Aktion – Das Schlitzohr und der Bulle (I 1976) & Nur 48 Stunden (USA 1982)

Das Original und sein Remake. Als Walter Hills Nur 48 Stunden 1982 in die Kinos kam, wussten wohl nur die Wenigsten, dass er seine Grundidee bei einem billigen italienischen Polizeifilm (Das Schlitzohr und der Bulle) abgeschaut hatte. Beide handeln von einem Polizisten, der einen Verbrecher stellen muss, keine Zeit dafür hat und deshalb einen inhaftierten Delinquenten aus dem Knast holt. Das war es dann aber auch an Gemeinsamkeiten. Der Plot und die Umsetzung liegen Meilen auseinander. Jeder der Regisseure wäre wahrscheinlich auch gar nicht in der Lage, Filme zu machen, welche dem anderen ähneln. Gerade aber ein Vergleich bringt die Eigenheiten der beiden Filme nur deutlicher hervor.

Jeder, der Umberto Lenzis Werk kennt, weiß, dass es immer zweifelhafter Natur ist, sich seinen Filmen über die Handlung zu nähern, aber Pro forma hier der Inhalt von Das Schlitzohr und der Bulle: Die Gangsterbande um den skrupellosen Brescanelli, dargestellt vom ewigen Zweitklassemafioso Henry Silva (als das, was er am besten kann: einen zweitklassigen Mafioso), entführt ein Kind. Die Nieren des Kindes sind aber nicht mehr intakt, weshalb es dringend eine Dialyse braucht. Die Uhr tickt. Kommisar Antonio Sarti holt deshalb den Ganoven Sergio Marazzi (Tomas Milian) aus dem Gefängnis, weil er keine Lösung diesseits der Legalität sieht. Mit anderen Gefährten Marazzis schießen und foltern sie sich in die Nähe Brescanellis… nur um immer wieder in Sackgassen zu landen.

Doch das eben Wiedergegebene ist nur so etwas wie das grobe Tau, welcher den Film notdürftig zusammenhält. Denn was Das Schlitzohr und der Bulle vor allem ausmacht, ist Aktion. So etwas wie einen Plot kennen Umberto Lenzi und sein Mitautor Dardano Sacchetti offensichtlich nicht. Zumindest kümmern sie sich nicht darum. Man kann nicht mal davon sprechen, dass Tomas Milian der Hauptdarsteller wäre. Dafür müsste es einen Mittelpunkt der Handlung geben. Der Film ist nur Spektakel. Eine Aneinanderreihung  von Szenen, die durch ihre Gewalt, ihren Witz, durch ihre Aktionen bestimmt sind. Das alles am Ende doch noch zu so etwas wie eine Geschichte zusammenfällt – man muss unweigerlich an Mikado denken – ist wahrscheinlich nur Lenzis Zugeständnis an die Produzenten und den Zuschauer. Interessieren tut es ihn nicht. Monnezza kommt aus dem Knast frei: Doch warum gerade er? Wie ist dieser Schritt innerhalb der Jurisdiktion legitimierbar? Wen interessiert das? Lenzi nicht. Der Zuschauer bekommt die Umstände hingeworfen und er muss fressen… oder sterben. Denn der Film möchte nicht erklären, viel lieber zeigt er uns menschliche Gefühle, aufs atavistischste reduziert in einem Kaleidoskop der Coolness… und wenn jemand das kann, dann seine Merkwürden Umberto Lenzi.

Im Gegensatz dazu nimmt einen Nur 48 Stunden schon mit den ersten Bildern in den Arm. Es ist als ob Onkel Walter Hill uns beiseite nimmt, um uns eine gute, alte Geschichte zu erzählen. Die Geschichte von Jack Cates (Nick Nolte) und dessen Jagd auf den entflohenen Häftling Albert Ganz (James Remar). Letzterer hat auf der Flucht Cates Dienstwaffe entwendet und zwei Polizisten brutalst getötet. Ersterer ist folglich ziemlich sauer, motiviert und ungeduldig, weshalb er einen alten Geschäftspartner von Ganz aus dem Gefängnis holt, damit dieser ihm helfe. Dabei handelt es sich um Reggie Hammond (Eddie Murphy), der selbst höchst unerfreut über die erfolgte Flucht ist. Schließlich hat er nun einen Konkurrenten um die zusammen entwendeten 500.000$, welche in Hammonds Auto auf einen der beiden warten.

Wie gesagt ist Walter Hill dabei ein Geschichtenerzähler alter Schule, der mit Nur 48 Stunden eine mindestens 20 Jahre haltende Welle an Buddy-Cop-Movies losschlug. Natürlich gibt es auch Lücken in seinem Film, so erklärt er auch nicht näher, wieso gerade Hammond für Cates so wichtig ist, dass er ihn mehr oder weniger illegal aus dem Knast holt. Doch das sind nur Kleinigkeiten, welche einem in der sich straf abspulenden Dramaturgie kaum auffallen. Die Folge ist ein teilweise sehr eleganter Film – man denke nur an die Plansequenz im Polizeirevier zu Beginn – dierzu jeder Zeit das richtige Maß aus Geschichte, Action und Witz findet. Das Ganze ist somit nicht einfach nur viel nachvollziehbarer, sondern es ist auch viel nachvollziehbarer ein guter Unterhaltungsfilm… im Gegensatz zu seinem italienischen Pendant… aber eben auch viel sicherer und weniger gefährlich.

Der qualitativ wichtigste Unterschied der beiden Filme heißt aber Eddie Murphy. Aus heutiger Sicht ist es kaum zu glauben, aber es gab Zeiten, als er über Charisma und Witz verfügte und zu Recht seine Filmkarriere mit diesem Film durchstarten lies. Schon sein Lispeln, das an kleine Kinder erinnert, gibt ihm etwas schelmenhaftes, eine Aura, die ihm leicht verzeihen lässt und ihn grundsympathisch macht … dasselbe Lispeln, wie es auch Mike Tyson mit sich führt, durch welches man gerne mal vergisst, was er in seinem Leben schon angestellt hat. Jedenfalls ist alleine die Szene, in der Eddie Murphy wie eine Naturgewalt durch eine Bar voll Rednecks zieht, Grund genug, den Film gesehen zu haben. Gleichzeitig bedrohlich und urkomisch nutzt er das ausgelassene Aufeinanderprallen der Klischeewelten (zurückgebliebene, rassistische Hinterwäldler vs. schwarze, eloquente Revange), um sich und seine Rolle in den Köpfen der Zuschauer zu verewigen (“Let’s see with what we can fuck next”). Im Gegensatz dazu bietet Das Schlitzohr und der Bulle nur die Clownerie von Tomas Milian. Dessen Naivität und Kläglichkeit beim Versuch, witzig zu sein, schlägt nur den letzten Nagel in den Sleaze-Sarg. Mit allem Respekt.

Geometrie der Oberfläche – Der kleine Soldat (F 1960) & The Face of Another (J 1966)

Film ist eine Kunst der Oberfläche, hört man immer mal wieder. Man sieht Gesichter, deren Gedanken man nur erahnen kann, Häuser, die nur eine Vorderfront haben, und zweidimensionale Bildausschnitte, die ohne Tiefe auf eine Leinwand projiziert werden. All das, was man zu sehen bekommt, verbirgt etwas tiefer Greifendes. Die mal spannenden, mal lächerlichen Erzähler, die durch manche Filme geistern, machen es nur deutlicher. Wenn sie etwa erzählen, was eine Figur fühlt und denkt, geben sie nur Schlagworte wieder, welche die Unergründlichkeit hinter den Gesichtern zu eindimensionalen  Sicherheiten zusammenfassen… Oberflächen.

Die Silhouetten der Häuser vor dem Sternenhimmel haben für mich immer etwas Ergreifendes… gleichzeitig hart und voller Geheimnisse sehen sie aus, so wie Menschen und das, was hinter ihnen steht.

Godard hat sich sein Leben lang mit dieser Oberflächlichkeit beschäftigt. Mal explizit, mal ganz dezent. Der kleine Soldat stellt dabei keine Ausnahme dar. Es ist der Film über Bruno Forestier (Michel Subor), der vor seiner Wehrpflicht im Algerienkrieg in die Schweiz geflohen ist und dort für die rechte OAS als Gelegenheitsagent arbeitet. Er bekommt Zweifel, doch mit der drohenden Abschiebung wird er erpresst den linken Radiomoderator Palivoda zu ermorden. Gleichzeitig lernt er das dänische Fotomodell Veronika Dreyer (Anna Karina in ihrer ersten Rolle für Godard) kennen, welche dem FLN nahe steht. Er verliebt sich in sie und möchte mit ihr vor den beiden außer Kontrolle geratenen Seiten fliehen.
Aufgrund seiner politischen Brisanz wurde Der kleine Soldat drei Jahre lang in Frankreich nicht aufgeführt und konnte erst 1963 veröffentlicht werden, zu einer Zeit als Godard sich schon wieder deutlich weiterentwickelt hat.  Es ist ein Frühwerk und man merkt es… besonders wenn man die Filmkritiken von Godard in den „Cahiers du Cinéma“ kennt. Bruno als Erzähler spricht jeder Zeit wie Godard in seinen Artikeln… man kann es geschwätzig nennen. Alles und jeden bringt er mit Literatur, Malerei oder Film in Verbindung. So sagt er Dinge wie: „Das Dunkelblau des Himmels hat mich an das Bild von Paul Klee erinnert“ oder „Wie hieß das in dem Gedicht von Aragon: ‘Mai ohne Schmerz und Juli erdolcht.’“… wie sein Regisseur, der selbst in schwarz-weißen Filmen das Licht Auguste Renoirs erkennen konnte.

Wenn man ein Gesicht fotografiert, dann fotografiert man die Seele dahinter.

Neben diesen Offensichtlichkeiten (Politik, Liebe, Kunst) hat der Film noch einen anderen Gegenstand: die Oberfläche. Den ganzen Film lang werden kurze Aphorismen eingebaut, die um dieses Thema kreisen. Bei Brunos finalen Monolog über Idealismus, Ethik und weiblichen Selbstmord erzählt er zum Beispiel mit stoischem Gesicht, das er an einen Wald in Deutschland denkt, einen Fahrradausflug oder Barcelona. Und er erzählt, dass es anhand seines Gesichtes unmöglich ist, diese Gedanken auch nur zu erahnen. Man kann nicht einmal mit Sicherheit wissen, ob er wirklich an einen Wald in Deutschland dachte.

Woran denken sie jetzt? In diesem Augenblick?

Der Film ist fahrig und Godard sucht noch sichtlich nach seinem Stil (im Vergleich zu „Außer Atem“ ist es sogar ein Rückschritt), doch es gibt Szenen mit denen er sein Können mehr als nur andeutet und den Film vor der drohenden Belanglosigkeit bewahrt. Vor allem diejenige, in der Bruno vom FLN gefoltert wird, stellt Godards überbordenden Wahnwitz zur Schau, wenn er weniger den Erzähler als seinen Kameramann Raoul Coutard für sich reden lässt.

Die Sequenz beginnt damit, dass Bruno orientierungslos in eine Wohnung geschleppt und ausgefragt wird. Da er nichts sagt, wird er gefoltert. Zu Beginn seines Aufenthalts in der Wohnung und gegen Ende wird immer wieder zu einer Häuserfront geschnitten, die von der Kamera abgefahren wird. Zuerst scheint es wie ein verspäteter Establishing Shot, der vergehende Zeit anzeigen soll, oder einen Wegschauen vor der Gewalt. Doch die stetige Wiederkehr dieser Einstellungen und ständige Bewegung der Kamera über immer andere Teile des Gebäudes deuten eine andere Möglichkeit an. Die Fahrten sind suchende Blicke, die die kalten, nichtssagenden Fassaden nach einem Hinweis absuchen, an welchem Ort die Folter stattfindet. Hinter welcher dieser unbeteiligt, gleich aussehenden Fenstern Bruno sich aufhält, hinter welchen Mauern sich all diese unsagbaren Gräueltaten zutragen. Es ist wie die Fahrt über das Gesicht von John Wayne Gacy, um irgendwo einen Anhaltspunkt über den Wahnsinn zu finden, der sich hinter dem völlig normal aussehenden Äußeren verbirgt. Die Fahrt der Kamera findet aber nur Verzweiflung anhand der Unmöglichkeit, einen Unterschied machen zu können. Diese Sequenz wird dann mit einem der witzigsten und verwirrendsten optischen Witze der Filmgeschichte aufgelöst, die den Zusammenhang zwischen Gezeigtem, Gesagten und Geschehenden total dekonstruiert… doch schauet selbst. Fest steht jedenfalls, das Coutard die Seele hinter der Oberfläche nicht fotografieren konnte. Doch das Problem hat auch eine andere Seite.

Es ist komisch, wenn ich mein Gesicht so betrachte… habe ich den Eindruck, dass es nicht der Vorstellung entspricht, die ich mir davon im Inneren gemacht habe. Wie ist ihre Meinung… ist das Äußere wichtiger oder das Innere?

The Face of Another (Tanin no kao) von Teshigahara Hiroshi meditiert im Gegensatz zum kleinen Soldaten fast ausschließlich über das Thema der Oberfläche. Das Gesicht eines Mannes ist bei einem Unfall im Chemielabor weggebrannt worden. Den Wundverband legt er weiterhin an, obwohl es nicht mehr nötig wäre. Er möchte sich vor den Blicken seines Umfeldes schützen. Das vernarbte Gewebe, das mal sein Gesicht war, versteckt er lieber… mit der Folge, dass ihm ein Gesicht fehlt. Er bietet anderen Menschen keine festen Konturen und fühlt sich monströs und aussätzig, weil er das Fenster zu seiner Seele verloren hat. Für ihn steht fest, dass andere Menschen von ihm bestenfalls irritiert sind. Schlussendlich erträgt er sich nur noch im Dunkeln und behandelt jeden in seinem Umfeld mit Hass und Herablassung… bis eines Tages ein Arzt ihm anbietet eine Maske zu erschaffen, welche von einem menschlichen Gesicht nicht zu unterscheiden wäre. Die Möglichkeiten scheinen ihm nun unendlich. Mit dem neuen Aussehen kann er werden, wer er will, machen, was er will… niemand wird etwas auf ihn zurück führen können. Doch zuerst versucht er seine Frau zu verführen, um ihr ihre Untreue gegenüber dem gesichtslosen Ungeheuer, als welches er sich sieht, zu beweisen.

Was sich entspinnt, ist eine eklektische, mitunter wirre Meditation über die Oberflächlichkeit des Menschen und über menschliche Identität… kurz über den Zusammenhang zwischen dem Inneren und dem Äußeren. Im Vergleich zu „Die Frau in den Dünen“ ist dieser aber die Leichtigkeit abhanden gekommen, die Teshigahara bis dahin auszeichnete. Die schrägen Ideen wirken teilweise mehr gewollt als notwendig. So will er zu viel auf einmal und vertraut nicht wie bei seinen Vorgängern auf vage Andeutungen und absurde Kompositionen, sondern formuliert zu sehr die Gedanken seiner Personen in Phrasen aus. Trotzdem schafft es The Face of Another, eine beklemmende, surreale Atmosphäre zu erzeugen, die für die mitunter beliebigen Szenen entschuldigt. Vor allem weil Teshigahara mit zunehmender Laufzeit des Films alle seine Stärken wiederfindet und ein abstruses Universum entwirft, wie es nur ein Japaner erdenken kann. Alleine die Innenausstattung des Labors mit seiner aus Körperteilen bestehenden modernen Kunst und den durchsichtigen Wänden, welche Bilder wie “Der vitruvianische Mensch” von Leonardo da Vinci über die Darsteller  legen, sind Highlights, für die mancher Regisseur sein linkes Auge geben würde. Zudem bricht die Handlung mitunter ab und verfolgt, ohne zu erklären wieso, ein Mädchen mit verbrannter rechter Gesichtshälfte, die zum Beispiel durch eine Irrenanstalt stolpert, während das Ganze mit Reden Hitlers unterlegt ist. Wem das zu wirr klingt, der sollte sowieso nicht unbedingt Filme aus den japanischen Sechziger Jahren schauen

Im Zentrum des Films steht aber die Maske und die Möglichkeit, durch sie Anonymität, Freiheit und Willkür zu  erlangen, da sie die letzten Stränge der Oberfläche zum Inneren kappen soll. Doch schon das Labor des Arztes spricht Bände über diese. Mal ist es hell erleuchtet und die weißen Wände deuten die Unendlichkeit des Raumes an. Die erwähnten Glaswände im Raum mit ihren wissenschaftlichen Ausmessungen des Menschen scheinen den Menschen absolut berechenbar zu machen. Alles deutet darauf, dass den Möglichkeiten der Maske keine Grenzen gesetzt sind. Doch wenn der Hauptdarsteller zweifelt, ist das Labor plötzlich dunkel, erdrückend und die Wände verwandeln sich in ein undurchdringliches Labyrinth, das den Raum durch schneidet. So endet ein Strang der Handlung damit, dass die Frau ihren Mann erkennt. Natürlich hat sie gewusst, mit wem sie die Nacht verbrachte. Denn anders als die Kamera Coutards findet sie Anhaltpunkte, welche vom Äußeren ins Innere führen, da die Oberfläche sich nicht auf das Gesicht beschränkt, sondern auch den Körper, das Handeln, den Charakter, die Art zu Reden usf. einschließt. Doch wie beim “Der kleine Soldat” steht am Ende die Verzweiflung. Die Verzweiflung, weil, aus dem Inneren betrachtet, keine Sicherheit über die Wirkung der Fassade besteht.

Was diese Filme also grob verbindet, ist ihre Untersuchung des Individuums, welches die Außenwelt betrachtet und von dieser betrachtet wird. Beide finden dabei eine Lücke, welche das Innen vom Außen trennt.  Eine unüberbrückbare Lücke, die dem Blick nach außen nur Oberflächen bietet, die ihn von den dahinterstehenden Dingen trennt, sowie eine Oberfläche vor dem eigenen Sein entstehen lässt, welche man nur von innen betrachten kann… wie das Innere einer Maske. Die Äußerlichkeit ist somit der Trennfaden, welcher den Menschen von seiner Außenwelt abschneidet. Sie deutet etwas an, gibt aber nichts mit Sicherheit wieder… und Film ist schlussendlich deshalb eine Kunst der Oberfläche, nicht weil er mehr von Oberflächen gekennzeichnet ist als andere Künste, sondern weil er diese viel natürlicher zur Schau stellen und durchleuchten kann.

Doch eigentlich fasst diese Szene alles zusammen:

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Paranoider Tagtraum – Leben und Sterben lassen (GB 1973)

Der ungarische Gesandte spricht vor den Vereinten Nationen und der Delegierte des United Kingdoms fällt tot um. Nur die weißen Anwesenden schrecken auf. Die Gesandten von San Monique, Honduras und so fort, welche durch ihre schwarze Hautfarbe verbunden sind,  scheinen eher desinteressiert. Nur der Zuschauer sah, dass eine Hand mit eben dieser schwarzen Hautfarbe sich für den Tod verantwortlich zeichnete.

Ein Mann mit weißer Hautfarbe steht alleine vor einem „Fillet of Soul“-Restaurant in New Orleans. Durch seine Hautfarbe sticht er in dem offensichtlich von Schwarzen dominierten Viertel deutlich hervor. Die inzwischen an ihm vorbei schreitende Begräbnisprozession lässt ihn noch fremder erscheinen. Der Trauerzug ist nicht nur durch den demonstrativen Aufmarsch afroamerikanischer Modestile der 30er bis 60er für den englischen Agenten ausgrenzend oder durch den für ihn fremden Duktus von Musik und dem Schreiten der Trauernden, sondern ebenso durch die einfache Existenz der Trauernden. Denn der Mann passt nicht in diese Umgebung, weil er nicht weiss, wessen Tod solchen Schmerz verursacht. Als sich das Messer des Schwarzen neben ihm in seinen Körper bohrt, fragt sich der Zuschauer eigentlich nur, wieso er nicht erkennen konnte, wie fremd und unerwünscht er die ganze Zeit war. Er war von einer Masse Gleichgesinnter umzingelt, deren Schmerz nicht der Tod eines Menschen ist, sondern sein Leben, das Leben des weißen Mannes.

Der dritte weiße Mann, der zu guter Letzt stirbt, befindet sich auf San Monique an einen Pfahl gefesselt. Die Kurve des Klischeegehalts der Morde durch Schwarze steigt steil an, denn er befindet sich in den Klauen eines Voodoopriesters, der ihn während einer Zeremonie mittels einer Schlange tötet. Das ganze Dorf tanzt dazu in Ekstase. Die Ängste vor den afrikanischen Kulturen seit Beginn der Kolonisation Afrikas (atavistische Tänze, wilde Menschenopfer und auch ein Hauch von Kannibalismus)  scheinen wahr geworden zu sein und den Tod dieses weißen Mannes zu fordern.

Was diese drei Szenen verbindet, mit welchen Leben und Sterben lassen beginnt, ist die Etablierung des Grundproblems des folgenden Films: die grundsätzliche Verschiedenheit von afrikanischen/afroamerikanischen und den europäischen/euroamerikanischen Menschen. An diesem Punkt kann man in “Leben und Sterben lassen” einen rassistischen Film sehen, doch zu bewusst werden die kulturellen Unterschiede als Antriebsfeder des Films genutzt. Die ganze Spannung, von der sich “Leben und Sterben lassen” nährt, liegt in der Fremdheit der Kulturen und der daraus entstehenden Angst.

Natürlich ist dieses James Bond-Abenteuer keine anthropologische Studie und schon gar keine Untersuchung der Kulturen der Afroamerikaner oder der Karibik, welche im ganzen Film prominent vorgeführt werden. Vielmehr handelt es sich um die Darstellung eines Blickes auf diese Kulturen durch die Brille der weißen Zivilisation… eines ängstlichen, unverständigen und vor allem nicht parteilosen Blickes. Kurz: alles was wir zu sehen bekommen, ist die paranoide Illusion des zutiefst rassistischen James Bond.

Scorsese/Schrader haben den latenten Rassismus Travis Bickles in “Taxi Driver” durch den Blick der Kamera dargestellt. Die Kamera fährt an bunt gekleideten, schwarzen Zuhältern vorbei, welche hasserfüllt starren. Doch was wir sehen, ist keine Objektivität, sondern das Unbehagen Bickles gegenüber einer gesamten Rasse, welche für ihn nur noch unergründlicher, finsterer Abschaum ist. Der Schwarze Mann ist für ihn keine Kinderschreckfigur mehr, sondern furchterregende Realität.

“Leben und Sterben lassen” funktioniert auf die gleiche Weise. Guy Hamilton zeigt uns keine Realität, sondern den Blick James Bonds auf diese. So schafft er eine überaus gelungene Analyse des rassistischen Verfolgungswahns einer unbedarften Actionfigur. Vielleicht ist diese auch so gelungen, weil die gezeigte Paranoia der Sicht der Urheber entspricht, aber unter der Oberfläche dieses scheinbar naiven Actionabenteuers, das zu den besten der Serie gehört, lauert ein tiefer Abgrund, der den Wahn rassistischer Angst auslotet.

So ist der gesamte Film durchzogen von Motiven einer vereinigten schwarzen Rasse, welche sich autonome Orte der Rebellion geschaffen hat, in denen Weiße unerwünscht und machtlos sind. Nehmen wir nur die Harlem-Sequenzen in dem jeder Schwarze ein Agent von Drogenbaron Mr. Big ist. 007 und die vereinzelten CIA-Agenten finden sich an einem Ort wieder, wo das Leben eines Weißen oder eines Verräters an der eigenen Rasse nicht viel Wert ist. Denn wenn James Bond wieder einmal in einem „Fillet of Soul“-Restaurant durch einen Mechanismus in der Wand verschwindet, interessiert es scheinbar niemanden. Doch hinter dem Desinteresse zeigt sich die Fratze des Wissens um die Beseitigungsmöglichkeiten des weißen Mannes und das stille Gutheißen derselben. Das schlechte Gewissen James Bonds projiziert sich auf die Unterdrückten, welche seiner Meinung nach nur den Feind in ihm sehen können und sich deshalb gegen ihn verschwören. Überall lauern Gegner und Hass.

Die von Klischees gespeiste Angst Bonds führt sogar soweit, dass seine Fantasie einen Voodoozampano, der Touristen unterhält und an dem er kurz vorbei läuft, zur linken Hand des Bösewichts macht. Natürlich ist dieser die offensichtliche Wahl von 007, da er alles verkörpert, was er nicht versteht und was ihm an der Kultur der Schwarzen unangenehm ist. Er ist wild, ungehemmt, fremdartig und machtvoll auf eine atavistische Weise. Bonds Furcht lässt ihn nicht erkennen, wie lächerlich dieser Touristenschreck in Wirklichkeit ist.

Nachdem der MI6-Agent den Heroinhandel aufdeckt, welcher die Tode zu Beginn des Filmes verursachte, bietet sein Kopf ihm schlussendlich eine wahrhaft paranoide Lösung: Einhorn ist Finkle. Er, der überall Verschwörungen und Widersacher sieht, personifiziert alles Böse in einer Person. Der Regierungschef von San Monique und der New Yorker Drogenbaron Mr. Big können nur dieselbe Person sein. Solch ein großes Netz des Antagonismus muss von einem Menschen zusammen gehalten werden, mit dessen Tod, das Netz zu zerstören ist. Doch hier irrt sich James Bond und der Film zeigt es unumwunden auf. Nachdem er alle Schurken getötet hat, sitzt der ominöse Voodoopriester auf der Lokomotive, die Bonds Zug zieht, und lacht dem Zuschauer ins Gesicht… den Schwarzen Mann wird James Bond niemals los, denn er existiert nur in seiner Phantasie und stirbt nur mit seinem Rassismus oder mit ihm.

Gescheiterte Träume Teil 2 – La coquille et le clergyman (F 1927)

Der dritte Film im Bunde der tatsächlich aus dem Kreis der Surrealisten stammenden[1] Filme ist auch der am wenigsten bekannte: La coquille et le clergyman (Die Muschel und der Kleriker). Gedreht wurde er von Germaine Dulac nach einem Drehbuch von Antonin Artaud. Letzterer war mit der Umsetzung seines Drehbuchs nicht zufrieden. Wer es schafft, die 5-6 unfassbar öden Seiten des Drehbuchs zu lesen, wird sich fragen, was Artaud an diesen Film stört. Dulac hat sicher nicht alles perfekt getroffen, aber doch ihr Möglichstes getan, dem Buch gerecht zu werden. Es besteht die Möglichkeit, dass Artaud die Bilder aus seinem Kopf besser hätte umsetzen können. Doch wahrscheinlicher ist, dass er ebenfalls gescheitert wäre, denn was das Gelingen von „Un chien andalou“ so besonders macht, ist im Grunde, dass surrealistische Filme unmöglich sind, jedenfalls so wie sie sich die Pariser Surrealisten (insbesondere Artaud) vorstellten, denn sie wollten Filme und Literatur schaffen, welche die Eindringlichkeit eines Traumes haben sollten.

La coquille et le clergyman hat bessere Ideen als „L’âge d’or“, aber auch jede Menge Leerlauf. Der Film handelt von einem Priester, der Sex mit einer Frau möchte, aber ein General ist immer wieder im Weg. Erzählt wird das natürlich in abstrakten Bildern und Geschichten, wie zu Beginn als der Kleriker eine Flüssigkeit aus einer riesigen Muschel in kleine Reagenzgläser schüttet und diese anschließend wegwirft. Meist geschehen aber zusammenhanglose Dinge, wie der minutenlange Gang des Priesters durch unbestimmte Gänge. Er schwingt bedeutungsvoll einen Schlüssel und schließt Türen auf, aber sonst herrscht Ödnis in der Handlung. Dieser Leere, die keine nachvollziehbare Erklärung anbietet, kann man mit Anstrengung vielleicht interessante Zusammenhänge abringen, aber berührender wird es deshalb auch nicht. An der Eindrücklichkeit eines Traums scheitert der Film kläglich.

Den Grund dafür findet man am einfachsten in ihren Vorstellungen zur Literatur. André Breton, Großwesir des Surrealismus, hat Romane gehasst: „[…] an Dummheit grenzende Klarheit, das Leben von Hunden. Noch im Wirken der besten Köpfe macht sie sich  bemerkbar; das Gesetz der geringsten Anstrengung drängt sich ihnen am Ende auf wie allen anderen auch. Eine belustigende Folge dieses Tatbestandes ist in der Literatur zum Beispiel die Überfülle von Romanen.“[2] Für ihn war der Roman der Agent der Logik, der Realität, der Psychologie und der Kleinlichkeit. Und bei allen seinen nur zu verständlichen Kritikpunkten übersieht er, dass er durch die Ablehnung narrativer Zusammenhänge seinem Ziel Kunst zu schaffen, die eindrücklich wie ein Traum auf Menschen wirken solle, entgegen arbeitet. So haben es die Surrealisten auch nicht verstanden, ihre wirklich großartigen Manifeste in die Tat umzusetzen. Bücher wie „Les champs magnétiques“ (Die magnetischen Felder; von André Breton und Philippe Soupault)  sind unlesbar, da sie nur eine Ansammlung von Sätzen sind. Kafka hat die Verbindung von Traum und Wirklichkeit in seinen Texten greifbarer erreicht, weil er nicht auf die narrativen Zusammenhänge verzichtete, wie Milan Kundera feststellte.[3] Auch die von den Surrealisten so geliebten Fantômas Romane von Pierre Souvestre und Marc Allain sind bessere Beispiele für eine automatische Schreibweise[4] als die ermüdenden Bücher der Surrealisten.

Mit den Filmen verhält es sich auf ähnliche Weise. So schreibt Antonin Artaud: „Man muß nach einem Film suchen mit rein visuellen Situationen, dessen Drama aus einem Schock für die Augen entsteht, aufgenommen, wenn man so sagen darf, in der Substanz des Blickes selbst, ohne Verwurzlung in psychologischen Umschreibungen logischer Art, die nichts sind als ins Visuelle übertragener Text. Es handelt sich nicht darum, in der visuellen Sprache ein Äquivalent für die geschriebene Sprache zu finden, die die Bildersprache nur schlecht übersetzen würde, sondern vielmehr darum, die Essenz der Sprache selbst vergessen zu lassen und die Handlung auf ein Niveau zu verlegen, wo jede Übersetzung unnötig wird und wo diese Handlung fast intuitiv auf das Hirn wirkt.“.[5] Was er vom Film wollte, ist im Grunde eine eigene Realität, die direkt auf den Menschen wirken sollte. Doch Film ist nicht real und der Zuschauer weiß das. Wie das Wort schon sagt, schaut er eben nur zu und besonders bei abstrakten Filmen ist dies der Fall. Es gibt sicherlich gute experimentelle Filme, welche Zuschauer in ihren Sog ziehen können, doch die emotionale Eindrücklichkeit eines narrativen Films werden sie nie erreichen… schon gar nicht den Schock, das Zusammenzucken, welches ein Horrorfilm erreichen kann.

Das Problem ist die Fremdheit der Bilder. Ein Traum, in all seiner Irrealität, hat etwas Natürliches, Vertrautes und gerade deshalb etwas so Einprägsames und  Erschütterndes. Artauds Vorhaben musste scheitern, denn die in seiner Phantasie so mitreißende Essenz der Bilder hat in der Wirklichkeit nur einen ästhetischen Wert. Schönheit, der die Vertrautheit fehlt.

Ein kurzer Blick auf Jean-François Lyotards Theorie vom „Anti-Kino“ macht vielleicht deutlich, warum. Er sah in Zusammenhängen und wiederkehrenden Elementen ein Gefängnis für Bilder, die durch diese ihre innewohnende Kraft verlören. Er wollte ein Kino, das von einem Kind versinnbildlicht wurde, das ein Streichholz abbrennt und die Flamme anstarrt… ohne dass es einen gesellschaftlichen Nutzen oder ein zusammenhängendes Handeln gäbe.[6] Er übersieht, dass Bilder nicht die existentielle Realität einer Flamme haben, da man sich nicht dran verbrennen kann. Die Bilder auf der Leinwand müssen es erst erreichen, dass man sich mit ihnen identifiziert. Diese Kraft haben sie nicht von sich aus.

Artaud erwartete wie Lyotard, dass jegliche gezeigten Bilder existentiell auf den Zuschauer wirken könnten. Deshalb wollte er auch die Essenz der Sprache loswerden. Er wollte keinen Traum erzählen (und jeder kennt das Gefühl der Armseligkeit der Nacherzählung eines Traums, der im eigenen Kopf so reich an Eindrücken ist), sondern ihn zeigen. Er dachte, dass, wenn er traumartige Bilder zeigen würde, diese  auf die Zuschauer wirken würden, wie wenn diese sie selbst erlebten… als ob die Leinwand für den Zuschauer die Realität wäre. Deshalb war Artaud von La coquille et le clergyman in der Version von Germaine Dulac so enttäuscht, weil er einfach nur sich bewegende Bilder sah… die ihn wahrscheinlich auch noch langweilten. Doch statt seine Naivität zu erkennen, schob er die Schuld auf Dulac.

Er wollte nicht wahrhaben, dass narrative Zusammenhänge die Vertrautheit schaffen, die für eine Identifikation mit dem Geschehen nötig sind. Zu sehr hasste er Logik und Psychologie und damit eine nachvollziehbare Geschichte. Doch durch diese entsteht erst eine Welt im Film, wie irrational sie auch ist, die aus dem Zuschauer einen Teilnehmer machen kann. So muss es für Artaud ein Graus gewesen sein, dass im innovationsfeindlichen, geldgierigen Hollywood Filme gemacht wurden, die ihm  nicht gefielen, aber viel eher seine Wünsche erreichten. Wahrscheinlich wäre er schreiend aus dem Kino gerannt, hätte er das Ende von „Die Sehnsucht der Veronika Voss“ gesehen, als die Titelfigur äußert: „Wissen Sie, wie das da drüben heißt? Traumfabrik. Eine Fabrik in der Träume gemacht werden und nicht Geld. Das müssen Sie sich mal vorstellen, dass man Träume machen kann … ganz einfach machen.“


[1] Zumindest wurde der Film 1927 gedreht, was  die Möglichkeit lässt, dass das Drehbuch vor Artaud Rauswurf 1926 durch André Breton geschrieben wurde. Wenn er es danach schrieb, ist das auch nicht weiter schlimm, weil es ja irgendwie zum guten Ton eines wahren Surrealisten gehörte, sich von Breton aus der Gruppe werfen zu lassen.

[2] Breton, André: Erstes Manifest des Surrealismus, in: Karlheinz Barck (Hrsg.): Surrealismus in Paris 1919 -1939, Ein Lesebuch, Leipzig 1990, S. 82-120, S. 88.

[3] Kundera, Milan: Verratene Vermächtnisse, Frankfurt am Main 1996, S. 53.

[4] Das automatische Schreiben war ein Versuch die Tore des Unterbewusstseins zu öffnen, indem man aufschrieb, was aus einem raus sprudelte, ohne dies bewusst zu steuern oder zu überdenken. Laut der wunderbaren Dokumentation „Fantômas – Das grausame Genie“ von Thierry Thomas haben Souvestre und Allain genau dies gemacht … ohne surrealistischen Überbau. Sie schrieben deshalb nicht irgendwas, sondern ordneten ihre Einfälle dem Erzählen einer Geschichte unter. Sie hatten jeweils nur einen Monat Zeit für ihre 300seitigen Bücher, weshalb sie die Kapitel stundenlang diktierten. Nur dem grob miteinander festgelegten Leitfaden des Plots mussten sie dabei folgen. Ihre Ideen wurden deshalb nicht durchdacht, sondern sprudelten nur aus ihnen raus, wodurch man über ihre Geschichten auch zunehmend tiefer in ihr Unterbewusstsein blicken konnte. (Übrigens haben die de Funès Filme mit dem Wahnsinn der Bücher außer dem Namen nichts gemeinsam.)

[5] Artaud, Antonin: Kino und Realität, in: Karlheinz Barck (Hrsg.): Surrealismus in Paris 1919 -1939, Ein Lesebuch, Leipzig 1990, S. 591-594, S. 592.

[6] Lyotard, Jean-François: Das Anti-Kino, in: Liebsch, Dimitri (Hrsg.): Philosophie des Films, Grundlagentexte, Paderborn 2005, S. 85-99.

Gescheiterte Träume Teil 1 – Ein andalusischer Hund (F 1929) & Das goldene Zeitalter (F 1930)

„Diese Nacht träumte ich – nicht von Literatur – diese Nacht träumte ich, daß ich nicht träumte. Und ich behaupte, daß für die Besessensten von uns eigentlich nur fehlende Alpträume wirkliche Alpträume sind. Im Leeren kreisend, könnte unser Geist sich nicht damit abfinden, gar nicht mehr zu kreisen. Und in der Gemeinschaft unserer Gedanken, Zuneigungen und Abneigungen wirkt die Geschichte von diesem Mann fort, der während einer Hungersnot seine Kinder aß, um ihnen den Vater zu erhalten.“,[1] sagte René Crevel in einem der unzähligen Texte, in dem die Surrealisten einzufangen versuchten, was sie denn eigentlich wollten. Und was wollten sie? Alpträume! Träume! Ekstase! Wahnsinn! Absurdität! Witz! Schmerz! Abenteuer! Kurz: alles, nur nicht die Biederkeit des Realismus und des Alltags. Sie wollten aus ihren eingefahrenen Wegen aufgeschreckt werden und sie wollten keine billigen Erklärungen für ihre Handlungen zulassen. Sie wollten mehr Tiefe als der Realismus ihnen aufzwängte.

Albert Camus sagt, dass sie das konkrete Irrationale und den objektiven Zufall wollten.[2] Doch da sollte er etwas genauer sein. Denn sie wollten das Irrationale, aber nicht den Zufall. Der Unterschied zwischen den beiden ist der gleiche wie zwischen jemanden, der auf die Straße geht und blindlings los schießt, und dem Gedicht, dessen Wörter aus einem Hut gezogen werden. Das Eine ist schrecklich, das Andere egal. Es ist aber auch der Unterschied zwischen Un chien andalou und L’âge d’or.

Un chien andalou (Ein andalusischer Hund) entstand aus der Verbindung zweier Träume … einem von Luis Buñuel und einem von Salvador Dalí. Zusammen erarbeiteten sie ein Drehbuch: „Das Drehbuch wurde innerhalb von einer Woche nach einer sehr einfachen Regel geschrieben, für die wir uns in voller Übereinstimmung entschieden hatten: keine Idee, kein Bild zuzulassen, zu dem es eine rationale, psychologische oder kulturelle Erklärung gäbe; die Tore des Irrationalen weit zu öffnen; nur Bilder zuzulassen, die sich aufdrängten, ohne in Erfahrung bringen zu wollen, warum.“[3] Daraus entspross eine wilde Achterbahnfahrt durch das Unterbewusste zweier Träumer. Die 18 Minuten des Films sind angefüllt mit Bildern, die das Fehlen eines rationell nachvollziehbaren Plots nicht weiter schmerzlich machen. Grob geht es um Lust… um einen Mann, der durch ein gewalttätiges Schauspiel (eine Frau spielt mit einer abgetrennten Hand) Lust bekommt… Lust nach einer Frau… Lust, die ihn mit Wahn beherrscht… Lust, die nur von seiner Zivilisation zurückgehalten wird… Lust, die die romantische Liebe als öden Langweiler entlarvt… grob.

Motiv auf Motiv wird aneinandergereiht: das aufgeschlitzte Auge, die Ameisen auf der Hand, der Mund, der aus dem Gesicht des Mannes verschwindet und an dessen Stelle die Achselhaare der Frau treten und so fort. Aber was diesen Film das Wunder eines guten surrealen Films gelingen lässt, ist der Zusammenhang zwischen den Bildern und Motiven, die zwar ambivalent und nicht schlussendlich interpretierbar bleiben, aber nie beliebig sind. Überall ist die Faszination für die wohlige Angst vorm Sex zu spüren. Buñuel, der im Alter froh war, endlich seinen Sexualtrieb los zu sein, war ebenso wie der asexuelle Dalí[4] von diesem Thema beherrscht und sie waren ihr Leben lang davon gezeichnet. Man merkt Herzblut und Besessenheit an jeder Stelle des Films, da beide diese für die Thematik besaßen. So schafften sie es, den Zuschauer tief zu treffen und Un chien andalou weiß auch bis heute mit seinem Reigen des sexuellen Wahnsinns zu fesseln.

Ganz anders L’âge d’or (Das goldene Zeitalter). Laut Buñuel soll es sich bei diesem Film ebenso um die Darstellung einer amour fou handeln, so sagt er zumindest in der Dokumentation „A propósito de Buñuel“. Doch in diesem Wust aus willkürlich zusammengewürfelten Ideen lässt sich keine Stringenz finden. Es scheint, dass Buñuel ein paar antiklerikale, antibürgerliche Ideen übrig hatte, die mal mehr, mal weniger interessant sind. Diese setzte er nach dem Erfolgsmuster von „Un chien andalou“ wieder zusammen, nur dass er erheblich dezenter inszenierte. Durch diese Beliebigkeit im Vortrag fehlt die Dringlichkeit des andalusischen Hundes… vor allem das Gefühl, dass sich die Ideen aufgedrängt hätten, ist sehr selten zu spüren. Vielleicht fehlte ihm die Zusammenarbeit mit Dalí, der nur per Brief einige Motive einreichte und später irgendwie richtig zu Protokoll gab: „Ich wäre willens gewesen, einen hundertmal größeren Skandal auszulösen, aber aus ‘wesentlichen Gründen’ – umstürzlerisch eher aus Übermaß an katholischem Fanatismus als aus naivem Antiklerikalismus.“[5]

Grob geht es um einen Mann, der brutal ist, öffentlich über Frauen herfällt und vielen bürgerlichen Menschen auf verschiedene Weise auf die Nerven geht. Meist geschehen aber Dinge ohne diesen Mann: ein Bauernwagen fährt durch einen Salon, ein Mann erschießt sein Kind, weil es ihm den Tabak aus der Hand schlägt oder es wird offenbart, dass Jesus an den 120 Tagen von Sodom teilgenommen hat. Die Belanglosigkeit wird aber an einem Punkt im Film deutlich, wenn eine Frau sagt, dass es schön ist, die eigenen Kinder zu töten. Das Problem ist, dass man ihr nicht glaubt, denn zu keinem Zeitpunkt weiß der Film, das Gefühl von Aufrichtigkeit zu vermitteln. Sie scheint es nur zu sagen, weil es ein provozierender Satz ist, aber nicht weil es ihr wirklich Spaß machen würde, so einen Satz auch nur zu denken. So ist L’âge d’or wunderlich genug, um in der Stunde Laufzeit nicht  übermäßig zu langweilen, aber auch nicht interessant, schön oder aufregend genug, um Genuss oder Erstaunen hervorzurufen… eben wie Tristan Tzaras Hutgedicht.


[1] Crevel, René: Über die Naivität, in: Karlheinz Barck (Hrsg.): Surrealismus in Paris 1919 -1939, Ein Lesebuch, Leipzig 1990, S. 61-62, S. 61.

[2] Camus, Albert: Der Mensch in der Revolte, Hamburg 1969, S. 115.

[3] Buñuel, Luis: Der letzte Seufzer, Berlin/Köln 2004, S. ? (im Kapitel zu “un chien andalou”).

[4] Hier könnte man so viele bekannte, ermüdende Dinge schreiben, wieso er asexuell war, deshalb nur eine poetische Annäherung: Georges Bataille hat in eben dem Jahr der Veröffentlichung von „Un chien andalou“ Dalís Bild Le jeu lugubre (Das finstere Spiel) als Feier einer/der Kastration interpretiert. So schreibt er: „Die Statue links wiederum personifiziert die ungewöhnliche  Befriedigung, die aus der plötzlichen Kastration bezogen wird […] Die Hand, durch die die Männlichkeit des Kopfes verdeckt wird, ist eine typische Regelverletzung, die für Dalís Malerei typisch ist, wo die Personen, die meist ihren Kopf verloren haben, ihn nur unter der Bedingung wiederfinden, daß sie vor Entsetzen Grimassen schneiden. Daher sei es erlaubt, in allem Ernst zu fragen, wie es um jene steht, die hier zum erstenmal die geistigen Fenster weit aufgehen sehen und die dort ein kastriertes, poetisches Wohlgefallen ansiedeln, wo nichts weiter als die schreiende Notwendigkeit aufscheint, Zuflucht zur Schande zu nehmen.“ (zitiert nach: Descharnes, Robert und Néret, Gilles: Dalí, Das malerische Werk, Köln 2001, S. 143.) Der folgende Bruch von Dalí und den Surrealisten mit Bataille ist wohl nicht darauf zurückzuführen, dass er weit daneben lag.

[5] zitiert nach: Descharnes, Robert und Néret, Gilles: Dalí, Das malerische Werk, Köln 2001, S. 189.