Sweeney Todd: The Demon Barber of Fleet Street (USA/GB 2007)

Think about it! Lots of other gentlemen’ll soon be comin’ for a shave, won’t they? Think of all them pies!

Das “Lange Neunzehnte Jahrhundert” hatte dem aufmerksamen Zuschauer einiges zu bieten gehabt. Vom “Vollender der Revolution”, dem kleinen Korsen Napoléon Bonaparte, bis zum Einheitskanzler Bismarck. Vom Niedergang des Osmanischen Reiches bis zum Risorgimento Italiens. Vom “Verräterischen Herz” bis zum “Kapital”. In der Literatur stand Zolas Sozialrealismus dem Ästethizismus Oscar Wildes gegenüber, Widersprüche in den Kunstauffassungen als verzerrtes Spiegelbild gesellschaftlicher Entwicklungen, geprägt von proletarischer Massenarmut, bürgerlicher Wirtschaftsexpansion, Hand in Hand gehend mit dem Bedeutungsschwund des Adels als Zielgruppe staatlicher Politik. Die Schützengräbe vor Sewastopol maschinisierten die Gewalt, das Menschenleben, ein weiterer Produktionsschritt in der Fabrik des Krieges.

For what’s the sound of the world out there? Those crunching noises pervading the air! It’s man devouring man, my dear! And who are we to deny it in here?

Die Grausamkeit des Schönlings Dorian Gray fand ihr Ebenbild in den Mordgeschichten der penny dreadfuls. Barbiere, die zu Serienkillern wurden, die Überreste ihrer Opfer den hungrigen Kunden auf den Esstisch brachten. Eher ungewöhnliche Themenkost für ein Musical, handelt dieses künstlichste aller Spielfilmgenres doch eher von frisch Verliebten, die im Regen tanzen, ihr Glück der ganzen Welt bekundend, während dem Zuschauer ein wohliges Gefühl vollkommener Zufriedenheit durchfährt.

Ein Mann, der seinen Rassiermessern ein Liebeslied widmet, über die Ungerechtigkeit der Welt erbost, von Rache zerfressen, tritt er nicht im Kampfe für die Unterdrückten auf. Er wird selbst zum Inbegriff tödlicher Willkür, die doch von seinem Erzfeind, dem Richter, verkörpert wird. Musikalische Themen, in ihrer komplexen Eingängigkeit suchen sie in der Musicalgeschichte ihresgleichen, erzählen uns die Geschichte des zu Unrecht eingekerkerten Barbiers Benjamin Barker (Johnny Depp), der Frau, Kind, sein Bilderbuchleben an diesen Richter (Alan Rickman) verliert. Nach fünfzehn Jahren Freiheitsberaubung ist Vergeltung sein Lebenselixier, ist er Sweeney Todd. Im Moloch London findet er seine Helferin (Helena Bonham Carter) und verkennt doch völlig ihre Beweggründe. Der Zorn vernebelt seinen Blick für alle übrigen menschlichen Gefühlsregungen.

Now we all deserve to die. Even you Mrs. Lovett…even I. Because the lives of the wicked should be made brief. For the rest of us death will be a relief.

Ist der erste Mord mit seiner kannibalischen Verschleierung noch improvisiert, mischt sich schon bald der schwarze Rauch, der von Mrs. Lovetts Pie Shop ausgeht, in den dreckigen Dunst der Fabrikschlote. Hätte es im Neunzehnten Jahrhundert Fließbänder gegeben, hätte Todd seinen Hinrichtungsablauf noch effizienter gestalten können. So muss er auf den Stuhl zurückgreifen, der seine Opfer nach ihrer letzten, tödlichen Rasur kopfüber in den Keller befördert, wo schon ein gewaltiger Fleischwolf auf sie wartet. Ein ewiger Kreislauf der Produktionsschritte. Das Geschäft im Pie Shop boomt, leidet doch die restliche Stadt unter einem Fleischmangel. Die Toten sind gesichtslose Zutaten. Todd erledigt sie ohne jede Leidenschaft, routiniert wie eine Guillotine, die ihre Arbeit auf einem französischen Marktplatz der Revolutionszeit verrichtet.

Anstatt mit seiner noch lebenden Tochter Johanna Kontakt aufzunehmen, wartet er auf sein letztes Opfer, den Richter, ihren Vormund, der sie eingesperrt hat in Foggs Asylum, weil sie ihn nicht heiraten will. Was man nicht haben kann, zerstört man. Die einzige Hoffnung der Jugend ist die Jugend, der Seemann Anthony, der den vielversprechenden Nachnamen “Hope” trägt. Todd wird selbst zum Herrn über Leben und Tod, es ist kein Wunder, dass einer der Höhepunkte des Films sein Duett “Pretty Women” mit dem Todfeind ist. Hinter der Harmonie der beiden sich vereinigenden Stimmen verblasst der Antagonismus.

And if you’re beautiful, what then. With yellow hair, like wheat? I think we shall not meet again — My little dove, my sweet Johanna…

Die Obsession des Sweeney Todd schmückt Regisseur Burton wie einen Horrofilm der Dreißiger Jahre aus. In den fast schwarz-weißen Bildern sticht das Rot des Blutes hervor, sein übertriebener Fluss, das Spritzen und Sprudeln der aufgeschnittenen Kehlen untermalt Todds ebenso überzogenen Eifer. Die typisch Burton’sche Oberflächlichkeit in der Figurenentwicklung wird hier durch die musikalische und textliche Vorlage wettgemacht. Sweeney Todd springt nicht von Attraktion zu Attraktion, er ist, dank der Lieder, Erzählung pur. Diese Logik muss dazu führen, Schauspieler, nicht Sänger, in den Hauptrollen zu besetzen. Perfektion in der gesanglichen Präsentation ist immer auch Attraktion, ist Stillstand der Narration. Der Film hält nicht an, um zur Bühne des Solisten zu werden.

Selbst die große Geste “Epiphany” wird ironisch hinterfragt. Der Humor verlässt Burton zu recht erst am Ende, wenn das verbrecherische Geschehen im Pie Shop erstmals durch die Augen der unschuldigen Jugend gesehen wird. Dabei ist das hier betriebene Geschäft nur die Überspitzung dessen, was draußen vor der Tür in viktorianischer Zeit abläuft. Sweeney Todd verlässt nie den Rahmen artifizieller Darstellung, ist am Ende mehr Edgar Allan Poe als Zola, also typisch für seinen Macher. Dieses blutige Musical, tief verankert in der urbanen und lebensweltlichen Umwälzung des kapitalistischen Neunzehnten Jahrhunderts, ist Tim Burtons bester Film seit Ed Wood.

There was a barber and his wife. And she was beautiful. A foolish barber and his wife. She was his reason and his life. And she was beautiful. And she was virtuous. And he was, naive.


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Eine äußerst lesenswerte Kritik mit einem längst überfälligen Plädoyer bezüglich einer unterrepräsentierten Gattung des gemeinen Kinogängers bei Kino, TV und Co.

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