Jethro Tull haben ein Lied, das “Living in the Past” heißt. Dies soll auch bei dieser Jahresendliste mein Motto sein. Einerseits, weil Jenny und Luzifus schon eine Jahresbesten bzw. –schlechtestenliste machen, und andererseits, weil ich nicht das Gefühl habe, mitreden zu können. Zuviel habe ich noch nicht gesehen („Carlos“, „Uncle Boonmee Who Can Recall His Past Lives“, „Book of Eli“, „Enter the void“, „The Road“, „Certified Copy“, „Film Socialisme“, „Fantastic Mr. Fox“) oder ich habe Filme auf Festivals gesehen, ohne dass diese irgendeine große Resonanz bekommen hätten („Parade“ von Yukisada Isao ist z. B. extrem empfehlenswert, aber wie alle seine Filme seit „Go“ total untergegangen). 2010 besteht für mich bisher aus vier super Filmen („The Social Network“, „Parade“, „Exit through the Giftshop“ und vielleicht noch „Greenberg“) und einem herben Enttäuschungsfall („The American”), mehr weiß ich darüber noch nicht.
Letztlich bin ich ohnehin für Vergangenheitsbewältigung zuständig. Deshalb möchte ich dem ehrenwerten Leser ein Filmjahr näherbringen, das es in sich hat: 1964. Es ist bestimmt kein Zufall, dass ich aus diesem Jahr die meisten DVDs besitze. Dementsprechend schwer fiel auch die Auswahl. Also los.
10. Der geteilte Himmel (DDR)
Es ist schon sensationell wie alt Konrad Wolf den Rest der deutschen Nachkriegsfilmproduktionen aussehen ließ. Formal bedient er sich zwar stark bei Resnais und Godard und doch gelingt es ihm, einen Film mit einer eigenen Identität zu erschaffen. Einen einfühlsamen Film über die DDR, die Unmöglichkeit dort zu leben und vor allem über die Verlogenheit der Ideologien der beiden deutschen Staaten. Etwas verkopft und in der Tagespolitik verfangen (anders als das westliche Pedant von 1965 „The Spy Who Came in from the Cold“), aber gerade damit fängt er die DDR perfekt ein.
9. Alexis Sorbas (GB/GR)
Der Evergreen über die Freude am Leben oder eher gegen Verbitterung und die Angst vor Fehlern. Spröde erzählt er von der archaischen Welt Kretas mit ihren rauen Bewohnern und ihrer rauen Natur, aber nur um sie als Hintergrund für die Darstellung der Verbohrtheit der Menschen zu nutzen. Und obwohl der Film in vielerlei Hinsicht sehr bitter ist, lehrt er uns das Tanzen und das Lachen im Angesicht der Verzweiflung.
8. Für eine Handvoll Dollar (I/E/BRD)
Ja, er war eine Frischzellenkur für ein im Sterben liegendes Genre, durch sein Mehr an Stilisierung, Zynismus und Gewalt. Und ja, er war gleichzeitig realistischer als der klassische Western, durch die fehlende Sauberkeit und den Zynismus. Und ja, er war der Ursprung eines ganzen Genres. Und ja, er ist ein Klassiker. Seine größte Stärke ist aber, dass er frisch und sehenswert bleibt, trotz seiner Allgegenwart.
7. Assassination (J)
Shinoda Masahiros erster Samurai-Film ist so etwas wie ein Spät-Western… nur eben mit Schwertern. Denn genau so oft wie Blutlachen in Gesichter platschen, werden Mythen entzaubert, wodurch die Orientierungslosigkeit eines ganzen Landes eingefangen wird, dass nach 1860 mit seinen Traditionen brechen muss. Zudem schafft es Shinodas Mischung aus hartem Actionfilm, poetischer Meditation und vertrackter Erzähltechnik, die „Citizen Kane“ mit „Rashômon“ kombiniert, den Spagat zwischen Anspruch und Unterhaltung sehr einfach wirken zu lassen.
6. Die rote Wüste (I)
“Die rote Wüste” wird in Antonionis Filmografie von seinen Meisterwerken flankiert und fällt im Vergleich zu diesen ab. Trotz alledem ist dies ein riesiger Film über Entfremdung und Kälte. Es ist sein düsterster Film, der Monica Vittis nahenden Nervenzusammenbruch in gespenstischen Bildern einfängt und dem Zuschauer am eigenen Leib spüren lässt.
5. Die Außenseiterbande (F)
Seltsamer Film. Eine Krimikomödie. Eine abermalige Variation über das Thema (welches Godards Frühwerk durchzieht), dass Menschen nicht hinter die Kulissen ihres Gegenübers schauen können. „Bande à part“ ist aber so etwas wie der naive Außenseiter in besagtem Frühwerk. Kaum Reflexion. Einfach eine eigenwillige Hommage an Hollywoodkrimis und -musicals, die sich nicht um Realität schert.
4. Soy Cuba (C/UdSSR)
Edelpropagandafilmer Michael Kalatosow ging zur Zeit der Veröffentlichung mit diesem Gedicht über die Kubanische Revolution unter. Vier kraftvolle Episoden, die das Leid, welches zum Sieg der Revolution führte, in magischen, gehetzten Bildern einfängt. Optisch gehört der Film zum Eindrucksvollsten, was das Kino zu bieten hat. Ich werde nie verstehen können, dass „Soy Cuba“ 30 Jahre später wiederentdeckt werden musste.
3. The Naked Kiss (USA)
Die Faust des Kinos auf der Spitze seines Könnens … ein Tiefschlag in die Gedärme des Zuschauers und der USA. „Der geteilte Himmel“ findet am Ende noch etwas Ruhe in der Erkenntnis „Home is Where the Hatred is“. So positiv ist Fuller nicht eingestellt.
Mehr von mir über “The Naked Kiss” und Sam Fuller kann man hier nachlesen.
2. Schatten vergessener Ahnen (UdSSR)
Sergej Paradschanow könnte man als großen „Primitiven“ sehen, doch seine Filme sind keine Versuche, dazu weiß er zu genau, was er mit der Kamera macht. Sie sind vielmehr angefüllt mit einem unfassbaren Reichtum an Ideen, welche die Bildgewalt Kalatosows mit einer traumhaften Unwirklichkeit verbinden, die man in einer introvertierteren Form später bei Tarkowskij finden wird. So entsteht eine Poesie der Bilder, die Ihresgleichen sucht… und bei deren Betrachtung man nicht die Zuflucht in billigen Symbolismus suchen sollte, sondern diese wundervollen, unwirklichen Bilder in erster Linie sie selbst sein lassen sollte.
1. Die Frau in den Dünen (J)
Wenn es um den besten japanischen Film aller Zeiten geht, hat Teshigahara Hiroshis Film mit „Death by Hanging“ zumindest einen gleichwertigen Gegner. 1964 ist er unschlagbar auf Platz 1. Der Plot (?/ein Hobbyornithologe wird in einer Sandgrube gefangen gehalten) ist vorhersehbar wie nüschts, aber zwischen den Geschehnissen der groben Handlung passieren so viele Sachen, sieht man so viele Sachen, hört man so viele Sachen von so ausgewählter Unerklärbarkeit, dass ich immer wieder mit einem ratlosen Grinsen zurückgelassen werde.
Das Verfolgerfeld wäre:
Gertrud (DK)
The Pink Panther (GB)
Onibaba (J)
Goldfinger (GB)
Dr. Strangelove or: How I Learned to Stop Worrying and Love the Bomb (USA)
Was lief 1964 sonst noch? Hier einzusehen.
Was denken andere?
Jean-Luc Godards Top Ten von 1964 aus den Cahiers du Cinéma:
1. I fidanzati (Ermanno Olmi)
2. Gertrud (Carl Theodor Dreyer)
3. Marnie (Alfred Hitchcock)
4. Man’s Favourite Sport (Howard Hawks)
5. Il deserto rosso (Michelangelo Antonioni)
6. A Distant Trumpet (Raoul Walsh)
7. Love with the Proper Stranger (Robert Mulligan)
8. Cheyenne Autumn (John Ford)
9. La ragazza di bube (Luigi Comencini)
10. L’amour à la chaîne (Claude de Givray)