Neon, Dreck und männlicher Abschaum – Abel Ferrara in den 80ern

“All the animals come out at night. Queens, fairies, dopers, junkies, sick venal. Some day a real rain will come and wash all the scum off the streets. […] Thank god for the rain to wash the trash off the sidewalk. Listen you fuckers, you screwheads. Here is a man who would not take it anymore. A man who stood up against the scum, the cunts, the dogs, the filth, the shit. Here is a man who stood up.” (Travis Bickle)

Der von Travis Bickle in Taxi Driver prophezeite Regen sollte wirklich kommen. Er war es zwar nicht, der ihn brachte, sondern ein gewisser Rudolph „Rudy“ Giuliani, der 1994 Bürgermeister einer bis dahin postapokalyptischen Stadt wurde und mit seiner Zero-Tolerance-Politik ordentlich ausmistete. Heute sehen die Bilder aus dem altem New York der 80er Jahre etwas surreal aus, fast als ob „Die Klapperschlange“ von John Carpenter nie in der Zukunft lag, sondern in der Vergangenheit. Es war eine heruntergekommene Stadt, die mancherorts mehr einer Müllhalde glich und in der diverse Arten von Kriminalität erschreckend alltäglich waren. Und es gab einen Mann, der diese Zeit wie kein anderer eingefangen hat. Der vor dem Sieg dieses rechtskonservativen Meister Propper einer Welt ein Gesicht und eine Stimme gab, einer Welt der Loser, der verlorenen Existenzen, der Zerrissenen, des Drecks und des Abschaums, vor der sonst die meisten die Augen verschlossen und von ihrer eigenen Phantasie getrieben, über diese urteilten. Aus der Mitte des Drecks kam er und war Teil des Abschaums. Abel Ferrara, der bis heute, um es mit Dominik Graf zu sagen, dem Corporate-America auf die Teppiche pinkelt.

Kurz vor Giulianis Amtsantritt ist vielleicht Ferraras erfolgreichste Zeit, was Kritik und Einspielergebnisse angeht. King of New York und Bad Lieutenant sind vielleicht auch die Filme, mit denen er am meisten verbunden wird. Doch in den 80ern, als New York noch sein New York war, war die Zeit, als er zu sich fand, als sich sein Stil herausbildete, als er ein paar seiner besten Filme machte. Die Geschichten spielten zwar nicht alle in der Metropole am Abgrund, aber dieses Gefühl, dass alles und jeder am Rande des Untergangs steht, kann auch in in den anderen gespürt werden.

Sechs Filme hat er in den 1980ern gemacht:

  1. Ms. 45 (USA 1981) – Eine Frau wird vergewaltigt und schlägt zurück. Mit einer 45er Magnum macht sie nachts Jagd auf Männer.
  2. Fear City (USA 1984) –Tom Berenger spielt einen traumatisierten Boxer, der inzwischen Stripperinnen managt. Ein Serienkiller fängt an, seine Tänzerinnen umzubringen und versetzt das New Yorker Rotlichtmilieu in Hysterie.
  3. The Gladiator (USA 1986) – Ein Mann übt Selbstjustiz an rücksichtslosen Autofahrern, nachdem sein Bruder bei einem Autounfall stirbt.
  4. China Girl (USA 1987) – Hochglanzversion von Romeo und Julia im kontemporären New York. Ferrara legt den Fokus aber auf Hass und Rassismus zwischen Weißen und Asiaten.
  5. The Loner (USA 1988) – Bei weniger als 5 Bewertungen auf imdb, würde ich ihn unverfroren als verschollen deklarieren.
  6. Cat Chaser (USA 1989) –Verfilmung eines Elmore Leonard Thrillers. Ehemaliger Fallschirmjäger (Peter Weller) mit Kriegstraumata verliebt sich in die Frau eines ehemaligen dominikanischen Generals. Existiert nur noch in stark gekürzter Form. Ferrara ist wohl der einzige der eine Kopie des Originals hat.

Abel Ferrara hatte in Purchase, New York Film studiert, aber nach seinem Abschluss keine Arbeit gefunden. Zwischenzeitlich hielt er sich auch mit dem Dreh eines Hardcorepornos über Wasser, 9 Lives of the Wet Pussy, bis er seinen ersten Langfilm Driller Killer im Jahre 1979 verwirklichen konnte. Der Film über einen Serienmörder mit Bohrmaschine wurde direkt ein Insiderhit, der ihm einen gewissen Ruhm brachte und die Möglichkeit, konstant weiter zu arbeiten. Doch dieser Film gehörte auch noch einer anderen Zeit an. Wie Jim Jarmuschs Erstling Permanent Vacation bewegt er sich noch deutlich im Schatten der alten Größen des Big Apples: Warhols Factory (besonders Paul Morrissey ist an allen Ecken spürbar), Ron Rice, Jack Smith, John Cassavetes. Aber auch die etwas verkommenere Schiene hatte Einfluss bei ihm hinterlassen. Man sehe nur Psycho-Pornos wie Water Power neben Driller Killer und es ist kaum zu übersehen. Es war ein typischer Film der New Yorker 70er. Lange Einstellungen, der spröde, unglamouröse Realismus in den Bildern, der gegen die absurde Charaktere und Geschichten anzukämpfen scheint und natürlich die drastischen Entwicklungen sowie eine Grundwirre. Also ein Film wie gemacht für die experimentierfreudigen Mitternachtsvorstellungen, die gerade begannen abzusterben. Unter anderem auch wegen Filmen wie Driller Killer, welche das Midnight-Movies-Konzept mehr ausbeuteten als bereicherten.

Seine Themen hatte er mit Nicholas St. John, dem Drehbuchautor mit dem er fast ausschließlich zusammenarbeitete, schon gefunden, sowie einige stilistische Erkennungsmerkmale, die ihn lange begleiteten. Aber wie verschüttet lagen sie unter dem Ballast der Vergangenheit begraben. Ms. 45 war ein Schritt in die Richtung, dieses Gewicht abzuwerfen. Er war aufgeräumter und es war zu spüren, dass Ferrara deutlicher wusste, was er wollte. Stilistisch unterschied er sich aber nur marginal von seinem Vorgänger. 1984 verkaufte er dann anscheinend dem Teufel seine Seele an einer verlassenen Straßenkreuzung. Anders ist der abrupte Wandel kaum zu erklären. Er warf mit einem Mal alle Versuche, Kunst zu sein, hin. Alles Manierliche verschwand. Fear City ist ein luzides Genrewerk über einen Frauenmörder, welches ohne Ambitionen auf Tiefsinnigkeit oder Factory-Absurditäten auskommt. Ein rauschhafter, lasziver Alptraum über das Unbehagen in der Moderne, der zwar von klischeehaften Charakteren und Dialogen strotzte, aber genau darin seinen Blick auf New York und seine Menschen findet. Denn so stehen diese nicht im Weg. In einem hypnotischen Sog aus Neonlicht und Dreck schaut er an den Pappmachéoberflächen der Figuren vorbei und in ihr Herz. Ein Ort voller Widersprüche und ohne einfache Lösungen.

In den „Girls Girls Girls“-Neonreklamen der Stripclubs fand er alles, was ihn interessierte, den Sex mit all seinen Machtverhältnissen und Gewalttätigkeiten, den Dreck und das Gefühl der Leere, des Alleinseins, des Verlustes und des Trostes, aber auch die Religion und mit ihr Schuld und Erlösung. Dieses Neon strahlte vielleicht in den kommenden Filmen nicht mehr von Stripclubreklamen, sondern von den Straßenlaternen, der Kleidung und den Wänden, aber es war in den 80ern immer an seiner Seite. Er war es, der dem Neon seine Kälte nahm und ihm Wärme gab. Wärme durch all den Schmutz, den Schlamm und den Verfall, den er darüber und darunter verteilte und durch die Hoffnung, die er darin zu erkennen gab. In fast all den Filmen scheint New York von Straßen und Gassen ohne Beleuchtung bevölkert zu sein, deren Dunkelheit nur durch grelle Straßenlaternen von der nächsten Kreuzung waagerecht aufgebrochen und in ein seltsam erhabenes Zwielicht getaucht wird. Gerade dieses Bild der Erlösung und Befreiung am Ende der Straße ist es, welche die Vorhölle erträglich macht, in der sich die Charaktere befinden.

Vor allem ist Fear City aber so etwas wie das Gegenstück zu Taxi Driver. In Letzterem sehen wir die Welt mit den rassistischen, faschistischen und mitunter sexistischen Augen von Travis Bickle. Die Welt, die er sieht, ist verkommen und nur ein reinigender Regen kann die Stadt noch blitzblank waschen, von all den Huren, Schwulen, Schwarzen, Zuhältern und dem sonstigen Abschaum. Doch der Regen, den er sich erträumt, ist nur in seiner Phantasie aus Wasser. Der Regen, den er bringt, ist der des Feuers. Er ist gewalttätig und darauf aus, alles umzubringen, was sich seiner Vorstellung von Reinheit widersetzt. Diesen Charakter gibt es auch in Fear City, nur deutlich sexistischer. Es handelt sich um einen Serienmörder, der es auf Stripperinnen abgesehen hat. Er versucht die Welt, von diesen Metzen zu befreien, auf das es eine sauberere wird. Doch Abel Ferrara zeigt uns das Geschehen nicht aus seiner Sicht, sondern aus der der Manager der Stripperinnen. Also im Grunde aus dem Blickwinkel des Zuhälters, den Harvey Keitel in Taxi Driver spielte. Während Scorsese und Schrader den Psychopaten ausleuchten, schaut Ferrara auf die Maden, auf die Travis Bickle herabblickt. Er stellt sich auf ihre Seite und sieht zu, wie der Agent einer saubereren Welt auf den Dreck einschlägt. Er leidet mit ihnen und zeigt sie mit allen ihren Fehlern und verachtungswürdigen Taten, aber auch als Menschen. Sicherlich ist sein Bild des Rotlichtmilieus voll von Romantizismen. Er hat einen Thriller gemacht, der quer zur Realität verläuft und eher Genreregeln gehorcht, als dass er ein realistisches Bild zu zeichnen versuchte. Bei ihm geht es um Gefühl und nicht um Ratio. Er lallt und schreit und gibt allem den Anstrich einer hysterischen Künstlichkeit. Und die Welt, die er zeigt ist alles andere als perfekt. Sie ist voll Gewalt und Ausbeutung und sie ist es schon vor den Morden. Und er schaut voll Mitgefühl, voll menschlicher Wärme auf diese und nicht mit Verachtung. Er zeigt Menschen am Rand zum Untergang, die im täglichen Überleben ihre Würde finden … oder garstig daran scheitern.

Diese Wärme hat aber ihre Grenzen. Seine Filme sind voll von männlicher Gewalt gegenüber Frauen. Meist hat es dabei den Anschein, dass sich Ferrara für seine Geschlechtsgenossen schämt, vielleicht auch für seine eigenen Gedanken. Die Bilder und Geschichten flirren vor Widersprüchen. Unauflösbar gefangen zwischen der eigenen gewalttätigen Geilheit und dem Selbsthass auf diese Verkommenheit. Der immer wiederkehrende Katholizismus ist deshalb nie aufgesetzt, sondern das Ringen mit sich selbst. Die Hoffnung auf die Erlösung, die nie kommen wird. Neben dem Serienmörder gibt es Tomás Milián, der sein Frau in Cat Chaser mit einer Pistole vergewaltigt, in China Girl will ein Junge seine Schwester vor der Welt schützen, indem er sie zu einem Leben im eigenen Heim zwingen möchte. Aber das ist alles nichts gegen Ms. 45. Die stumme Thana wird an einem Tag gleich zweimal vergewaltigt. Im Affekt erschlägt sie den zweiten Vergewaltiger mit ihrem Bügeleisen und nimmt sich seiner 45er Magnum an. Von Flashbacks ihrer Misshandlung verfolgt fängt sie erst an sexuell-aggressive Männer zu ermorden, vor allem Zuhälter und Machos, bis es irgendwann einfach nur noch Männer sind. Sie eskaliert, aber bis zum Schluss bleiben die Sympathien des Films bei ihr. Vielmehr feiert Ms. 45 die Auferstehung der schüchternen, verklemmten Thana. Zu Beginn sehen wir immer wieder Subjektiven von ihr, wie sie von Männern bedroht wird. Die Männer kläffen aggressiv in die Kamera. Thana und mit ihr die Zuschauer werden angegriffen, ohne eine Handlungsmöglichkeit zu besitzen. Diese Subjektiven verschwinden mit der Ermächtigung des Opfers zum Täter vollkommen. Das ist zwar auch keine Lösung der inneren Probleme des männlichen Selbsthasses, aber eine erleichternde, zwischenzeitliche Reinigung, die Ferrara sichtlich gefällt. In einem irrsinnigen, entrückten Finale findet alles sein Ende und all die Männer, die aus dem Film verschwunden sind, kommen in den folgenden Werken wieder. Es ist schon liebenswert, wie er außerstande ist, eine Lösung für seine Probleme zu finden.

Sein vielleicht untypischster Film der Zeit spricht davon Bände: The Gladiator. In das Das Imperium schlägt zurück gibt es eine Szene, in der Luke Skywalker auf Dagobah in einer Höhle gegen Darth Vader kämpft. Yoda warnte ihn, dass an diesem Ort die dunkle Seite der Macht sehr stark sei. Als Luke Vader besiegt, stellt er fest, dass alles nur eine Vision war und unter dem schwarzen Helm niemand anderes als er ist. Diese Szene ist eines der Herzstücke der alten Star Wars-Trilogie. In ihr wird Luke und Vaders Kampf mit sich selbst, ihre gegenseitige Spiegelung und die Identität ihrer Probleme, welche zumindest die letzte beiden Teile durchdringt, auf einige Motive runter gebrochen. The Gladiator ist nun nichts weiter als eine hochgejazzte Version dieser Szene. Der Bruder Rick Bentons stirbt in einem Autounfall, der durch einen Autofahrer ausgelöst wird, der in Selbstjustiz gegen Verkehrssünder vorgeht. Rick Benton fährt daraufhin Wochenlang nachts durch die Stadt. In einer ewig langen Sequenz fährt er einfach nur im Auto durch die Nacht. Es ist seine Art, die Trauer zu verarbeiten. Am Ende hat er den Entschluss gefasst, dass er per Selbstjustiz für Sicherheit auf den Straßen sorgt. Er wird der Gladiator. Und mit jeder Minute des Films wird er rigoroser, bis er wieder auf den ursprünglichen Autofahrer trifft. Konsequenterweise wird dieser von Ferrara nie gezeigt. Nur sein schwarzes Auto, sein Rüstung ist zu sehen, denn wie Rick feststellen muss, ist es im Grunde er selbst gegen den er kämpft. Eines wird hier klar, die Probleme der Welt sind immer auch die inneren Probleme mit sich selbst. Dieser kleine, billige Film, der teilweise sehr nah an das Oeuvre eines Joe D’Amato kommt, sollte nicht unterschätzt werden. Als Film und als Teil der Filmographie eines Mannes, der den Ruf hat, ein filmischer Sadist zu sein, aber nur mit den eigenen Dämonen kämpft.

In den 80ern machte Ferrara sechs Filme. Alle von ihnen waren reißerische Thriller, sichtlich mit schwankenden Budgets. Aber alle waren von ihrer Sympathie mit den Lowlifes gekennzeichnet, die sich am Rande der Gesellschaft durchschlagen. Er gab ihnen vielleicht keine ehrbaren Filme mit Oscarpotential, aber dafür zeigte er sie, so wie er sie sah. Und das war alles, aber kein sauberer, aufgeräumter Blick von Oben. Er war unter seinesgleichen und zeigte sie, mit all ihrer Zerrissenheit, ihren Verletzungen, Widerlichkeiten und Widersprüchen. Und wer die Folge von Cinema, de notre temps gesehen hat, in der ein Kamerateam ihm durch New York folgte, weiß, dass er es so unvergleichlich konnte, weil er einer von ihnen war. Die Folge hieß Abel Ferrara: Not Guilty.

Neuer Trailer für Soi Cheangs Motorway

Schlank. Schön. Aufs Wesentliche reduziert. Es ist immer wieder erstaunlich, welche Entwicklung Soi Cheang bzw. Cheang Pou-Soi bzw. Whatever allein seit Dog Bite Dog durchgemacht hat, ganz zu schweigen von seinen Anfängen. Erst die hypersensitive Selbstzerfleischung, dann die an Expressivität sich selbst überstürzende unglaublich abgefahrene Manga-Verfilmung Shamo, schließlich die Coppola-Hommage meets Milkyway-Housestyle im Setzkastenformat namens Accident und nun Motorway, der in China mit Ausschnitten aus Andrew Laus Initial D beworben wird (of all things!). Im Sommer startet das Autorennen in Hongkong.

Mit dem Schangel-Shuttle ins Land des Schlock*

Vom 9. bis zum 19. Februar fand einmal mehr die Berlinale statt. Manch einer mag sich noch daran erinnern. Manch einer war sogar da. Diese Berlinale war, zumindest aus meiner Sicht, äußerst erinnerungswert. Deshalb hier ein kleiner Rückblick auf länger Vergangenes. Ist ja schließlich auch ein recall.

Schon alleine die großartigen Menschen, denen ich begegnete, waren ein Erlebnis. Wie der Mann, auf den ich im Friedrichstadtpalast traf, als er in meinem Stuhl saß, nachdem ich vom Überreichen der Eintrittskarte an den Luzifus wiederkam und mich darauf hinwies, dass hier nicht Mallorca ist (Handtücher, Liegestühle und so fort). Oder der kleine Asiat, der sich im Cinemaxx an die Pinkelbecken stellte und sich ruhig und gelassen links und rechts umsah (vielleicht wollte er diesem einen Klischee auf den Grund gehen). Noch viele mehr wären erwähnenswert, da sie es sind, die dem ganzen ein Gesicht geben und ein Gefühl von Geborgenheit ausstrahlen. Aber diese beiden sollen für sie alle stehen. Vor allem waren es aber die Filme, die dieses Jahr so unberlinalerisch waren (vielleicht habe ich einfach nur gelernt, nicht mehr in die typischen Berlinale-Langweiler zu laufen) und damit jede Menge Highlights boten. So wurden alle Erwartungen unterlaufen und die 8 Tage meines Aufenthalts hielten größtenteils wunderbare Kinoerlebnisse bereit. 36 Filme und die Perlen überwiegen. Wer hätte es gedacht?

Die Köpfe des Janus

Kebun binatang (Postcards from the Zoo) von Edwin und Koi ni itaru yamai (The End of Puberty) von Kimura Shoko waren vielleicht die größten Ereignisse der Woche. Der eine war eine wunderschöne Perle, eine verhaltene Feier der Bilder und des Lebens, der andere eine physische und psychische Grenzerfahrung, die kaum auszuhalten war. Beide hatten aber eins gemeinsam, dass sie nämlich von ihren Widersprüchen lebten und gerade darin ihre Kraft entwickelten.

Postcards from the Zoo (RI/D/HK 2012)

Ein Film mit einer makellosen Oberfläche, auf der ein Mädchen immer glücklich durch ihr Leben stapft. Durch ihr freudestrahlendes Leben im Zoo, in dem sie elternlos aufwächst. Die Bilder dazu sind schön, keimfrei, immer etwas Positives ausstrahlend, wie eben die Hauptdarstellerin. Und wer es durch diese Pastelle noch nicht mitbekommt, dass hier eine naiv-fröhliche Welt gezeigt wird, der erhält die passende naiv-fröhliche Musik dazu, die ruhig den passenden Zauber verbreitet. Doch unter dieser Oberfläche, kaum merkbar, lauern Abgründe, Einsamkeit, Trauer, Ausgrenzung, Verlorenheit. Und die größte Stärke von Edwin ist, dass er gerade in dem Moment, wenn die rosawolkige Glücksbärchiwelt der Oberfläche fast alles andere erstickt, einen Schnitt einbaut, der das Verborgene plötzlich offenbart, der so unfassbar ist, dass er fast schon unauffällig ist, der den Zuhälter mit misshandelter Prostituierten präsentiert, als ob wir immer noch in dieser Traumwelt sind. Hell erleuchtete Naivität und Düsternis in einem und nebeneinander, wie zwei verwachsene Köpfe. (Und am Ende gibt es noch den Beweis, dass Where is Waldo? große Kunst war, ist und bleibt.)

 

The End of Puberty (J 2012)

Hier ist alles ganz anders. Nichts mit Unaufdringlichkeit und Zauber. Nachdem ein Mädchen mit ihrem verklemmten Lehrer schläft, geht ihr größter Wunsch in Erfüllung und ihre Genitalien sind ausgetauscht. Doch der Traum einer heilen Welt, in der sie nicht mehr zu trennen sind, entwickelt sich zu einem Alptraum für alle Beteiligten, an dessen Ende furchtbarerweise jeder etwas lernt. Doch was zwischen Anfang und Ende passiert, ist eine dermaßen verkrampfte, hysterische Verzichtsorgie, dass es kaum auszuhalten ist. Niemand reagiert auf die neue Situation mit auch nur einem kleinen Stück Offenheit. Mit dem neuen Geschlecht ficken? Bloß nicht! Das wär ja nur eine aufregende, neue Erfahrung, die niemand sonst haben kann. Vielleicht auch die Lösung zur Rückverwandlung. Auf die Idee scheint niemand zu kommen. Es herrschen geradezu spastische Verhaltenskrämpfe wohin das Auge reicht. Da wird sich in Schränken versteckt, Kommunikation eingestellt, getrotzt und ignoriert. Sensible Gender- und Identitätsthemen werden durch den Kakao gezogen und von den Akteuren mit Unwillen und Unfähigkeit beantwortet. Die vorgetragene Lethargie ist unerträglich. Wer das ansehen kann, ohne dass sich dabei Gewaltphantasien (Schütteln, Schlagen) gegenüber den Beteiligten entwickeln, kann sich eines dicken Fells loben. Alle anderen bekommen eine Operation am offenen Herzen, denn irgendwann bleibt einem nur noch die Rettung in die Selbstreflexion und die naheliegenste Frage lautet: „Warum kann ich mir diese beschämenden Handlungen der Hauptdarsteller nicht passiv oder entspannt anschauen?“, und wenn diese Frage erst einmal im Raum steht, dann sitzt man wirklich in der Bredouille. Eine seltsame (Teenager-) (ich kann es in diesem Zusammenhang kaum aussprechen) Komödie, von der nur abzuraten ist, außer der Blick in den Spiegel hat leider lange nicht mehr geschockt.

Die glorreichen Sieben

Desweiteren gab es sieben Filme, welche eine Fest für die Augen waren. Filme voll Dreck, Glorie und Gefühl. (Die folgende Aufreihung ist rein chronologisch nach Sichtungszeitpunkt geordnet und entspricht keiner Rangordnung.)

Dollhouse (IRL 2012)

Kirsten Sheridans Film ist vor allem eins: wild. Eine Gruppe Jugendlicher bricht in ein Haus ein, um dort etwas Spaß mit fremdem Eigentum zu haben. Folglich geht jede Menge kaputt, besonders nachdem sich herausstellt, dass es das Elternhaus einer der Beteiligten ist. Doch das Chaos der Zerstörungswut ist nichts gegen die ungehemmte Inszenierung und das ausgelassene Spiel mit prätentiösen Gesten und Wendungen, die dermaßen daneben sind, dass es einen höllischen Spaß macht. Kein Gedanke scheint an mögliche Kritikpunkte verschwendet. Es wird einfach nur rausgelassen. Nach Dollhouse fällt es vielleicht schwer, über das eben Gesehene klüger zu sein, doch das ist egal, weil … Klügersein uninteressant ist, wenn es um solch ein rätselhafte, tolldreisten Narretei geht.

Barbara (D 2012)

Vor allem kann Christian Petzold zu der Entscheidung gratuliert werden, dass er nicht mehr digital filmen möchte. Satt und warm ist Barbara wie noch kein Film, den ich von ihm gesehen habe, und es steht im extrem gut. Neben der strengen Ruhe der Erzählung findet sich in den Bildern eine Teilnahme, die ab und zu etwas manierlich daherkommt (der bedrohlich wehende Wind in den Büschen und Bäumen an denen Barbara mit dem Fahrrad vorbei fährt, die Charakterisierung der Figuren über Bücher, dass fast etwas Godard durch den Film weht usf.), aber gerade dadurch eine menschliche Note bekommt, die zum Beispiel in „Wolfsburg“ völlig fehlte (und in der Klarheit der digitalen Bildern von „Jerichow“ fast übersehen werden konnte).

Bugis Street Redux (SGP/HK 1995/2011)

Die 16-jährige Lian (Hiep Thi Li) wird Rezeptionistin im Sin Sin Hotel, das von sich größtenteils prostituierenden Transsexuellen bewohnt wird. Bei der Berlinale kann sowas schnell in verstockten Toleranzbelehrungen enden. Yonfans Film ist aber betörendes Coming-of-age, wie es Spaß macht: überladen, komplett schwülstig, hysterisch, und voller zarter Empfindsamkeit. Zudem gibt sich der Bugis Street Redux keine Mühe, seine Energie auf stilistische Konsistenz oder Strenge zu verschwenden. Was passieren muss, passiert einfach, so wie es gerade sein muss. Impressionistische Details, Doku-Elemente, alles kommt zu seiner Zeit, wenn es als eine gute Idee erscheint. Das Ergebnis ist Offenheit und Wärme, die sich ganz auf die Figuren konzentrieren.

Prílis mladá noc (CZ/SLO 2012)

Auf Englisch: A Night to Young, hätte aber auch „Games Without Frontiers” heißen können, denn jeder spielt hier mit dem Übertreten von Grenzen … die einen mit den eigenen, die anderen mit denen der anderen. Niemand fühlt sich dabei wohl, aber vor den anderen zurückstecken, wäre zu demütigend. Da ist die junge Lehrerin Katerina, die von ihrem Freund David enttäuscht wurde und ihn zur Neujahrsfeier provozieren möchte, indem sie zwei 12-jährige Jungen zum nächtlichen Umtrunk einlädt. Beide sind selbst sauer, da sie Sylvester zu Hause bleiben mussten. David selbst ist mit der Beziehung nicht mehr glücklich und versucht Katerina an seinen Freund Stephan abzutreten. Alle fünf Beteiligten sind verletzt worden. Alle fünf reagieren mit Trotz und wollen jemanden verletzten und fordern sich heraus, ohne zu wissen was sie machen. Doch auch wenn der Abend und der Film immer an der Grenze zur Eskalation tanzt, bleibt er immer seiner ruhigen, melancholischen Art treu. A Night to Young scheut jeden Sensationalismus. Stattdessen wird der unaufgeregte Blick auf verletzte Seelen im Zwielicht einer nächtlichen Wohnung geboten.

Haywire (USA 2011)

Der nächste Hit von Steven Soderbergh. Ich wurde mit ihm bisher nicht warm. Doch dann sah ich Contagion. Vielleicht hab ich nun einen Zugang zu seinem Werk gefunden, vielleicht sind es aber nur diese beiden, welche diesen faszinierenden Spagat schaffen, dass sie trotz der formal strengen Inszenierung nicht in Kälte verfallen. Da wo Contagion wie die mathematische, elliptische Untersuchung von menschlichem Verhalten war, da ist Haywire pure Form. Ein Actionfilm dessen Plot keine Besonderheiten bereit hält. Auftragskillerin Mallory Kane wird von ihren Auftraggebern verraten und gejagt, doch sie dreht den Spieß um. So abgelutscht die Geschichte, so spannend und lebendig die Form. Der Film selbst ist es, der atmet. Ruhig und elegant folgt er den Figuren, ohne dass diese an Leben gewinnen würden. Hauptdarstellerin Gina Garano spricht passenderweise wie ein Roboter. Doch wie es passiert, was im Grunde so leblos ist, ist atemberaubend (schön). Komplett entschlackt und auf das Wesentlichste reduziert zelebriert Haywire Bewegungen, Schnitte und Bilder und findet so eine eigene/eigenartige Form von Lebendigkeit.

Kino to shita no aida (J 1954)

Nicht nur das die Berlinale dieses Jahr die Lebendigkeit gelernt hat, sie lehrt sie auch. Was letztes Jahr mit Minoru Shibuya angefangen wurde, setzt das Forum dieses Jahr mit Kawashima Yuzo fort. Die japanische Filmgeschichte vor der neuen Welle und vor allem das Gendaigeki (kontemporäre Dramen) scheint beherrscht durch Teutonen und gefühlsbetonte Autisten (formal strenge Regisseure, die wissen, was sie tun – Ozu, Mizoguchi, Naruse usf.). Kino to shita no aida (Between Yesterday and Tomorrow) zeigt aber einen großen Wilden (im Vergleich zu seiner Zeit – in einer Welt in der etwas wie Troma bald seinen 40. Geburtstag feiern kann und Filme wie „Ghost Rider: The Spirit of Vengeance” durch die Kino ziehen, da muss zumindest das groß gestrichen werden) auf einem Höhepunkt. Dringlichkeit und fehlende Perfektion bestimmen dieses Melodram über eine aufbrechende Gesellschaft, in der Frauen Affären haben, ihr Leben bestimmen wollen und können und ein getriebener Mann sein geregeltes Leben verlässt, um eine Fluggesellschaft zu gründen und etwas zu erleben. Hysterisch. Wunderschön. Packend (an der Kehle, am Magen).

L’âge atomique (F 2012)

Es geht nicht um Atomkraft und trotzdem scheint hier alles radioaktiv. Die Musik. Die Farben. Das Verhalten dieser überheblichen Klugscheißer, die einen Abschluss in prätentiösem Dauerquatschen haben und natürlich die Hauptdarsteller sind. Die nach Paris fahren, um Party zu machen. Dass alles schief geht, tut dabei nichts zur Sache. Verloren sind die beiden Hipster aus der Vorstadt schon beim Aufbruch. Sie torkeln durch die Nacht und wissen nichts mit sich und ihrem Leben anzufangen. Aber im Grunde wollen sie das auch gar nicht. Glücklicherweise weiß die Atmosphäre dieser verstrahlten Nacht mit ihren verstrahlten Farben zu verhindern, dass L’âge atomique auf das Niveau einer prätentiösen Nabelschau abgleitet. Vor allem weil Regisseurin Héléna Klotz auch nicht weiß, was sie will, außer diese Trümmer zu durchstöbern. Zu gleichen Teilen Claude Berri, aufgeräumter Lynch und Lady Gaga. Luftig und zart der Blick auf die Menschen, beklemmend die Bilder und verschroben die Geschichte.

The Good, the Bad & the Ugly

Zum Schluss noch der ganze Rest. Aufgeteilt in die guten (gut gemacht und eigentlich ist auch nichts an ihnen auszusetzen, außer dass sie vielleicht manchmal zu glatt sind), die schlechten (missfallen von erträglich bis himmelherrgottnochmal) und die dreckigen Filme (aufregend). Sortiert nach Gefallen, d.h. je höher sie stehen, desto besser waren sie.

Blondie

The Connection (USA 1962) – Jazzmusiker und andere Junkies warten in einer Wohnung auf die Drogen-Connection. Shirley Clarkes liebevolle Parodie auf das Cinema vérité.

Hemel (NL/E 2012) – Hemel ist promiskuitiv. Schlaglichter auf einer Spurensuche.

Iron Sky (FIN/D/AUS 2012)  – Der ungelenk gewollte Versuch einen Trash-Film zu machen, wird zum Glück schnell zu Gunsten einer satirischen Komödie über den Haufen geworfen.

Ang Babae sa Septic Tank (RP 2011) – Herrlich alberner Film über die Klischees, die vom Kino der dritten Welt im Westen erwartet werden.

Ornette: Made in America (USA 1985) – Shirley Clarkes letzter Film. Eine Doku über Ornette Coleman. So wild geschnitten wie ein Free Jazz-Solo.

Hot boy noi loan – cau chuyen ve thang cuoi, co gai diem va con vit (VN 2011) – Heiße Jungs und eine wunderschöne Szene mit einer Ente.

Was bleibt (D 2012) – Großteils dröge Familienbefindlichkeitsgeschichte, die sich mit einem tollen Ende rettet.

Die Vermissten (D 2012) – Clash of Generations. Ein Krimi, der sich zusehends in ein surreales Gesellschaftsportrait wandelt.

What is Love (A 2012) – Doku über diverse Menschen und ihr Verhältnis zur Liebe. Streng und extrem abhängig von der Qualität der Protagonisten. Die interessanten Exemplaren sind zum Glück in der Überzahl, wenn auch knapp.

Angel Eyes

Puthisen Neang Konrey (K 1968) – Ein anfangs toller, wilder, ungehemmter Film, der in einem unfassbar öden zweiten Hälfte zu viel verspielt.

Rwanyje baschmaki (UdSSR 1934) – Fades Kinder-Varieté über den Klassenkampf in den 30ern.

Captive (F/RP/D/GB 2012) – Weltpolitik auf der Berlinale, da gibt es nichts zu lachen. Das ist alles ernst und so gewollt. Wenigstens mit einem Phönix.

Miss Mend 2 & 3 (UdSSR 1926) – Ermüdender stummer Agententhriller mit einigen guten Ideen, aber zu viel Aktion ohne Gehalt.

Tiens moi droite (F 2012) – Die Pointe dieses Essays ist, dass jeder Mensch seinen Beutel zu tragen hat und man nicht der einzige mit Problemen ist … wow.

Tabu (P/D/BR/F 2012) – Blutleere Mischung aus Aki Kaurismäki, Wes Anderson und Guy Maddin.

Dictado (E 2012) – Spannung? Atmosphäre? Irgendeine Form von Kreativität? Fehlanzeige.

Cherry (USA 2012) – Kaum durchzustehen.

Friends after 3.11 (J 2011) – Letztes Jahr sorgte Iwai Shunji mit „Vampire“ für das Highlight. Dieses Jahr redet er auf Forenniveau mit Bekannten über Atomkraft. Fucked up.

Tuco Benedicto Pacífico Juan María Ramírez

Das Ende von St. Petersburg (UdSSR 1927) – Wild. Wild. Wild.

Dom na Trubnoi (UdSSR 1928) – Was für ein Aufgebot an Ideen!?! Boris Barnets erste Großtat.

Paziraie Sadeh (IR 2012) – Eine Geld verteilende Berg-und-Tal-Fahrt um Teheran, mal witzig, mal anstrengend, mal beklemmend. Und plötzlich scheint die Apokalypse gekommen. Kiarostami in durchgeknallt.

Ledolom (UdSSR 1931) – Wunderschöner, leidenschaftlicher Propagandafilm von Boris Barnet.

Suzaki Paradaisu: Akashingo (J 1956) – Ausgestoßene zwischen den Welten. Kawashima Yuzos Melodram über mehrere Leben am Rande eines Rotlichtviertels.

Gegen Morgen (D 2011) – Schmutzig. Eklektisch. Toll.

Avalon (S 2011) – Zu verkrampft um gut zu sein. Zu stimmungsvoll um schlecht zu sein. Toll missraten.

Swoon (USA 1992) – Hemmungsloser Quatsch, der sich für Kunst hält. Im nächsten Jahr hoffentlich mehr davon.

 

*Wem das Spanisch vorkommt, der braucht sich nicht wundern. Schangel-Shuttle (eine Reihe schangliger Filme) und Schlock (verkopfter, gescheitereter Trash???) sind Begriffe von der Eskalierende-Träume-Posse, die ich besuchen durfte (dazu später mehr). Definitionen werden möglicherweise nachgereicht. Wer es nicht aushält und genau wissen möchte, der lese entweder zwei Tage hier und bekommt ein Gefühl dafür oder gibt sich mit minderwertigen Definitionen zufrieden: Schlock & Schangel.

Kontrapunkt: Schilf – Als Komparse am Set in Jena

Es war 09.30 Uhr, als ich mich auf dem Holzweg befand. Nicht im übertragenen Sinne des Wortes, sondern auf der gleichnamigen Straße vom Ziegenhainer Tal Richtung Wanderparkplatz Fuchsturm. Ein steiler Anstieg, der mich am Morgen des 12. Mai 2011 ins Schwitzen brachte. Es war ein Tag eines ganzen Monats Dreharbeiten, die das Team von Schilf in Jena und Umgebung filmten – und ich war mittendrin. Im botanischen Garten wurden Tage zuvor schon Aufnahmen gemacht, in der kleinen Raucherkneipe „Quirinus“ und, bei einem Film um zwei Physiker kaum verwunderlich, in verschiedenen Räumlichkeiten und Hörsälen der Friedrich-Schiller-Universität Jena. Insgesamt vier Mal war ich mit dabei – als Komparse.

Lange stieg ich hinauf, bis ich auf Beteiligte eines Filmteams traf. Beleuchter, die gerade metergroße, faltbare Lampenschirme zwischen allerlei Geäst im Wald platzierten, Fahrer und Co. schickten mich zur „Basis“, den Wanderparkplatz. Meine Rolle war an diesem Tag die eines Polizisten der Spurensicherung und ich sollte mit einem „Kollegen“ ein Fahrrad von einem Abhang auf die Straße hieven und dann in einen VW Caddy packen. Die Schauspieler Bernhard Conrad und Sandra Borgmann spielten Ermittler, die nach einem Fahrradunfall gerade einen Tatort sichern und den heranfahrenden Physikprofessor Mark Waschke verdächtig beäugen (Foto – bereitgestellt vom X-Verleih). Ich tat meine Arbeit freilich im Hintergrund, unauffällig und stumm und bin für den Zuschauer im Kino hinterher kaum zu erkennen. Wenn ein Komparse Glück hat, darf er für wenige Sekunden sichtbar durchs Bild huschen (wie ich beim Dreh einige Tage später in einem zur Polizeistation umdekorierten Gebäude in Weimar).

 Knapp vier Stunden dauerten diese Aufnahmen und jedes Mal hieß es „Danke!“, wenn der Take zuende gedreht war und „Bitte!“, wenn es wieder vom Anfang losging. An diesem Drehtag wurden nur wenige Komparsen gebraucht, insgesamt nicht mehr als zehn. Drei von ihnen waren echte Polizisten, die über eine darauf spezialisierte Agentur gebucht wurden. Die Gesetzeshüter reisten aus Berlin an und brachten Lederjacken mit Abzeichen, die Overalls der Spurensicherung, Polizeiautos mit Magnetlettern des Schriftzugs und einem abnehmbaren Sirenenaufbau gleich mit. Ihr Einsatz beim Film ist dabei eine willkommene Abwechslung zum Dienst auf der Wache und zuletzt waren sie in einer ZDF-Krimiserie zu sehen. Dort wurde freilich schneller gedreht, Szenen wären schneller im Kasten, versicherte mir einer von ihnen zunehmend genervt, als wieder einmal Warten angesagt war – die grundsätzliche „Tätigkeit“ eines Komparsen.

Umbaupausen waren auch dabei, will die Szenerie doch aus mehreren Blickwinkeln aufgenommen werden, damit Regisseurin Claudia Lehmann und Schnittmeister Nikolai Hartmann sich später die beste davon aussuchen können. Und so wurde einmal aus einem heran fahrenden Auto heraus gefilmt, von oben hinab aufs Auto, einmal stand die Kamera unmittelbar vor Bernhard Konrad und Sandra Borgmann. Immer wieder wurde die Szene, die im fertigen Film nur wenige Sekunden ausmacht, wiederholt.

Immer wieder wurden die Komparsen „auf Anfang“ gestellt, mussten spielen oder hatten Pausen, wenn sie nicht im Bildausschnitt auftauchen sollten. Aufgrund von warmen Temperaturen schwitzte ich im Overall zusehends und sehnte das Ende herbei, weil auch das aus Obst und Plätzchen und Keksen bestehende Catering auf einer provisorischen Bierzeltgarnitur nahe dem Set irgendwann keinen Reiz mehr auf mich ausübte. Gegen 15.30 Uhr war dann alles im Kasten und es ging verspätet in die Mittagspause – ohne Zwischenfälle. Andere Komparsen beim Dreh am Weimarer Hauptbahnhof (Foto) hatten da weniger Glück, schlossen sich die Zugtüren doch schneller als erwartet. Nächster Halt: Leipzig – ohne Fahrkarte.

Eine anstrengende, aber auch interessante Erfahrung war es, mal bei einem Film mitzuwirken. Aber es hat trotz aller Anstrengungen und allen Wartens Spaß gemacht. Als ich nach Hause ging, drehte das Filmteam fleißig weiter. Spätestens dann war ich froh, „nur Komparse“ gewesen zu sein.

Dieser Artikel ist in einer leicht geänderten Version zuerst im Lokalteil Jena der Ostthüringer Zeitung OTZ erschienen. “Schilf” läuft seit Donnerstag, den 08. März bundesweit im Kino.

Kurtz & Knapp: Young Adult, Verblendung & Ghost Rider 2

Young Adult Poster
Young Adult (USA 2011)

Wenn einem Frank Capra nicht besonders liegt, dann müssen die Filme von Jason Reitman wie die schale, weil abgestandene und noch dazu schwarz gebrannte Kopie eines mittelmäßigen Schnapses vorkommen. Gab es in Thank You for Smoking zumindest noch einen Ansatz von eigensinnigem Biss zu spüren, versandeten Juno und Up in the Air in der so gar nicht schmerzenden Durchschnittlichkeit. Mit seinem neuen Diablo Cody-Projekt Young Adult macht Jason Reitman auf halber Strecke kehrt, um kurz vor Schluss doch noch in den kreativen Sonnenuntergang zu lenken. Charlize Theron spielt sich die Seele aus dem Leib, ohne dass sie einem diese Tatsache zwei Stunden auf die Nase bindet. Vielleicht hat die Schauspielerin des Jahres 2012™ deswegen keine Oscar-Nominierung bekommen. Wie ihre vom gewöhnlichen Leben gebeutelte Kinderbuchautorin mit dem Alkohol- und Schimpfwortproblem wider besseren Wissens versucht, ihre mittlerweile verheiratete Jugendliebe für sich zu gewinnen, gehört zu den tragischsten Selbsterfahrungstrips, die einem dieses Jahr abseits Dschungelcamp’scher Erniedrigungen unter die Augen kommen werden. Und das ist kein willkürlich gewählter Vergleich. Der beste Reitman bisher und ein Film zum Wiedererkennen.

Verblendung Poster
Verblendung (USA/UK/S/D 2011)

Von der positiven Überraschung ob der niedrigen Erwartungen hin zur negativen Überraschung trotz der niedrigen Erwartungen. Ich mag David Fincher. Sehr. Das liegt vor allem an “Sieben” und “Zodiac” und The Social Network. Der Rest ist Hit & Miss, für jedes straighte Genre-Werk wie “Panic Room” gibt’s eine überkandidelte Egotour á la “Benjamin Button”. Aber selbst in seinen enttäuschendsten Momenten hat David Fincher für gewöhnlich etwas zu zeigen und wenn es nur seine elegante filmische Erzählweise ist, der im zeitgenössischen amerikanischen Mainstreamkino niemand das Wasser reichen kann. Verblendung jedoch wirkt wie die gelangweilte Auftragsarbeit eines satten Regisseurs, der seinem Vertrag mit Sony nachommen muss. Viel wurde über die mainstreamtaugliche Lisbeth Salander-Interpretation geschrieben, doch auch ohne die aufgestülpte Beziehung zu Mikael Blomkvist (Daniel Craig) hätte Lisbeth, pardon, Rooney [Mara] dank ihres seltsam gestelzten Dialekts deplatziert gewirkt. Die Vorhersehbarkeit der Story nagte schon an der Kinotauglichkeit der schwedischen Verfilmung, bei Fincher schlägt sie umso mehr ein. Trotz der vielversprechenden Kombination Hacker- meets Serienkillerfilm gleicht das Feelbadmovie dem solala-Aufsatz eines Spitzenschülers. In seinen Einzelteilen stilistisch schön zu lesen, insgesamt aber verschenktes Potenzial. Hoffen wir, dass der nächste wieder ein Hit ist.

Ghost Rider 2 Spirit of Vengeance
Ghost Rider 2 – Spirit of Vengeance (USA/UAE 2011)

… and now for something completely fucking different! Neveldine/Taylor in ihrer ersten Mainstream-Franchise. Was daraus werden würde, war imVorfeld weniger unklar als die Frage, wie weit sie ihren Stil im Mantel einer Comic-Verfilmung überhaupt erhalten. Die Antwort: Ein bisschen mehr Neveldine/Taylor, ein bisschen weniger Plotitis, hätten  Ghost Rider 2 in den notwendigen Adrenalinstoß mitten ins Herz eines Genres verwandelt, das es sich größtenteils in maximal selbstironischer Langeweile gemütlich gemacht hat. Tatsächlich ist Ghost Rider 2 “nur” ein Multiplex-B-Movie, das in der Mitte kräftig durchhängt, wenn der Zwang der Erzählung wie eine schwere Kette an den Bildern hängt. Davor und mit Abstrichen auch danach drehen Neveldine/Taylor dafür ordentlich auf, lassen den Rider (Nicolas Cage) einen riesigen entflammten Schaufelbagger reiten, seinen Kumpel (Idris Elba) in Zeitlupe von einer Klippe stürzen und jagen mit ihren Kameras über die menschenleeren Landstraßen Osteuropas. Der eigentliche Schauwert des Films ist naturgemäß Nicolas Cage, der in den Händen der beiden Extrem-Filmer die Gewöhnlichkeit des Begriffs Overacting transzendiert und neue Höhen erklimmt, wenn es um die Verschmelzung von Rolle und Star Persona geht. Eine Szene, in der sich Johnny Blaze gefühlte zehn Minuten in einem Schwebezustand der Verwandlung in den Rider befindet, wird so erbarmungslos stur verfolgt, dass allein Cages Spiel genügt, um die Verwandlung physisch, quälend, im Sitz windend, spürbar zu machen.