späteren Prozessen gegen das Mastermind dahinter – unvermittelt, allerdings virtuos zusammengeschnitten. Eine Vielzahl von Figuren quasselt zwei Stunden lang höchst pointiert über Rechtslagen, Harvard-Interna und Algorithmen. Dazu der minimalistische Trent Reznor-Sound, so unterkühlt wie der Protagonist, so leer wie die hedonistisch vor sich hin feiernde Generation in den Final Clubs und den Discos der 00er Jahre. Denn “The Social Network” ist nicht der “Facebook-Film”, “The Social Network” ist ein Bild der Zeit und Mark Zuckerberg ein Produkt derselben. Mark Zuckerberg ist modern, Sean Parker längst ein verstaubter Klassiker.

Krieg der Welten (USA 2005)

Terror

Als Krieg der Welten vor rund fünf Jahren in die Kinos kam, habe ich ihn bewusst boykottiert. Der Held meiner Jugend, der mich einst mit abenteuerlichen Archäologen und majestätischen Urtieren zur Filmkunst bekehrt hatte, war nicht mehr der Alte und diesen Tom Cruise-Streifen hatte Steven Spielberg sowieso nur gemacht, um einen Freifahrtschein für “München” zu erhalten. So wie damals sein Kollege Martin Scorsese seinen ersten Blockbuster “Kap der Angst” gedreht hatte, um den  Studiobossen den Skandalstoff “Die Letzte Versuchung Christi” abzuringen. Dass ein Spielberg so einfach nicht unter den Tisch zu kehren ist, zeigte sich drei Jahre nach Kinostart an einem Sonntag im Februar. Da erlebte das alien invasion flick seine von allerlei Werbung unterbrochene Free TV-Premiere und aus irgendeinem Grund – lief nichts besseres bei Arte? – habe ich den Film gesehen. “München” hatte mir den Glauben an die grundsätzliche Möglichkeit herausragender Spielberg-Filme im neuen Jahrtausend wiedergegeben. Er hatte eingeschlagen damals in dem fast leeren Kinosaal, wie ein Film eben einschlägt, den man allein sehen muss. Diese Wellen wogen bis heute und jener Sonntagabend brachte sie erneut in Unordnung.

Die Erwartung: Ein besserer Emmerich. So tief war der Stern des einst Unantastbaren schon gesunken. Stattdessen bekam ich ein schwer verdauliches disaster movie voll von 9/11-Referenzen und aus dem Nichts kommenden Bildern des Horrors zu sehen, in ihrer Surrealität erinnernd an einen anderen Film des New Hollywood-Kollegen Scorsese – “Shutter Island”. Als Reaktion auf die Terroranschläge an jenem Dienstag im Jahr 2001 wurde “Krieg der Welten” von der Kritik sofort verstanden, gescholten oder gelobt. Allzu offensichtlich scheinen die Analogien, derer sich Spielberg, ein selten durch Subtilität auffallender Regisseur, bedient. Jenseits der visuellen Gestaltung, über die noch zu sprechen sein wird, ist da natürlich das Motiv des Angriffs; des Angriffs auf eine sich in Sicherheit wiegende Zivilisation. “Krieg der Welten” ist zunächst einmal die Film gewordene Erschütterung, der schmerzhafte Weckruf aus einem sanften Schlaf. Tom Cruise, der unwahrscheinlichste aller Schauspieler für solch eine Rolle, ist der Surrogat nicht nur schockierter Amerikaner, sondern all jener Millionen, die damals vor dem Fernseher saßen, ihren Augen nicht trauen konnten.

Krieg der Welten
Abseits der narrativen Parallelen, die dem Genre eben zu eigen sind, besticht “Krieg der Welten” jedoch durch seine Bildsprache und findet gerade in dieser zu seiner leicht zu übersehenden Größe. Spielberg, das zeigt auch dieser Film, ist ein Mann für’s Grobe, einer, der keine verkopften Metaphern aufbaut, sondern seine Kunst stets im Affekt ausübt und seine Bilder entsprechend wählt. So muss das erste Gebäude, welches der Alien-Invasion zum Opfer fällt, natürlich eine Kirche sein. So muss Tom Cruise nach dem ersten Angriff nach Hause kommen, voller Staub auf Körper und Gesicht in den Spiegel blicken, dem Staub verbrannter Mitmenschen, gleich jenem, der sich nach dem Zusammensturz der zwei Türme über Manhattan legte. Doch “Krieg der Welten” ist nicht nur ein Film über eine Invasion, ein Film über den Terror, der ins beschauliche Heim einbricht. Im Mantel des disaster movies wird hier ein Trauma erneut durchlebt. Es ist, als würde man mit den Augen eines Menschen sehen, der die Bilder nicht vergessen kann, dem sich das Grauen unwiderruflich eingebrannt hat.

Zuschauen

“Krieg der Welten” ist ein Film über das Zuschauen und den Versuch, es zu unterbinden. Mehrmals – und hier sind wir wieder bei den berüchtigten Analogien – wird verwiesen auf die mediale Wiedergabe der Katastrophe. Zunächst im Hintergrund als Fernsehnachricht über mysteriöse Magnetstürme wandert das Geschehen Schritt für Schritt in den Bereich der Wahrnehmung, bis hin zur fallen gelassenen Videokamera, welche die Angriffe unbekümmert weiter aufzeichnet und dem Fernsehteam von CBS, auf welches Ray (Tom Cruise) schließlich neben einem Flugzeugwrack im Vorgarten seiner Ex-Frau trifft. Die Reporterin zeigt ihm Bilder der Invasion, die er längst kennt. Er hat schließlich alles mit eigenen Augen gesehen. Und wie er es gesehen hat! Über weite Strecken des Films macht Tom Cruise nichts anderes, als zuzusehen. Gefesselt von der Zerstörung, gefesselt vom grauenhaften Anblick, kann er seine Augen nicht abwenden, muss sehen, auch wenn die Folgen desaströs sind. Dementsprechend hängt sich Janusz Kaminskis Kamera in der ersten Hälfte des Films an seine Fersen und wiederholt mit ihm immer wieder die hin- und hergerissene Bewegung zwischen Hinschauen und Abwenden.

Als Ray nach Beginn der Invasion verstaubt nach Hause kommt, steht ihm der Schock ins Gesicht geschrieben und fortan zählt nur eines: Seine Kinder nicht dieselben Dinge sehen zu lassen. Ebenso wie Cruise, von jeher eher passiven Gefäß als Emotionsbündel, überzeugt Dakota Fanning aus heutiger Sicht in der ihr zugewiesenen Rolle. Ohne kleine Kinder aus gescheiterten Ehen kommen Spielbergs Filme sowieso selten aus. Mit ihren großen runden Augen und den stets emotionalisierten Gesichtszügen hat Fanning nicht zuletzt nach diesem Film viel unverdienten Zuschauerhass auf sich gezogen. Zugleich bildet sie in ihrer Zerbrechlichkeit ein notwendiges Gegengewicht zum versteinert wirkendem Superstar. So sehr dieser als Vater Ray es jedoch zu verhindern sucht, so unausweichlich ist das Sehen auch für ihre unschuldigen Augen. Mehrmals weist er sie an, nicht hinzuschauen, als um sie herum die Welt sprichwörtlich in Flammen aufgeht, hält ihr die Augen zu, verbindet sie an einer entscheidenden Stelle sogar. Doch es ist ein vergeblicher Kampf. Nachdem sein Sohn angezogen vom Unheil (“Ich muss das sehen!”) verloren geht, verliert im blutigen Finale des Films auch Tochter Rachel den unschuldigen Blick, ist fortan gezeichnet.

Wurden die Augen und das Sehen bereits in “Minority Report” zur Gefahr, welche den Held (wiederum Tom Cruise) sogar dazu brachte, sich andere einsetzen zu lassen, zeugt “Krieg der Welten” von den Wunden, die das Gesehene in der Psyche eines Menschen schlagen kann. Wie kaum einem anderen Mainstream-Regisseur gelingt es Spielberg hier, der (Schau-)Lust an der Katastrophe die Folgen derselben gegenüber zu stellen. Anders als etwa in “Independence Day”, indem eine gute Zigarre alle Toten vergessen macht, ist “Krieg der Welten” in jeder Einstellung Zeugnis einer nachhaltigen Verstörung. In dem Moment, in dem der erwachende väterliche Beschützerinstinkt ihn zum Mord treibt, versucht Ray, seiner kleinen Tochter das Schrecklichste zu ersparen. Er bindet ihr die Augen zu. Trotzdem steht im Nachhinein fest: Nichts wird mehr so sein, wie es war.  Während das amerikanische Disasterkino stetig darum bemüht ist, dem Zuschauer diese Wahrheit aus der Erinnerung zu löschen – nur so macht Zuschauen Spaß – treibt Spielberg das Genre mit Hilfe des gebrochenen Helden Tom Cruise und der kleinen, großäugigen Dakota Fanning an die Grenzen der Massentauglichkeit.Trauma

Man könnte meinen, dass dem Motiv der Alien-Invasion nach so vielen Jahren Filmgeschichte nicht mehr viel neues hinzuzufügen ist. Zweifellos ist “Krieg der Welten” auch ein Versuch eines Meisters, das ihm aus der Hand genommene Zepter mit einer Klassikerverfilmung zurück zu gewinnen. Zur Erfassung der visuellen Komponente von “Krieg der Welten” reicht dieses Argument allein dennoch nicht aus. Hilfreich ist dafür u.a. ein kurzer Blick auf Spielbergs andere Auseinandersetzung mit dem Terror, den bereits erwähnten “München”. Dieser beginnt mit und wird eingerahmt von einem Anschlag und erzählt parallel vom Preis der Vergeltung desselben. Betrachtet man nun den teuren Blockbuster und das kleine Herzensprojekt als filmisches Paar unabhängig von den genannten pragmatischen Beweggründen ihrer Entstehung, stellen beide sinnige Ergänzungen des jeweils anderen dar. Kurz gefasst: “Krieg der Welten” bebildert ein Trauma, “München” befasst sich mit dem Danach. Zu betonen ist hierbei, dass ersterer bereits von einer Verinnerlichung der Schreckensbilder ausgeht. Die oben angesprochene Surrealität einiger Situationen spricht für eine Stellung  der Geschehnisse an der Grenze zwischen Traum und Realität.

Verdunkelt in “Independence Day” das gigantische Alien-Schiff den kalifornischen Himmel, wird die Bedrohung in “Krieg der Welten” ausgerechnet mit dem Licht assoziiert. Die Macht über das Licht, dieses stets übersteuert und unwirklich glänzend, wird mit Beginn des Angriffs den Invasoren zugewiesen. Auf Blitze folgen die schrecklichen Strahlen, welche Menschen sprichwörtlich zu Staub zerfallen lassen und auch nachts ist Rays Familie vor den Scheinwerfern der Tripods nicht sicher. Das Spiel mit dem Licht – naturgemäß untrennbar mit dem Sehen verbunden – verleiht dem Film in einem ersten Schritt seine verträumte Atmosphäre. Kombiniert mit den surrealistischen Bildern des massenhaften Sterbens erzeugt “Krieg der Welten” eine Ästhetik, die sich weniger dem wirklichen Erleben annähert. Vielmehr gleicht sie der  schweißgebadeten Gefangenschaft in einem Albtraum. Wenn Dakota Fanning, vom Glitzern der Wasseroberfläche beleuchtet, an einem Fluss steht, auf dem zahllose Leichen vorbei treiben oder die Familie durch einen Wald läuft und plötzlich die Kleidung Getöteter auf sie herab regnet, verlässt der Film das gewohnte Terrain des Genres.
Seinen Höhepunkt erreicht Spielbergs “9/11-Albtraum” mit der visuellen Offenlegung der hinterlassenen Wunde (griech.: Trauma) und dem abschließenden Verlust jeglicher Unschuld. Auf mit Blut gedüngte Felder blickt Ray in einem Moment. Das Motiv selbst geht auf die Vorlage von H.G. Wells zurück. Als Metapher für den Kolonialismus des britischen Empires gedacht, erlangen die Blutpflanzen im Kontext der Spielberg’schen Adaption eine ganz neue, emotionale, geradezu apolitische Konnotation. Zugleich sind sie die Verkörperung eines einschneidenden Traumas, aus dem in “München”  gewissermaßen der Drang nach Rache geschöpft werden wird. Rachel, auf einer blutigen Wiese stehend (ein grausam schönes Bild!), kann nicht anders, sie muss ins Licht blicken, in das Licht des Tripods. Zwar wird Ray in einem letzten Akt des Erwachsenwerdens (es ist ein Spielberg-Film!) seine Tochter aus den Fangbeuteln des Tripods befreien und diesen gar zur Strecke bringen. Das Gesehene zu verarbeiten, bleibt für alle Beteiligten eine Aufgabe, die Offscreen erfüllt werden muss.

Der Letzte Exorzismus (USA 2010)

Die Bilderrahmen wackeln an der Wand, quälende Laute durchziehen das Zimmer und das Bett entwickelt in diesem einst beschaulichem Heim ein Eigenleben. Cotton Marcus (Patrick Fabian) will ein letztes Mal seine Nummer abziehen. Der Exorzist, schon als Kind von seinem Vater in die Rolle des Wunderpredigers gedrängt, hat den Glaube an Gott in Zweifel gezogen. Sein Geschäft: eine einzige Farce, ein billiger Zaubertrick. Im tiefen Süden der USA verdient er mit dem Aberglauben der kleinen Leute sein Geld, doch Cotton hat längst genug. Auffliegen soll das Geschäft in einer Doku, die ihn bei seinem letzten Exorzismus begleitet. Konventionell und ARD-tauglich beginnt diese mit einem Einblick in seine Arbeit, sein Familienleben. Die üblichen Interviewschnipsel verpacken Cottons Leben in eine Narration des Missbrauchs, in welcher er Täter und Opfer zugleich ist. Als er Nell (Ashley Bell) begegnet, die auf eben jenem Bett zuckend liegen wird, merkt der Prediger nur an, wie ungern er  mit Kindern “arbeitet”. Dass Cotton die Situation völlig falsch einschätzt und aus der Show sehr bald Ernst wird, ist offensichtlich, bedenkt man das befremdliche Marketing für Der letzte Exorzismus. Als Durchschnittsschocker wird Daniel Stamms Zweitling jedenfalls deutlich unter Wert verkauft. Das Konzept – irgendwo zwischen found footage und scripted reality – ist  nicht neu. Doch Stamms Pseudo-Doku (“District 9” im Horrorbereich) überzeugt im Vergleich zu seinen Genrekonkurrenten in erster Linie durch die volle Ausnutzung des Formates.

Der Moment der Immersion ist in “Der letzte Exorzismus” ebenso gegeben wie in “REC” und “Blair Witch Project”, schließlich führt auch hier eine Figur die Kamera. Die Trias Produktion – Film – Zuschauer wird scheinbar geköpft, die Intimität im Kinosaal wiederhergestellt. Man ist allein mit den Helden und v.a. mit ihrem Blickwinkel. Aus dem distanzierten Schaulustigen wird der stille Begleiter, der alle Sorgen und Nöte teilt und teilen muss. Zumindest zeitweise. Was der soghaften Wirkung des Films zunächst entgegenkommt, ist nämlich das Gegenteil dessen: die vorübergehende Aufrechterhaltung eines neutralen Blickes. Denn “Der letzte Exorzismus” beginnt schließlich als Dokumentation, ihre Kamera ein professioneller, aber unbeteiligter Beobachter. Als Nells Verhalten gewalttätige Züge annimmt, Cotton bemerkt, dass er mit seinen Tricks gegen eine schwere Krankheit (oder gar den Teufel?) im Leib des jungen Mädchens nichts auszurichten vermag, verliert das Drehteam die Kontrolle über die Situation, nimmt unser Blick von nun an Teil am Geschehen. Ob wir es wollen oder nicht.

Die Werkzeuge des Subgenres setzt Daniel Stamm somit gekonnt ein. Abgesehen von den in ausreichendem Maße vorhandenen Schockmomenten, die auch auf das Konto der sparsamen, aber durchdringenden Soundkulisse gehen, ist Stamms kleiner Geniestreich womöglich, dass das Doku-Format nicht nur Mittel zum Zweck ist. Wie ein geübter Dokumentarfilmer nähert er sich in der ersten Hälfte des Films seinem Thema an und dieses heißt nicht “Exorzismus in Louisiana anno 2009”, sondern “Cotton Marcus”. In Nell findet dieser immerhin ein düsteres Spiegelbild seiner Jugend, stehen sie doch beide unter der Fuchtel extremer Religiösität. Eine geradezu biblische Wendung konfrontiert den abgeklärten Reverend mit ihr, also mit sich selbst. So wird er seiner wichtigsten Prüfung unterzogen. Aus diesem und einigen anderen klassischen Motiven, die weit in die Geschichte des Horrorfilms zurückreichen, bastelt Stamm einen erfrischenden Genrebeitrag, eine willkommene Abwechslung vom einfallslosen Remake-Wahn der vergangenen Jahre, wenn auch keine angenehme.

Inception (USA/GB 2010)

Für Meta-Auseinandersetzungen um die Diskussionen, den Hype und den Backlash der Hype-Hasser ist hier leider kein Platz. Christopher Nolans Inception ist ambitioniert bis in die letzte Einstellung, will E- und U-Film sein und bildet somit ein seltenes Geschöpf im Blockbustersommer des Jahres 2010. Ob man im Nachhinein gern das Geld für die Kinokarte ausgegeben hat, wird nicht unwesentlich davon abhängen, wie man zu den anderen Filmen des Regisseurs steht. Das eigentlich Traurige ist nun, dass “Inception” in Bezug auf die Fähigkeiten seines Machers keinerlei Neuigkeiten bereithält. Wie in vielen seiner Filme baut Nolan ein diegetische Welt, über die nur er die Kontrolle besitzt. So komplex konstruiert ist sie wie die Stadtaufsichten, welche er in “Inception” so gern einbaut. Diese Kontrolle gibt er ausgerechnet in einem Film, der mit seiner verschachtelten Traumthematik nach einer ausnahmslosen Subjektivität schreit, nie aus der Hand. Man denke dagegen an “Memento”, der seine Wirkung allein aus der Fixierung auf den Blickwinkel der Hauptfigur gezogen hat und ziehen konnte. Während sich Martin Scorsese im ähnlich gelagerten “Shutter Island”  auf Gedeih und Verderb auf die Sicht des Cops Teddy einlässt mit allen Konsequenzen, welche diese Entscheidung mit sich bringt, ist Nolans allwissender Blick zu jeder Zeit zugegen. Selbst im Finale, in dem mehrere Schichten von Träumen-in-Träumen durchlaufen werden, bleibt uns der kalte Blick des Puppenspielers nicht erspart. So souverän diese Parallelmontage auch gehandhabt wird, so einfallslos ist sie im Grunde. Träume sind in “Inception” nichts weiter als lineare Geschichten, die den Gesetzen der nächst höheren Ebene – des jeweiligen “Levels” darüber – unterliegen. Wie das Drehbuch wurden sie geplant, verbessert, perfektioniert. Damit gleicht der Film dieses Sommers™ einer Dominokette, eingefangen in einer Mise en abyme.

Der fabelhafte Trailer lügt deshalb ein Werk vor, das keiner zu sehen bekommen wird. Einen Film, in dem die unendlichen Möglichkeiten der menschlichen Vorstellungskraft erkundet werden, in dem Paris auf den Kopf gestellt wird, nur weil ein Geist es so befiehlt. Die entsprechende Szene in “Inception” ist dabei nichts anderes als ein überflüssiger Augenschmaus. Ellen Page darf als Architektin der Traumwelten beweisen, was sie drauf hat. Da verbringen die Gedankendiebe sozusagen ein paar Minuten in Q’s Labor. Da werden die Schauwerte angedeutet, bevor das eigentliche Abenteuer losgeht. Für den Rest des Films ist Ariadne (Page) nicht dafür zuständig, den traumatisierten Dieb Cobb (Leonardo DiCaprio) durch ein Labyrinth in die Freiheit zu führen, wie es ihr Name suggeriert. Sie führt uns, die Zuschauer, ein in die Regeln der Inception und hilft mit ihrer endlosen Fragerei, den überladenen Plot und das Vokabular dieser seltsamen Profession zu verstehen. Wie Page werden auch die meisten anderen Darsteller als Randfiguren verschwendet; ganz einfach weil ihnen kein Charakter geschenkt wird. Einzig Tom Hardy als Fälscher innerhalb der Diebesbande kann hier seine eindrucksvolle Visitenkarte hinterlegen und empfiehlt sich als Actionheld, der all das besitzt, was einem wie Sam Worthington fehlt.

Doch reden wir nicht weiter von Schauspielern, denn um die geht es weder Nolan noch seinem Drehbuch. Was “Inception” in meinen Augen am meisten schadet, ist seine Ausgangsidee: Dass man Träume soweit konstruieren kann, bis ihr künstliches Wesen nicht mehr von der Realität mit all ihren Einschränkungen zu unterscheiden ist. Nur so kann die Diebesbande um Cobb Gedanken stehlen und Ideen in einen fremden Geist implantieren. Kontrolle ist das Stichwort. Die Kontrolle – so schreit das Drehbuch von allen Ecken und Enden – entgleitet Cobb, da sich die Erinnerungen an seine verstorbene Frau (verführerisch wie immer: Marion Cotillard) in seine Arbeit drängen. Die Kontrolle lässt sich der Film-(Traum-)Architekt Nolan jedoch niemals wirklich aus den Händen nehmen. Irrationalität oder Surrealität, die unvorhersehbare Aufhebung der Naturgesetze in absurden Situationen –  eben die Mitbringsel des Unbewussten – werden entweder vollständig ignoriert oder auf den Trainingsplatz verbannt. Stattdessen erstickt “Inception” all jene faszinierenden Fragen und Geheimnisse um die Funktionsweise des menschlichen Geistes in der langweiligen Ästhetik eines Actionthrillers. Dessen Gesetze verlangen es schließlich so. Diese zu brechen, hieße ein paar Steine aus der Dominokette einfach an einen anderen Ort zu stellen. Sich auch nur im entferntesten der Gefahr zu stellen, das ganze minutiös aufgebaute Kartenhaus mit Namen “Inception” in sich zusammenfallen zu lassen, ist nicht Nolans Sache. Vielleicht will er es nicht. Vielleicht kann er es gar nicht.

Vengeance (HK/F 2009)

Im Gegensatz zu vielen Kollegen hat Johnnie To dem sicherlich vorhandenen Ruf Hollywoods weitgehend widerstanden. Seine Filme seien untrennbar mit Hongkong verbunden, hat er in Interviews geäußert. Wohl deshalb wurde der Handlungsort des nun auf Eis liegenden Remakes des Melville-Klassikers “Le Cercle Rouge” in seine Heimatstadt verlegt. Mehrere Jahre lang wurden Liam Neeson und Orlando Bloom mit diesem Projekt in Verbindung gebracht, doch 2009 verkündete To in Cannes, dass wohl nichts aus diesem Traum werden würde. Den vermeintlichen Ersatz desselben stellte er damals vor, eine chinesisch-französische Koproduktion mit dem Namen Vengeance. Man kann To sicher nicht vorhalten, dass er immer nur den selben Film dreht. Vielmehr jongliert er eine Reihe von Serien mit jeweils unterschiedlichen thematischen und strukturellen Eigenheiten. Da sind diverse Filme mit psychisch/physisch kranken Helden, den “Fulltime Killers” und “Mad Detectives” seiner Filmografie. Dem gegenüber steht u.a. die Hitmen-Trilogie, welche 1999 mit “The Mission” in Gang gesetzt, 2006 in Gestalt von “Exiled” wiederbelebt wurde. Im Gepäck eine begrenzte Zahl visueller und narrativer Topoi, nähert sich To diesen Filmen wie einem spaßigen Genrespielplatz an. Ob ironische Entblößung der Heroic Bloodshed-Klischees durch die Inszenierung des absoluten Gegenteils derselben in “The Mission” oder Adaption und Perfektion dieser im Nachfolger, die Filme zeigen To von seiner selbstreflexivsten Seite. Nur so wird aus einem Actionfilm aus HK ein Italo-Western in asiatischem Gewand. Oder eine blutige Hommage an Jean-Pierre Melville. Als solche kann man “Vengeance” zweifellos bezeichnen. Kein Wunder, dass ursprünglich Alain Delon für die Hauptrolle vorgehesen war. Die trägt den Namen Francis Costello und scheint entfernt mit dem eiskalten Engel Jef Costello verwandt zu sein. Wie dieser trägt der Franzose Francis (Johnny Hallyday) einen Trenchcoat und ist alles andere als ein geborener Alleinunterhalter.

Costello reist nach Hongkong, um Rache zu nehmen an den Mördern der Familie seiner Tochter. Ein einfaches “venge-moi” der schwer verletzten Überlebenden (Sylvie Testud) genügt. Durch einen Zufall erlangt er die Hilfe von drei Triadenkillern (Anthony Wong, Lam Ka-Tung und Lam Suet), die ihm fortan bedingungslos zur Seite stehen. Wie in den beiden anderen Hitmen-Filmen auch wird eine Gruppe neu zusammengesetzt, um dann Bewährungsproben im Kugelhagel zu bestehen. Wieder findet man einen durchgedrehten Simon Yam auf der Gegenseite. Doch während die Vorgänger dank ihres spontanen Produktionsprozesses (kein Drehbuch, unter 20 Tagen Drehzeit) mit absoluter Reduktion auf das Wesentliche punkteten, ist der Plot von “Vengeance” geradezu aufgeplustert. Zumindest für einen film von To. Das Drehbuch von Milkyway-Mitbegründer Wai Ka-Fai synthetisiert aus Hitman-Filmen und kranker Heldenfigur eine unausgeglichene Genre-Dekonstruktion. Costello verliert nämlich nach und nach sein Gedächtnis. Eine alte Kugel im Kopf trägt die Schuld daran, dass er schon bald nicht mehr zwischen Freund und Feind unterscheiden kann, geschweige denn weiß, warum er in Hongkong ist. Während einer Schießerei ist das alles andere als beruhigend und davon bietet To genügend, um über einige Durststrecken hinweg zu trösten.

“Vengeance” ist schließlich keineswegs ein runder Film. Waren “Exiled” und zuletzt “Sparrow” visuelle und musikalische Leckerbissen, deren Leichtigkeit einen Meister auf dem Höhepunkt seiner Kunst zeigte, ist “Vengeance” unrhythmisch. Vielleicht ist der Grund für diesen Makel darin zu finden, dass die Gruppe hier niemelas wirklich fehlerfrei funktioniert, dass Hallyday immer ein Fremdkörper bleibt, was weniger an ihm selbst liegt, als an der Schwäche, die ihm das Drehbuch aufbürdet. Die ein oder andere massiv deplatzierte Szene, welche deutlich Wai Ka-Fais Handschrift trägt, entschuldigt das nicht. Dazwischen: Ungewöhnlich viel stille, viel tote Zeit wie einst bei Melville, die von (zu) kurzen Musikausbrüchen unterbrochen wird, wenn die Waffen im Einsatz sind. Da werden dann die filmischen Mittel des Genres auf eine Weise in Erinnerung gerufen, die jedem Genuss im Weg steht.  Die Selbstreflexivität, welche (hoffentlich) dahinter steht,  distanziert, nimmt den Spaß, verbannt auf den Posten reiner Bewunderung aus der Ferne.

Eine an einen Endzeitfilm erinnernde Schießerei zwischen Müllwürfeln wird Gesprächsstoff liefern, doch wirklich groß ist nur eine Sequenz im Wald. Unter dem flimmernden Licht des Mondes jagen da zwei Gruppen von Killern einander, während Laub auf sie nieder sinkt, gefolgt von sporadischer Dunkelheit, will es eine Wolke so. Hier findet To zu seiner Perfektion. Die Gewalt verblasst, die Schießerei wird zum Tanz, hin- und hergerissen von Stillstand und Bewegung, Licht und Schatten, Realität und Traum. Diese Minuten sind nicht nur unglaublich schön, sie konzentrieren auch die Essenz eines Films in sich, der von zahlreichen Spiegelungen gezeichnet ist. Wieder stehen Hitmen mit einer Mission im Mittelpunkt, doch ein Drehbuch-Coup schenkt ihnen,wie schon in “The Mission” Doppelgänger auf der Gegenseite. Ihr eigener Boss (Yam) hatte nämlich den Auftrag zur Ermordung der Familie erteilt, nur eben – der Zufall will es so – an drei andere Kollegen. So problemlos sich “Vengeance” als Weiterentwicklung zu den beiden anderen Hitmen-Filmen gesellt, so enttäuschend ist am Ende das Resultat. Die Pinselstriche von Johnnie To und Wai Ka-Fai stehen hier einander im Weg, passen ganz einfach nicht zusammen. So ist “Vengeance” ein qualitatives Auf und Ab, dessen Einzelteile überzeugender sind, als der Gesamteindruck.