#142 – Peeping Tom von Michael Powell

1960 starteten zwei einflussreiche Filme über das Werken von Serienkillern in den Kinos, der ein hieß Psycho und war ein Hit, der andere hieß Peeping Tom und beschädigte die Karriere seines Regisseurs nachhaltig. In dieser Folge des Wollmilchcasts widmen wir uns Michael Powells Peeping Tom (Augen der Angst), vergleichen den Film mit Hitchcocks Psycho, anderen Serienkiller- und Slasher-Filmen und wundern uns, wer der bessere Podcast-Gast wäre: Norman Bates oder sein britisches Gegenstück Mark Lewis?

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Die Roten Schuhe (GB 1948)

Das abgelegene Kloster im Fantasie-Himalaya in “Schwarze Narzisse”, der schwarz-weiße Himmel, den eine symbolische Treppe mit der Welt der Lebenden in “Irrtum im Jenseits” verbindet und die Untiefen der Psyche des Serienmörders Mark, welche in “Peeping Tom” ergründet werden.

Mit und ohne seinen Partner Emeric Pressburger ist die Realität, in die Michael Powell seine Figuren versetzt, oft genug relativ. Zwischenwelten tun sich da plötzlich auf, gegen deren häufig fatalen Sog sich die Männer und Frauen erwehren müssen, mal erfolgreich, mal zum Nachteil der eigenen geistigen Gesundheit.

In Die Roten Schuhe ist es die Kunst. Sie droht die Ballerina Vicky (Moira Shearer) zu entführen aus dem wirklichen Leben, das zunehmend außer Reichweite gerät. Vickys Traum geht in Erfüllung als sie der berühmte Impresario Boris Lermontov (Anton Walbrook) in sein Ensemble aufnimmt. Bald spielt sie die Hauptrolle in Andersens “Die Roten Schuhe” und wird vom Publikum gefeiert. Vicky verliebt sich in den aufstrebenden Komponisten Julian Craster (Marius Goring), doch der obsessiv veranlagte Lermontov, dem das Ballett alles, das Leben nur ein Störfaktor ist, stellt sie vor die Wahl: Entweder sie gibt die Beziehung auf und wird zum Star der Ballettwelt oder die Arbeit im Ensemble – ihr Traum – ist für sie Geschichte.

Die roten Schuhe trägt Vicky streng genommen schon bevor sie von ihrem Mentor entdeckt wird. Auf die Frage, warum sie tanze, antwortet  sie schließlich herausfordernd “Warum leben sie?”. Die wunderbaren Schuhe, die das Mädchen in Andersens Märchen dazu zwingen, bis zur Erschöpfung, bis zum Tode weiter zu tanzen, ihr Rot hat man vor diesem Film noch nie gesehen.  In seiner fatalen Verführungskraft erinnert es an den Lippenstift, den sich die verrückt werdende Schwester Ruth im Finale von Schwarze Narzisse über die Lippen zieht. Es ist dort die Verlockung der Sinnlichkeit, hinter der sich Abgründe einer unrettbar verlorenen Seele verbergen. Es ist hier die Verheißung von Ruhm, Ehre und dem vollkommenen Aufgehen  und Verlust des Selbst in der künstlerischen Tat.

Powell und Pressburger waren Magier in der Komposition von Farbe und Bild, nicht zuletzt dank ihres Kameramanns, dem im April verstorbenen Jack Cardiff und in “Die Roten Schuhe” haben sie sich in formaler Hinsicht selbst übertroffen. Den visuellen wie künstlerischen Höhepunkt nicht nur dieses Films, sondern des Tanzfilms generell, bildet die rund 17-minütige Erzählung der Geschichte-innerhalb-der-Geschichte – die Aufführung der “Roten Schuhe”. Das konventionelle Abfilmen der Bühnengeschehnisse, die daraus resultierende fundamentale Trennung zwischen der Erzählebene im Stück und derjenigen des Films überwinden P&P, in dem sie zunächst wie schon Busby Berkeley bei seinen Musicaleinlagen, das Kameraauge von der Zuschauerperspektive befreien und mitten auf der Bühne platzieren. Daraus folgend wird die Geschichte des Märchens in der Diegese (der Filmwelt) als gleichwertig behandelt. Anders gesagt: Die Fesseln des Theaters werden abgelegt.

Dank noch heute beeindruckender Special Effects eröffnet sich ein Tor in die grausame, von Hans Christian Andersen erdachte Fantasiewelt. Da tanzt das Mädchen in Zeitlupe nachts durch den von Menschen verlassenen Jahrmarkt, ihre einsame Selbstverlorenheit eindringlich auf eine Weise, von der moderne Filmemacher nur träumen können. “Träumen” ist das richtige Wort für die gesamte, den Zuschauer sprachlos zurücklassende, Sequenz. Die umher gleitende Kamera scheint der einzige ständige Begleiter dieses Mädchens, das keine Ruhe finden kann und von den Schatten der dunklen, zunehmend sich zur Traumwelt wandelnden Stadt zum Weitertanzen gezwungen wird. Es ist dies ein Tanz, der nicht nur die pure, schöne Attraktion (wenn er darin auch sehr erfolgreich ist), sondern Mise en abîme, ein Spiegel der Filmhandlung, ist. Ein Kondensierung der Handlung auf wenige magische, märchenhafte Minuten; eine, die so weit in die restliche Story verzahnt ist, dass schlussendlich beide Ebenen ineinander übergehen und die vormalig auszumachenden Grenzen verschwimmen.

Dermaßen sticht hier technische Meisterleistung und gekonnte stumme Erzählung hervor, dass der restliche Film demgegenüber an Wirkung einbüßen muss. Immerhin eine Stunde dauert es, bis das Ballett zum Hauptdarsteller wird, denn Powell und Pressburger schenken dem Zuschauer bis dahin nur winzige Appetithäppchen, welche weder den Hunger nach der erwarteten P&P-Zauberei stillen können, noch sollen. Ohne den Auftritt Anton Walbrooks erschiene diese erste Hälfte wohl als unbedeutende seichte Tänzergeschichte.

Walbrooks dämonischer Charme verleiht dem besessenen Lermontov die Aura eines charismatischen Schattenwesens, das seine Tänzer aus der Realität entlockt und sie wie Blinde am Rande einer bodenlosen Kluft zurücklässt. Die glänzenden Augen, die seinem Theo in Leben und Sterben des Colonel Blimp noch eine tiefe Melancholie verliehen hatten, glimmen nun gefährlich, wann immer er die Macht über seine tanzenden Marionetten zu verlieren droht. So mysteriös wie die Welt des Märchens verzaubert dieser Magier der wirklichen Welt die zweite Hälfte des Films, findet sich Vicky wie auch der Zuschauer in seinem Bann wieder.

Dieser Lermontov lebt nicht nur das Ballett, er ist Ballett. Seine eleganten tänzelnden Bewegungen, der geschwungene melodische Akzent; das sind die Zutaten seines existenzbedrohenden Sirenengesangs. Er ist Michael Powell, der seine Zuschauer mit wunderschönen Bildern anlockt, manchmal gnädig ist, die Schönheit bewahrt und manchmal den Vorhang des Scheins fallen lässt; seine Zwischenwelten als alptraumhafte Labyrinthe entlarvt und dennoch folgt man seinem filmischen Gesang immer wieder gern.

[Erstmals veröffentlicht in der OFDb am 08. Juni ’09.]


Zum Weiterlesen:

 

Uralte Kritiken von mir zu den beiden P&P-Filmen Leben und Sterben des Colonel Blimp und Irrtum im Jenseits.