Stock und Vorurteil

Habe neulich ein Gespräch zwischen Whoknows und dem Intergalactic Ape-Man belauscht, wonach ein gewisses Filmstöckchen zu Klicks führt, die sich in wilden Träumen nicht vorgestellt werden können. Also dachte ich mir: „Gimme that clicks!“ (wobei ich geflissen auf die eigentlich hier mitschwingende Beschimpfung meiner Käuflichkeit verzichte) und habe ein schon hier veröffentlichten Stöckchen ausgefüllt.

1. Ein Film, den Du mehr als zehnmal gesehen hast?

Unzählige. Feivel, der Mauswanderer im Wilden Westen ist wohl der Meistgesehene, weil ich ihn zwar nie besonders gut fand, aber als Kind das Shoot Out am Ende so liebte, dass ich immer wieder zurückspulte und den Film mehrmals hintereinander schaute. Danach folgen wahrscheinlich in der Reihenfolge Mad Mission 2 (ein total unterschätztes Meisterwerk), Die Feuerwalze (Chuck Norris‘ Rauschebart in Ehren, aber das wahre Erlebnis sind die unfassbar genialen Dialoge; Niveau von einem anderen Stern) und Außer Atem (bei weitem nicht mein liebster Godard, aber irgendwie gucke ich ihn immer wieder).

2. Ein Film, den du mehrfach im Kino gesehen hast?

Apocalypse Now Redux und danach immer wieder gefühlt, als ob ich unter einen Zug gekommen bin. Neben anderen habe ich auch Burn After Reading zweimal gesehen, da ich mich von Frustration getrieben ins falsche Kino verirrte und dann feststellen musste, dass der beim zweiten Mal echt unerträglich ist.

3. Nenne eine/n Schauspieler/in, wegen dem/r Du eher geneigt wärst, einen Film zu sehen.

Bin nicht so an Schauspielern interessiert. Hidari Bokuzen ist es natürlich immer wert gesehen zu werden. Hier der Beweis. Cary Grant, Paul Newman und Montgomery Clift sowie Tilda Swinton und Kyô Machiko haben’s mir noch am ehesten angetan. Wenn ich in einen Film mit Lara Flynn Boyle rein schalte, kann ich nicht wegschalten. Von ihr geht eine atavistische Faszination aus … seit ca. 10 Jahren von ihrer Künstlichkeit.

4. Nenne eine/n Schauspieler/in, wegen dem/r Du weniger geneigt wärst, einen Film zu sehen.

Will Ferrell, Tom Cruise und Doris Day will ich nicht sehen. Aber damit stehe ich ja wohl kaum allein da.

5. Ein Film aus dem Du regelmäßig zitierst?

Die dritte Generation hat die beiden besten Filmzitate überhaupt, auch wenn ich sie inzwischen eher selten verwende.

6. Ein Musical, von dem Du alle Texte der darin gesungenen Songs auswendig weißt?

„Don’t soil your pretty little shoes (hooray)/the gutters deep and red (hooray)/climb up, climb up and ride along with me/ the tumbril driver says“ oder „Marat we’re poor/and the poor stay poor/Marat don’t leeeeeet/ us wait anymore“, es kann nur eine Antwort geben: Die Verfolgung und Ermordung Jean Paul Marats dargestellt durch die Schauspielgruppe des Hospizes zu Charenton unter Anleitung des Herrn de Sade.

7. Ein Film, bei dem Du mitgesungen hast?

Ich kenn eben genannte Texte nicht umsonst.

8. Ein Film, den jeder gesehen haben sollte?

Abendanzug von Bertrand Blier! Ein verzückend absurder Tanz auf dem Vulkan der Geschlechtsidentitäten. Eigentlich alles von Blier bis zu den 90ern, aber er ist DVDmäßig viel zu vernachlässigt in Deutschland.

9. Ein Film, den Du besitzt?

Mein Schrank und meine Festplatte sagen zu viele, ich sage viel zu wenig. Seit neustem Die Teufel von Ken Russell.

10. Nenne eine/n Schauspieler/in, die ihre Karriere nicht beim Film startete und die dich mit ihren/seinen schauspielerischen Leistungen positiv überrascht hat.

Ice Cube und Milla Jovovich. Ernsthaft.

11. Hast Du schon einmal einen Film in einem Drive-In gesehen?

Ich hab noch nicht mal ein Drive-In gesehen.

12. Schon mal in einem Kino geknutscht?

Ja, besonders bei Australia, weil da auch nichts Besseres zu tun war.

13. Ein Film, den Du schon immer sehen wolltest, bisher aber nicht dazu gekommen bist?

La règle du jeu, Pink Flamingos, Amore e rabbia, White Dog, Sans Soleil, Nerosubianco, Deus e o diabo na terra do sol, endlich einen Film von Daniel Schmid und und und

14. Hast Du schon jemals das Kino verlassen, weil der Film so schlecht war?

Nein. Habe sogar diesen fürchterlichen Pink Eiga vor ein paar Jahren durchgestanden, der nur aus Schlürfgeräuschen, Männeroberkörpern und Frauenhaaren bestand … in nichtssagenden Bildern und mit einem Plot, der Green Lantern originell erscheinen lässt. Die 65 Minuten kamen mir länger vor als ein vierstündiger Film von Angelopoulos.

Mary Reilly habe ich bei der Berlinale letztes Jahr vorzeitig verlassen, da David Thomson eine viertelstündige Einführung gab, weshalb mein Zeitplan zerstört wurde und ich unbedingt Ai yori ai e von Shimazu Yasujiro sehen wollte.

15. Ein Film, der Dich zum Weinen gebracht hat?

Bei E.T. im Kino hatte ich nach Eigenaussage nur Dreck in die Augen bekommen. Sonst oft, aber mir will bei bestem Willen kein Film einfallen. Ach doch Harry und Sally und auch Nagareru von Naruse (hach, wie traurig das Leben in einem Geishahaus sein kann).

16. Popcorn?
Bin Asket.
17. Wie oft gehst Du ins Kino?

Viel zu selten, aber das Angebot in Jena bringt mich nur zum Jammern, deshalb schnell weiter.

18. Welchen Film hast Du zuletzt im Kino gesehen?

Green Lantern, extra nach Leipzig. Yes!

19. Welches ist Dein Lieblingsgenre?

Ich liebe eher alltägliche Lebenswelten, Familienintrigen und –katastrophen, sexuelle Hysterie … also Melodramen.

20. Was war Dein erster Film, den Du im Kino gesehen hast?

Entweder Asterix erobert Rom oder Asterix und Kleopatra. Jedenfalls hab ich da fast schon mythisch zu nennende Erinnerungen dran, die aus dem Vergessen grauer Urzeit auftauchen, wenn ich die Filme mal wieder sehe.

21. Welchen Film hättest Du lieber niemals gesehen?

Da fallen mir nur Kurzfilme ein. Am meisten Der Chronist, ich kann das nicht mal schreiben ohne das mir schüttelt. Bei Langfilmen kann ich selbst die Stumpfesten und Dümmsten nicht bereuen.

22. Was war der merkwürdigste Film, den Du mochtest?

Wieder ein Kurzfilm: Morgen Küche. Eine Minute voll skurrilem Nichts. Zu sehen hier. Wurde dieses Jahr beim cellu l’art eingereicht und ich konnte mich nicht durchsetzen, dass er überhaupt nur in die engere Auswahl kam. Hätte wohl mit so was wie Rücktritt drohen sollen. Sonst mag ich nur völlig gewöhnliche Filme.

23. Was war der beängstigendste Film, den Du je gesehen hast?

Tod auf dem Nil hat mein Leben versaut. Mit ca. 10 Jahren bei meinen Großeltern gesehen und am Ende sind diese hilflose Frau und der nette Mann hinterhältige Genies des Bösen, die wegen so etwas Lapidaren wie Reichtum Menschen auf arglistigste Weise töten. Die Nacht danach war schrecklich und ich traue bis heute den Fassaden der Menschen nicht mehr über den Weg (auch wenn ich den Film inzwischen sehr liebe).

Die Körperfresser kommen hat mich mit stolzen 21 Jahren noch echt fertig gemacht. Die letzte Einstellung sah ich eine Woche sobald es dunkel wurde. Verdammt, Donald Sutherland kann einem aber auch Angst machen.

24. Was war der lustigste Film, denn Du je gesehen hast?

Beerfest, Duck Soup und Die Ritter der Kokosnuss. Ersterer ist nur im Original witzig, aber dafür göttlich dumm und albern. Die anderen beiden zeigen die Marx Brothers und Monty Python in bester Form, deshalb das Witzigste was gibt. Das Einzige was da vielleicht noch mithalten kann ist Multiple Maniacs.

Fluchtpunkt (II) – Strafpark (USA 1971)

Halbnackte Studenten werden durch die US-amerikanische Wüste gejagt. Schießwütige Polizisten sind hinter ihnen her. Eigentlich hat Punishment Park kaum mehr an Handlung zu bieten. Kurz nach dem Kent-State-Massaker ruft Richard Nixon den Ausnahmezustand aus. Tribunale werden abgehalten, welche jeden wegen Landesverrat verurteilen, der die Politik der Regierung kritisiert. Mittels eines Wettlaufs durch einen sogenannten Strafpark können die Verurteilten ihrer Gefängnisstrafe entgehen. In 3 Tagen müssen 50 Meilen durch eine Wüste zurückgelegt werden. Man bekommt weder Essen noch Trinken und die Polizei beginnt nach 2 Stunden mit der Verfolgung. Wer es schafft, das Ziel zu erreichen, ohne erneut festgenommen zu werden, ist frei. In diese hypothetische Ausgangsposition begibt sich ein Filmteam und dreht eine Dokumentation. Strafpark ist das Ergebnis ihrer fiktiven Arbeit, welche die Vision eines zutiefst gespaltenen Landes entstehen lässt, eines Landes, in dem keine Kommunikation, kein Ausgleich mehr möglich ist. Doch über den Weg der Fiktionalisierung bietet Regisseur Peter Watkins einen aufwühlenderen Blick auf die Realität der Vereinigten Staaten im Jahre 1970, als es jede reale Dokumentation erreichen könnte.

Punishment ParkMehrere Kamerateams verfolgen die Menschen an beiden Enden der Hetzjagd. Sie filmen Polizisten, die sich im Umgang mit ihren Feuerwaffen üben. Stolz erklären diese, dass selbst Rhinozerosse mit einem Schuss aufgehalten, wenn nicht sogar getötet werden könnten. Die eingefangene Stimmung auf dieser Seite ist vor allem durch Frust bestimmt, wegen ein paar in ihren Augen unbelehrbarer Idioten in der Wüste sein zu müssen. Die Gefangenen sind zwar auch frustriert, aber eher, weil sie sich zumindest darin einig sind, dass die Situation, in der sie sich befinden, nicht akzeptabel ist. So werden sie durch überbelichtete Bilder voller Luftspiegelungen gejagt und stellen sich ständig die Frage, wie sie damit umgehen sollen: gewaltsame Gegenwehr oder friedliches Akzeptieren der Regeln, um den Kreislauf der Gewalt zu entkommen. Dieser Park in der Wüste ist damit nichts weniger als die USA und wie er von den Dissidenten wahrgenommen wird… als Polizeistaat.

Was Strafpark aber davor rettet, eine billige Allegorie auf die Entfremdung zwischen Staatsmacht und Nörglern zu sein, die in blinder Gewalt endet, sind die Szenen aus dem Tribunal. In ihnen werden die Schauprozesse vorgeführt, welche zur Verurteilung führen. In einer riesigen, den gesamten Film andauernden Parallelmontage zwischen Strafpark und Tribunalen gewinnen beide Seiten an Tiefe. Unterschiedliche Menschen stehen sich gegenüber und sind aus unterschiedlichsten Gründen auf den beiden Seiten des Verhandlungstisches gelandet. Die Verhandlungen gleichen dabei einer gewöhnlichen, hitzigen Diskussion bei Markus Lanz oder Anne Will. Unbegreiflich bleibt den Menschen in dem Kreisrund, wie jemand nur so verbohrt und abscheulich sein kann wie die gegenüber sitzenden Individuen. Folglich verliert jeder gegenüber dem Anderen die Contenance und fängt an zu schreien, brabbeln, keifen, geifern oder zieht sich resigniert in sich zurück. Ja, die Dispute scheinen wie aus dem Leben gegriffen. Niemand wird vorm Zuschauer denunziert. Dass alles nur fiktiv ist, kann sehr schnell aus den Augen verloren werden. Zu gut ist die Dokumentation nachgestellt, zu gut sind die Schauspieler und die Dialoge. Die verführende Verlässlichkeit der Bilder reißt den Zuschauer mit in die Arena der Dispute. Ob in der Wüste und während der Schauprozesse, Abgrenzung ist schwerlich möglich.

Das Obszöne der Gerichte sind folglich auch nicht ihre Meinungen, sondern es ist ihre Macht, mit der sie jegliche Argumente von sich abwehren und entwerten. „All I can do to you is call you a dirty name.“ Was bleibt den Angeklagten anderes übrig, wenn sie von einer Horde Polizisten beobachtet werden, die nur darauf lauern ihnen Knebel in den Mund zu stopfen? Folglich verfällt Strafpark nicht in ein ödes Geschwätz, sondern ist der hysterische Aufschrei gegen Unterdrückung und für den Diskurs, der die USA im Herzen traf und den Dissidenten außerhalb der Leinwand Recht gab. Jahrzehntelang war er in den USA nicht zu sehen, aber nicht weil er gerade heraus verboten wurde, sondern weil die Kinobetreiber Angst hatten vor der lauernden Staatsmacht.

Kino von gestern – Il Cinema Ritrovato – XXV edizione 2011

Diesen Samstag endete in Bologna die 25. Ausgabe des Cinema Ritrovato. Für die Leser, welche sich für alte Schinken interessieren, hat mich die liebe Jenny nach Italien geschickt, um die Perlen des Festivals vor den Säuen zu retten und euch von diesen zu berichten. Deshalb hier die Top Five der Filme, die ich in den dreieinhalb Tagen meines Aufenthalts im Paradies sah, und der andere Kram.

5. Der Dieb von Bagdad (GB 1940)

Als Alexander Korda dieses Remake des Douglas Fairbanks Klassikers produzierte, stand er mit dem Rücken zur Wand. Es ging um nichts weniger als die Existenz des Denham Film Studios, welches er 1936 geöffnet hatte. Er schickte seine zwei Stars ins Rennen, Sabu und Conrad Veidt, doch fast alles ging schief. Der engagierte Ludwig Berger kam als Regisseur mit der riesigen Produktion nicht zurecht und wurde zwar am Filmset behalten, bekam aber keine Arbeit. Der junge Michael Powell und Tim Whelan wurden engagiert, aber auch die drei Korda Brüder mischten mit. Das Ergebnis ist dementsprechend fahrig und wirkt arg zusammengeschustert. Doch der Film hat zwei Dinge, die ihn zumindest auf einer großen Leinwand ungemein sehenswert machen: die dämonischen Augen Conrad Veidts (Michael Powell hat kein Mitleid mit dem Zuschauer und brennt sie ihm ins Gedächtnis) und, dämlich wie es klingen mag, das Schiff zu Beginn, das, in Technicolor-Weltklasse angemalt, dem Zuschauer heute noch nachfühlen lässt, dass Menschen mal vor projizierten Zügen geflohen sein sollen.

4. Addio, Kira (I 1942)

Die Verfilmung von Ayn Rands „We the Living“ war den Produzenten mit fast 4 Stunden zu lang, weshalb sie in zwei Teile getrennt wurde: Noi vivi und Addio, Kira. Zumindest Letzterer funktioniert auch als eigenständiger Film (hab ihn als solchen gesehen und erst dem Programm entnommen, dass da mehr war). Es geht um Kira, die Affären mit zwei Männern hat. Der eine ist Geschäftsmann und bereichert sich durch die Korruption des stalinistischen Staatsapparates. Der Andere ist der scheinbar einzige Mitarbeiter dieses Apparates, der noch seinen Idealen folgt. Kitsch und Klischees werden oft genug gerammt, aber irgendwie schafft es Addio, Kira immer wieder der Falle zu entgehen und wird so ein mitreißendes Stück Melodrama.

3. Die Maschine Bösetöter (I 1952)

Für alle die es nicht wussten, Roberto Rossellini kann auch beschwingt und witzig … La macchina ammazzacattivi beweist es eindrucksvoll. Ein Fotograf bekommt von einem alten Mann eine Kamera, die, wenn man ein Foto fotografiert, die abgebildeten Personen in der entsprechenden Pose einfriert. Mit diesem Werkzeug soll er das Dorf von allen bösen Menschen befreien. Stimmungsvoll und teilweise mit erstaunlich absurdem Witz bricht der Vorzeigeneorealist mit dem Klischee seinerselbst. (Er wurde übrigens dieses Jahr in Cannes gezeigt. Dort fragten die Verantwortlichen die Zuschauer, wer ihn schon mal gesehen hat. Nur ein Anwesender meldete sich und gab hinterher zu, dass er gelogen hatte.)

2. L’assassino (I 1961)

Der dt. Titel „Trauen Sie Alfredo einen Mord zu?“ steht unter dem Motto: „Trauen Sie den Filmverleihern einer anderen Nation noch dümmere Entstellungen zu?“. Doch Elio Petris Regiedebüt ist deutlich besser als dieser Titel erwarten lässt. Marcello Mastroianni spielt den Antiquitätenhändler Alfredo, der unter Mordverdacht verhaftet wird. Ein kafkaesker Strudel bricht über ihn herein, der ihn hilflos zu verschlingen droht. Doch das Gute an L’assassino ist vor allem, dass er nicht Täter und Opfer zeigt, dass er auf Schwarz-Weißmalerei verzichtet. In der Welt Petris ist niemand ohne Schuld und so ist im Grunde gleichgültig, ob der Verdächtigte der Mörder war oder nicht. Mit Ruhe und Präzision wird gezeigt, wie Alfredo durch eine weltliche Institution des Über-Ichs ein Spiegel vorgehalten bekommt, der ihm alle seine Schuld zeigt. Das Ergebnis ist eine Mischung aus „La dolce vita“ und “The Wrong Man” mit einem Schuss Gaius Baltar … toll.

1. Am blauesten aller Meere (UdSSR 1935)

Ein Wunderwerk. Was soll man über diesen Film sagen, der sich nicht mit Worten erfassen lässt? Weder kann eine Wiedergabe des Inhalts noch eine Erklärung des Erlebten klar machen, was diesen Film ausmacht. Mit naiver Freude und tiefer Melancholie, voll Schönheit und Schmerz ist Boris Barnet ein traumhaftes Meisterwerk gelungen. Ein Meisterwerk, das nie unrealistisch erscheint, aber trotzdem irgendwie parallel zur Realität verläuft. Henri Langlois hat in der Cinémathèque française die vorrätigen Barnet Filme mindestens einmal im Jahr gespielt. Er wusste, was er an ihm hatte.

Was ich noch gesehen habe:

Die letzte Kompanie (D 1930) – ein potentieller Lieblingsfilm Josef Goebbels‘.

Das Leben gehört uns (F 1936) – ein essayistischer Propagandafilm für die KP. Jean Renoir und andere nehmen dabei Godards Stil aus den Siebzigern vorweg. Letzterer hat sich aber nie dermaßen zu einem Werkzeug der Verklärung machen lassen.

Nosferatu (D 1921) – mal wieder. Immer wieder gut.

Die Reise zum Mond (F 1902) – einmal mit Orchester, einmal mit Musik von Air. Das war derselbe Film?

Justin de Marseille (F 1935) – wunderschön fotografiert, aber dümmliche Geschichte. Trotzdem, Maurice Tourneur sollte man im Auge behalten.

Fig Leaves (USA 1926) – Howard Hawks liefert in den ersten 20 Minuten die Blaupause zur Familie Feuerstein. So wacht Adam durch einen Wecker auf, dessen Sanduhrmechanismus eine Kokosnuss auf seinen Kopf fallen lässt. Danach folgt viel Leerlauf.

Winstanley (GB 1976) – Kevin Brownlows Film über den Frühkommunisten Gerrard Winstanley äfft uninspiriert Straub/Huillet nach. Aber irgendwie trotzdem sehenswert. Hm.

Ballerine (I 1936) – Originalton ohne Untertitel, dafür mit Simultanübersetzerin… die nicht vorbereitet wurde und bei all dem Gerede nicht hinterher kam. Schien aber ein ganz netter Film zu sein. Tolles Ende.

Staryj Naezdnik (UdSSR 1940) – nochmal Barnet, doch wieder Simultansprecherin. Nach oben erwähntem Film wurde er von Mosfilm zu weniger Subjektivität angehalten. Der entstandenen Komödie über das Leben auf der Rennbahn fehlt deshalb das gewisse Etwas, auch wenn sie nicht schlecht ist.

The Look (D/F 2011) – Doku über Charlotte Rampling. Zu unterschiedlichen Themen spricht sie mit unterschiedlichen Freunden, zum Beispiel mit Fotograf Peter Lindbergh über „Exposure“. Gleichzeitig werden ihre Karriere und ihre Filme mit ihrer Persönlichkeit ins Verhältnis gesetzt. Ein faszinierender Blick auf eine große Künstlerin und eine spannende Person.

Der Konformist (I 1971) – toller Film über ein Leben unter der Herrschaft Mussolinis, der durch sein dummes Ende verdorben wird.

Fazil (USA 1928) –  Mit Ton hätte Howard Hawks vielmehr Anerkennung hierfür erhalten… verdientermaßen. Ohne ist es ein guter Stummfilm mit viel zu vielen Zwischentiteln. Übrigens ist „Hinter Haremsmauern“ der deutsche Titel.

Fluchtpunkt (I) – Sterne an den Mützen (H 1968)

„Die Welt ist schlecht, das Leben schön, was ist daran nicht zu verstehn?“ (Der Plan)

(Halb)nackte Soldaten werden durch die russische Steppe gejagt. Schießwütige Soldaten sind hinter ihnen her. Eigentlich hat Csillagosok, katonák (im deutschen Sprachraum originalgetreu als Sterne an den Mützen veröffentlicht, etwas freier übersetzt als „The Red and the White“ im englischen) kaum mehr an Handlung zu bieten. Weißgardisten nehmen irgendwo in der Nähe der Wolga im Jahr 1919 Rotgardisten gefangen und weil eine einfache Exekution nicht genug Lust an der eigenen Macht verspricht, wird den Gefangenen befohlen, sich auszuziehen und zu fliehen. Vorher wird ihnen aber noch mitgeteilt, dass in 15 Minuten die Jagd auf sie beginnt. Nicht dass die Rotgardisten anders handeln würden, sobald sie die Oberhand gewännen, denn nicht Hass oder (konter-)revolutionärer Eifer treibt den allgemeinen Sadismus an, sondern schlicht und einfach die Möglichkeit, die Macht es tun zu können. So beginnt die Jagd in einer verfallenen Palastanlage, die mehr Mythos als Realität ist. Eine verlassene Anlage voller griechisch-römisch anmutender Säulen, mit einer erhabenen russischen Kirche und anderen Bauten, welche Bilder oder nur das Gefühl einer längst vergangene Epoche voll Weisheit, Liebe und Gerechtigkeit im Zuschauer aufkeimen lässt, als ob es eine solche je gegeben hätte. Durch diese Abbildungen von vergangener Erhabenheit laufen Menschen, welche den profansten ihrer Gefühle folgen. Sinnlos demütigen sie sich und ihr Umfeld.

Jancsó Miklós verzichtet bei der Darstellung dieses Reigens fast komplett auf eine Diegese, eine mehr oder weniger abgeschlossene Erzählung. Ständig wechselnde Darsteller laufen durch die unwirklichen Bilder. Je nach Situation versuchen sie den Qualen zu entgehen, deren Hauch sie schon auf sich spüren, oder sie sind es, die ihr Gegenüber malträtieren. Ihr Handeln wird dabei nicht von den Uniformen, in denen sie stecken, bestimmt, sondern durch Willkür. Folglich bleibt unberechenbar, was als Nächstes geschehen wird. Werden die Gefangenen skrupellos getötet, gejagt oder freigelassen oder werden sie einfach nur zu einem Walzertanz in den Wald mitgenommen? Die quasi Auftragsarbeit zum 50jährigen Jubiläum der Oktoberrevolution zeigt keine guten Kommunisten, welche den Weißen menschlich überlegen sind (auch wenn sie tendenziell etwas besser davon kommen). Jancsó verzichtet auf Propaganda. Die Soldaten sind beiderseits verabscheuenswürdig und mitleiderregend. Er wandelt den russischen Bürgerkrieg in ein absurdes Trauerspiel… über den Krieg, die Menschen und die Willkür der Macht. Er entwirft ein absurdes Puzzle, das keinen Sinn ergibt und genau darin seinen Sinn findet. Denn der Fluchtpunkt der Menschen verliert sich im nirgendwo. Die Soldaten flüchten, doch das Ziel der Flucht zerrinnt ihnen immer wieder zwischen den Fingern. Denn egal wohin sie fliehen, nirgends finden sie Ruhe. Folglich ist Sterne an den Mützen nicht nur ein Film gegen den Krieg. Er handelt von Menschen auf der Suche nach Frieden und Freiheit. Doch überall finden sie nur Gewalt und Unterdrückung… entweder als Opfer oder als Täter, denn sobald sie die Macht haben, sind sie nur auf Vergeltung und Machtausübung aus. Die Perspektive des Films wird somit umso hoffnungsloser, denn er verortet das Problem nicht im Krieg, sondern im Menschen.

Doch so hoffnungslos, wie der Blick auf die Handlungen vermuten lässt, ist Sterne an den Mützen nicht, schließlich erzählen die Bilder eine andere Geschichte. Eine Geschichte angefüllt mit Schönheit und voller Geheimnisse. Vor allem die langen, ballettartigen Einstellungen – hier taucht Jancsós Markenzeichen das erste Mal auf – sind das komplette Gegenteil von Realismus. Die dargestellte Welt wird durch diesen sich nicht abwendenden Blick nicht fester, sondern rätselhafter. Schnitte haben meist den Sinn, die Szenerie auszuleuchten… Fragen über das Umfeld erst gar nicht aufkommen zu lassen. Doch statt zu zeigen, wer den Menschen im Bild solche Angst einjagt, auf wen hinter oder neben der Kamera sie schauen, wer dort spricht, was dort passiert, hält die Kamera auf das, was sie uns sehen lassen will. Der Rest bleibt der Phantasie überlassen. Auf diese Weise entsteht nicht nur eine eigenwillige Art von Spannung, sondern auch eine mystische Aufladung der Bilder, welche mehr denn je nicht bleiben können, was sie sind, sondern Rätsel werden, welche durch unsere Vorstellungen gefüllt werden.

Eingeklammert von zwei Trauer erfüllten Bildern über das Schicksal der Menschen (in dem Film) zeigt Jancsó uns gleichmütig eine wunderschöne Welt, die keinen Sinn ergibt … außer wir geben ihr einen. Am originellsten geschieht dies in der Mitte des Films in einem dichten Birkenwald. Wie ein Gefängnis wirkt er, wie eine riesige, nicht enden wollende Ansammlung von Gitterstäben, welche die Menschen gefangen hält. Doch dies wirkt nicht bedrückend, sondern leicht und voll süßer Zärtlichkeit. So zwingen die Weißgardisten einige Krankenschwestern in diesem Wald zu einem Tanz… einen Tanz der Pflegerinnen, welchen sie sich nur anschauen. Am Ende dürfen die Damen gehen und verschwinden genauso in diesem mythischen Gefängnis der Natur, wie der Offizier, welcher es anordnete. Doch was dieser Tanz sollte, dass bleibt sein Geheimnis. Er nimmt es mit in dieses luftige Verlies seiner Seele, welches wir vor uns sehen. Was sich darin befindet, können wir nur erahnen.

Absurde Macht – Die Hoffnungslosen (H 1966) & Die Tage von ’36 (GR 1972)

Zwei Filme, zwei Gefängnisse, keine Protagonisten. Menschen auf der Leinwand gibt es zwar einige, doch keiner schafft es, aus den kalten Zwängen seiner Umgebung auszubrechen, denn in beiden, Filmen & Gefängnissen, herrscht eine kalte, antiindividuelle Absurdität. In dem einen werden die Insassen mit brutalen, undurchsichtigen Spielchen manipuliert und entmenschlicht und in dem anderen ringen Politiker bis zur Lächerlichkeit mit einem unsichtbaren Feind: ihrer eigenen Hilflosigkeit. Der eine Film ist vom Ungarn Jancsó Miklós und der andere vom Griechen Theo Angelopoulos. Beide sind für ihre langen Einstellungen und Plansequenzen berühmt und berüchtigt. Trotzdem haben ihre Filme und Stile nicht viel gemeinsam… außer, dass beide oft die verschiedenen Gesichter der Macht inszeniert haben.

Bei dem einen handelt es sich um Szegénylegények (der deutsche Titel ist je nach Ort und Zeit „Die Hoffnungslosen“ oder „Die Männer in der Todesschanze“, wobei der Erste dem ungarischen Titel mehr entspricht. Im Englischen gibt er sich ähnlich variantenreich. Am bekanntesten ist er wohl als „The Round-Up“). Die Handlung spielt sich irgendwo im Nirgendwo der ungarischen Puszta ab… wahrscheinlich im Jahr 1869. Der revolutionäre Geist von 1848 hat sich verflüchtigt. Die Einzigen, welche den österreich-ungarischen Machthabern Widerstand leisten, sind Verbrecher und Wegelagerer. Um diese zu brechen, gibt es zahlreiche Mittel. Eines wird in Die Hoffnungslosen vorgeführt. Ein labyrinthartiges Gefängnis mit Höfen und zahlreichen Einzelzellen, in denen sich die Gefängnisdirektion arglistige Spielchen mit den Insassen erlaubt. Zum Beispiel gibt es da Gajdar János, der seine Hinrichtung verhindern kann, wenn er jemanden im Gefängnis findet, der mehr Menschen getötet hat als er und diesen ans Messer liefert. Immer verzweifelter und offensichtlicher wird er zum Handlanger der Obrigkeit.

Gajdar ist der Einzige, der annähernd die Züge eines Hauptdarstellers hat, doch Jancsó ist nicht an Einzelschicksalen interessiert, sondern an Strukturen. Folglich bleibt diese Geschichte auch nur Episode in einem Film, der hauptsächlich aus Menschen besteht, die durch ein Gefängnis geführt und vom Handeln der Machthaber verspottet werden. Die Häftlinge werden vor Leichen gestellt und befragt. Keine Antwort, kein Geständnis scheint die Fragesteller zu überraschen. Alles scheint schon bekannt und das Abringen der Beichte scheint nur zur Demütigung der Befragten zu dienen. Darüber hinaus werden sie natürlich gegeneinander ausgespielt. So wird Gajdar, in einem Strudel aus Hoffnung und Verachtung gefangen, genutzt, um Informationen zu sammeln und um seine Mörder als Nächste in diesen Strudel zu ziehen. Doch Informationen sind nur der augenscheinliche Nutzen. Vor allem sind Gajdar und seine Leidensgenossen die Objekte von Spott und Erniedrigung… wie Ertrinkende, die nach dem Strohhalm greifen, der ihnen immer wieder vor der Nase weggezogen wird, werden sie mit diabolischer Hinterlist verlacht. Der Film spiegelt so die Struktur der Unterdrückung. Allein das endlose Führen der Gefangenen durch die Gänge und Höfe des Gefängnisses, durch die Weite der Puszta zum ausgelagerten Verhörraum, lässt ihr Ausgeliefertsein nur umso deutlicher erscheinen.

Stilistisch ist der  Film noch nicht durch die endlosen, ballettartigen Kamerafahrten geprägt, die Jancsó berühmt machten. Trotzdem ist er äußert elegant inszeniert. Allein die wunderschönen, leicht überbelichteten Bilder sind nicht nur ansehnlich, sondern reflektieren auch die Auslieferung, die totale Beleuchtung, die kein Versteck zulässt. Vor allem aber ist Die Hoffnungslosen ein Wunder an Dezenz. Denn der Zuschauer bekommt die Willkür der Macht und das realitätsverzerrende Gefühl der fehlenden Sicherheit der Insassen selbst zu spüren… mit leicht zu übersehenden Mitteln. So hat der Film keinen Score, nur das ständige Zwitschern von Vögeln in einem Land ohne Bäume, ohne Behausungen für Vögel. Wie in der Wüste von „Der englischen Patient“ stimmen Bild und Ton nicht überein, ohne dass es sofort ins Bewusstsein springt. Trotzdem entwickelt es seine Wirkung. Daneben ist es insbesondere der Schnitt, der diese Verzerrung erfahren lässt, der keinerlei Sicherheit in der Zeiterfahrung zulässt. Nach manchen Schnitten können Sekunden vergangen sein oder Stunden, vielleicht auch Tage. Mit Sicherheit kann man es nicht sagen. Noch nicht einmal ob tatsächlich diese Brüche in der Kontinuität stattfanden. Verwirrt ist man trotzdem. Verwirrt und der Macht der Bilder ausgeliefert.

Bei dem zweiten Film handelt es sich um ????? ??? ’36 („Die Tage von ’36“). Den Auftakt bildet ein Attentat auf einen Politiker. Ein ehemaliger Drogenschmuggler und Polizeiinformant wird daraufhin verhaftet und in ein Gefängnis gesteckt. Doch auf ausdrücklichen Wunsch des Premierministers kommt er dort in keine Zelle, sondern in ein relativ luxuriöses Zimmer. Als der Minister seinen Schützling in der Vollzugsanstalt besucht, zieht der Häftling eine Pistole und versucht seine Freilassung zu erpressen. Regierung wie Gefängnisdirektion wollen und vor allem können sich nicht erpressen lassen, weil die Opposition nur auf Schwächen lauert. Sie sind dazu verdammt, den Premierminister retten zu müssen. Doch je länger die Befreiung auf sich warten lässt, desto mehr entgleitet ihnen die Situation.

Auch Die Tage von ’36 hat keine Filmmusik und lange, bewegte Einstellungen, doch Angelopoulos‘ Stil ist mehr durch eine spröde Bildsprache als durch die verschnörkelte Schönheit Jancsós gekennzeichnet. Die Geschichte des Films muss sich der Zuschauer aus den wenigen Gesprächen erkämpfen. Mit quälend langen Einstellungen zeigt er Menschen, die sich hinter Fassaden aus Pomp verstecken, der durch Angelopoulos‘ Kamera wie die Ausstattung einer Schulaufführung aussieht. Er zeigt Menschen, die denken, dass sie bedeutende oder listige Dinge tun, doch sie gleichen hilflosen Hamstern in einem Laufrad. Allein der Bruder des Häftlings, der versucht, in einem geschlossenen Gefängnishof vor den Wärtern davon zu laufen, verdeutlicht diese klägliche Machtlosigkeit. Immer eine riesige Wand hinter sich, wirkt sein Fluchtversuch nur albern und lächerlich. Doch er ist nur einer von vielen.

Aus dieser Hilflosigkeit gewinnt der Film nun seine Anmut. Denn hinter den hyperrealistischen, kargen Bildern mit der brutal untererzählten Geschichte steckt eine Komödie, eine Groteske…  so offensichtlich wie eine Gefühlsregung auf Steven Seagals Gesicht. Hat man es aber erst einmal verstanden, kommt man aus dem Lachen nicht mehr raus. Dann geht es dem Zuschauer wie dem Politiker im Film, der die ganze Zeit betrübt nach unten guckt und nichts sagt. Als Offiziere und Politiker todernst die Befreiung des Ministers planen, verfällt er plötzlich in einen Lachkrampf. Er erträgt die Lächerlichkeit dieses kläglichen Ernstes nicht mehr und muss den Raum unter ungläubigen Blicken verlassen. Was Die Tage von ’36 nun auszeichnet, ist genau dies, die Fassaden der Macht mit der Ernsthaftigkeit zu zeigen, mit der sie sich selbst wahrnimmt, aber gleichzeitig legt er die Hilflosigkeit dahinter bloß. Und hat man sich erst einmal darauf eingelassen, fallen einem auch plötzlich die teilweise comic-artigen Schnitte und der Witz auf, der fast schon an Monty Python erinnert. So zeigt Angelopoulos auf eindrückliche Weise einen Staat, der am Rande des Verfalls steht, und dadurch nicht nur Griechenland in den Tagen von 1936.