Was die anderen schreiben: Inception

Inception ist zweifellos der derzeit am meisten diskutierte Film, was wohl darauf zurückzuführen  ist, dass es keine Konkurrenz gibt. Im weitgehend langweiligen Kinosommer 2010 ist der neue Nolan der leuchtende Messias unter dem Mainstream-Einheitsbrei. Unterschiedliche Meinungen zum Film wurden hier im Blog bereits gepostet. Der Kinostart liegt nun etwas mehr als zwei Wochen zurück. Es ist daher an der Zeit, einen Blick auf die Rezeption des Filmes zu werfen. Dabei sei die “etablierte Presse” außen vor gelassen. Wer sich einen Überblick über die Einschätzungen von SZ, Zeit und Co. verschaffen will, sei auf Film-Zeit verwiesen. Hier ist zuallererst die Blogosphäre von Interesse.

Entgegen der recht eindeutigen 87%, die “Inception” derzeit bei RottenTomatoes für sich verbuchen kann, sind die  deutschsprachigen Filmblogs* alles andere als einer Meinung. Abgesehen von den obligatorischen 10/10-Verbeugungen und den 3/10-Verrissen, wird “Inception” auch von jenen, die Christopher Nolans Ehre verteidigen, kritisch beäugt. So bescheinigt Dr. Borstel dem Film die “rundum gute Unterhaltung”, merkt jedoch im selben Text an: “[…]Inception mag vielleicht komplex sein, seine angebliche Intelligenz suggeriert er aber bloß”. Ein ähnliches Fazit wird auch bei CineKie gezogen. Auffällig ist das häufig zu Rate gezogene Argument, für einen Blockbuster sei “Inception” doch erstaunlich anspruchsvoll, was wiederum mehr über den derzeitigen Stand amerikanischer Filmkunst ausdrückt als über den Film selbst. Ijon Tichy, Raumpilot von Film-Rezensionen.de, sieht den Film beispielsweise als “bestmöglichste Verschmelzung” von “Kommerz- und Autorenkino”:

Dass diese trotzdem in Scharen in die Kinos strömen und nicht gleich sofort wieder scharenweise rausgehen liegt daran, dass er den Popcorn-Zuschauer behutsam in der ersten Hälfte des Films mit seinem nicht konsequent logischen Universum vertraut macht. Danach muss jeder selbst schauen, wie mit dem Konstrukt aus Realität und Traum zurechtkommt.

Nicht nur Gratwanderung zwischen Kunst- und Kommerz ist “Inception” für Timo K. Vielmehr verliere mit Nolans Traum-Thriller “hoffentlich der Sommer-Blockbuster seine Unschuld”. Ein “konventionell aufgebautes Heist-Movie” sei der Film im Grunde.

Und doch gelingt es ihm aus dem Konglomerat verschiedenster Elemente und Motive anderer Werke etwas völlig Eigenwilliges zu kreieren, wo lediglich die Bedingungen gegen den Strich gebürstet werden. So wird in “Inception” nichts gestohlen, sondern eingepflanzt, nicht in andere Länder gereist, sondern in andere Traumebenen, nicht vor der Polizei geflüchtet, sondern vor den Abwehrmechanismen des Unterbewusstseins.

Den 9/10 Punkten Timos fügt Judge noch einen hinzu. Voll des Lobes bezeichnet er den Film als “absolutes Meisterwerk”. Natürlich hat nicht jeder dermaßen positive Eindrücke aus der Kinovorstellung von Nolans neuem Hit mitgenommen. Hart ins Gericht geht Flo Lieb, was sich u.a. in den 33 Kommentaren niederschlägt, welche seine Kritik schmücken. Als einer der wenigen Blogger ist er mit DiCaprios Leistung alles andere als zufrieden, beschwert sich über dessen einseitige Mimik (endlich erkennt es einer! [subjektive Anm. d. Verf.]), die man so oder so ähnlich bereits in vielen anderen Filmen zu sehen bekam. Ausgehend von den (Nicht-)Einflüssen C.G. Jungs und Sigmund Freuds auf Nolans Traumkonstruktion, kann Flo die vielerorts gefeierte Intelligenz des Filmes nur in geringem Maße entdecken:

Allein die Tatsache, dass die Idee der Firmenauflösung direkt als solche in Fishers Unterbewusstsein etabliert wird, entfernt sich von Freud und Jung und ist ein müder Versuch anzudeuten, dass Fisher sie in die Tat umsetzen wird. Als ob jeder, der im Traum einen Wagen kauft, am nächsten Tag zum Autohändler fährt. Wären Träume so offensichtlich wie „Lös die Firma deines Vaters auf“, hätte es der Traumdeutungen von Freud und Jung überhaupt nicht bedurft. Hinzu kommt, dass obschon mit Ariadne eine Figur ausschließlich als Statthalter des Zuschauers erschaffen wird, Nolan viel erzählt, aber nichts wirklich erklärt. […] Nichts in Nolans Traumkonstruktionen hat Hand und Fuß und selbst die angebliche „reale“ Welt ist voller Unsinnigkeiten.

Anthony Capristo verweist auf einen zentralen Kritikpunkt, wenn er schreibt:

Christopher Nolans nüchterne, geradezu lieblose Bebilderung eines surrealistischen Sujets ist die visuelle Antithese zur Dialektik eines Traums. Geradezu widersprüchlich, wenn man konstatiert, dass der Brite inszenatorisch nie besser war.

In der Mehrzahl scheiden sich die Bloggergeister an Nolans Herangehensweise an Träume im allgemeinen. Verspielt der Film sein Potential, indem er die surrealen Dimensionen des Unbewussten zurückschraubt oder rechtfertigt der Plot die Notwendigkeit des Realismus? Diese Frage ebenfalls anreißend, geht Christoph Wirsching in seinem veritablen Verriss noch einen Schritt weiter und erkennt in dem Film ein “erzkonservative[s], in seinen chauvinistischen Implikationen auch durchaus fragwürdige[s] Schuld- und Sühne-Drama aus der untersten, schimmeligsten Saccharin-Schublade”.

Um eine allseits beliebte Floskel heranzuziehen: An “Inception” scheiden sich die Geister. Ungeachtet, zu welcher Fraktion man gehört, ob man ein großes Meisterwerk zu sehen bekommen hat, einen zumindest intelligenten Blockbuster oder ein aufgeblasenes Nichts, muss man Nolan zumindest zu Gute halten, dass er etwas Schwung in die Bloggerwelt gebracht hat.

Gegen Ende dieses kurzen Überblicks seien hier ein paar Texte empfohlen, die im Spannungsfeld zwischen Interpretation und Kritik liegen und womöglich neue Einsichten in Nolans Verwirrspiel gewähren. Auf SPOILER sollte man gefasst sein:

  • “Interpretationen und Spekulationen” von Elisabeth Maurer
  • Ein Zwiegespräch von David Bordwell und Kristin Thompson, welches sich um die Narration und Figurenzeichnung des Filmes dreht
  • “Everything you wanted to know about ‘Inception'” findet man bei Salon.com
  • Jim Emersons Blog bietet eine wachsende Anzahl von Artikeln (und hunderten Kommentaren) zum Film, die zugleich hilfreiche Linksammlungen beherbergen
  • Über Emerson wurde ich auf einen hervorragenden Artikel aufmerksam, der “Inception” mit der Struktur von Videospielen und “The Matrix” vergleicht: “Inception’s Usability Problem”

*Update 16/8*

  • Doug Dibbern vergleicht “Inception” mit Anthony Manns “The Heroes of Telemark”, der wohl Pate für die verschneite Actionsequenz im dritten Traumlevel stand.

But if I had to choose, I’d choose functionalism over frillery, restraint over ostentation, Kirk Douglas’s monumental chin over Leonardo DiCaprio’s anguished forehead, Norway over dreamscapes, and a well-told story over pop-philosophy.

*Update 01/9*

Hinter den Sieben Bergen wird “Inception” in einer ausführlichen Kritik mit nur 55% bedacht und die Asexualität hervorgehoben, die Nolans Traumkonzept zu Grunde liegt:

Die ganze Bande schiebt klaglos über Wochen ihren trostlosen Traumagentendienst und entwickelt nicht den leisesten Anflug eines hetero-, homo- oder anderswie sexuell codierten Begehrens.
Sexuell stehen sie auf einer Stufe mit Agent Smith aus „Matrix“, einem Handlanger der Maschinen. (Das kommt ja auch hin, könnten böse Zungen behaupten, sind diese Figuren doch nichts als die konventionskompatiblen Schatten in der Matrix der amerikanischen Filmindustrie).


*Naturgemäß konnten hier nicht alle deutschsprachigen Filmblogs berücksichtigt werden. Falls sich ein Autor an einem längeren Zitat aus seinem Text stört, möge er sich bitte bei mir melden.

Für weitere Hinweise zu deutsch- oder englischsprachigen Interpretationen des Filmes wäre ich dankbar. Für unbedingt lesenswerte, aber hier fehlende Kritiken, gilt dies natürlich auch.

Inception (USA/GB 2010)

Für Meta-Auseinandersetzungen um die Diskussionen, den Hype und den Backlash der Hype-Hasser ist hier leider kein Platz. Christopher Nolans Inception ist ambitioniert bis in die letzte Einstellung, will E- und U-Film sein und bildet somit ein seltenes Geschöpf im Blockbustersommer des Jahres 2010. Ob man im Nachhinein gern das Geld für die Kinokarte ausgegeben hat, wird nicht unwesentlich davon abhängen, wie man zu den anderen Filmen des Regisseurs steht. Das eigentlich Traurige ist nun, dass “Inception” in Bezug auf die Fähigkeiten seines Machers keinerlei Neuigkeiten bereithält. Wie in vielen seiner Filme baut Nolan ein diegetische Welt, über die nur er die Kontrolle besitzt. So komplex konstruiert ist sie wie die Stadtaufsichten, welche er in “Inception” so gern einbaut. Diese Kontrolle gibt er ausgerechnet in einem Film, der mit seiner verschachtelten Traumthematik nach einer ausnahmslosen Subjektivität schreit, nie aus der Hand. Man denke dagegen an “Memento”, der seine Wirkung allein aus der Fixierung auf den Blickwinkel der Hauptfigur gezogen hat und ziehen konnte. Während sich Martin Scorsese im ähnlich gelagerten “Shutter Island”  auf Gedeih und Verderb auf die Sicht des Cops Teddy einlässt mit allen Konsequenzen, welche diese Entscheidung mit sich bringt, ist Nolans allwissender Blick zu jeder Zeit zugegen. Selbst im Finale, in dem mehrere Schichten von Träumen-in-Träumen durchlaufen werden, bleibt uns der kalte Blick des Puppenspielers nicht erspart. So souverän diese Parallelmontage auch gehandhabt wird, so einfallslos ist sie im Grunde. Träume sind in “Inception” nichts weiter als lineare Geschichten, die den Gesetzen der nächst höheren Ebene – des jeweiligen “Levels” darüber – unterliegen. Wie das Drehbuch wurden sie geplant, verbessert, perfektioniert. Damit gleicht der Film dieses Sommers™ einer Dominokette, eingefangen in einer Mise en abyme.

Der fabelhafte Trailer lügt deshalb ein Werk vor, das keiner zu sehen bekommen wird. Einen Film, in dem die unendlichen Möglichkeiten der menschlichen Vorstellungskraft erkundet werden, in dem Paris auf den Kopf gestellt wird, nur weil ein Geist es so befiehlt. Die entsprechende Szene in “Inception” ist dabei nichts anderes als ein überflüssiger Augenschmaus. Ellen Page darf als Architektin der Traumwelten beweisen, was sie drauf hat. Da verbringen die Gedankendiebe sozusagen ein paar Minuten in Q’s Labor. Da werden die Schauwerte angedeutet, bevor das eigentliche Abenteuer losgeht. Für den Rest des Films ist Ariadne (Page) nicht dafür zuständig, den traumatisierten Dieb Cobb (Leonardo DiCaprio) durch ein Labyrinth in die Freiheit zu führen, wie es ihr Name suggeriert. Sie führt uns, die Zuschauer, ein in die Regeln der Inception und hilft mit ihrer endlosen Fragerei, den überladenen Plot und das Vokabular dieser seltsamen Profession zu verstehen. Wie Page werden auch die meisten anderen Darsteller als Randfiguren verschwendet; ganz einfach weil ihnen kein Charakter geschenkt wird. Einzig Tom Hardy als Fälscher innerhalb der Diebesbande kann hier seine eindrucksvolle Visitenkarte hinterlegen und empfiehlt sich als Actionheld, der all das besitzt, was einem wie Sam Worthington fehlt.

Doch reden wir nicht weiter von Schauspielern, denn um die geht es weder Nolan noch seinem Drehbuch. Was “Inception” in meinen Augen am meisten schadet, ist seine Ausgangsidee: Dass man Träume soweit konstruieren kann, bis ihr künstliches Wesen nicht mehr von der Realität mit all ihren Einschränkungen zu unterscheiden ist. Nur so kann die Diebesbande um Cobb Gedanken stehlen und Ideen in einen fremden Geist implantieren. Kontrolle ist das Stichwort. Die Kontrolle – so schreit das Drehbuch von allen Ecken und Enden – entgleitet Cobb, da sich die Erinnerungen an seine verstorbene Frau (verführerisch wie immer: Marion Cotillard) in seine Arbeit drängen. Die Kontrolle lässt sich der Film-(Traum-)Architekt Nolan jedoch niemals wirklich aus den Händen nehmen. Irrationalität oder Surrealität, die unvorhersehbare Aufhebung der Naturgesetze in absurden Situationen –  eben die Mitbringsel des Unbewussten – werden entweder vollständig ignoriert oder auf den Trainingsplatz verbannt. Stattdessen erstickt “Inception” all jene faszinierenden Fragen und Geheimnisse um die Funktionsweise des menschlichen Geistes in der langweiligen Ästhetik eines Actionthrillers. Dessen Gesetze verlangen es schließlich so. Diese zu brechen, hieße ein paar Steine aus der Dominokette einfach an einen anderen Ort zu stellen. Sich auch nur im entferntesten der Gefahr zu stellen, das ganze minutiös aufgebaute Kartenhaus mit Namen “Inception” in sich zusammenfallen zu lassen, ist nicht Nolans Sache. Vielleicht will er es nicht. Vielleicht kann er es gar nicht.

Kontrapunkt: Die Filme von Christopher Nolan

Dieser Regisseur hat einen kometenhaften Karriere-Aufstieg zu verzeichnen: Christopher Nolan. Von der New York Times als „blockbuster auteur“ bezeichnet, gelang es ihm insbesondere durch seine beiden „Batman“-Filme, kommerziellen Erfolg und inhaltlichen Anspruch miteinander zu vereinen. Eine Kombination im hollywood’schen Mainstream-Kino freilich, die selten ist.

Dabei hat Nolan auch einmal klein angefangen, mit einem merkwürdigen Kurzfilm namens Doodlebug. Darin verfolgt ein verängstigter Mann in einem heruntergekommenen Zimmer Ungeziefer, welches er erschlagen will. Wie sich herausstellt, ist das Ungeziefer eine kleinere Ausgabe von sich selbst, desselben Mannes in einer anderen raumzeitlichen Dimension, die durch serielle Wiederholung derselben Tätigkeit(en) gekennzeichnet ist. Dieser Riss im Raum-Zeitgefüge bleibt unerklärt, was diesem kafkaesken Schwarz-Weiß-Film beinahe schon experimentelle Züge um das Spiel mit der (Kamera-)Perspektive verleiht.

Der Übergang zum zweifelsohne narrativen, aber zugleich die standardisierten Sehgewohnheiten aufbrechenden Film gelang Nolan dann mit Memento, auch wenn er sich noch nicht thematisch wie formalästhetisch (zum Teil wieder schwarz-weiß) von seinem Kurzfilm löste. Auch hier greift er den Riss im Raumzeitgefüge wieder auf, macht ihn gar zum zentralen Gegenstand der achronologisch erzählten Story, doch legitimiert er dies durch eine Schädigung des Kurzzeitgedächtnisses der Hauptfigur. Leonard Shelby (gespielt von Guy Pearce) hat darin kein Zeitgefühl, kann Zeit nicht empfinden, weil er nach einigen Minuten nicht mehr weiß, was gerade geschehen ist. Sein Leben ist durch seine eigene Zeitwahrnehmung episodisch strukturiert (so auch der Film) und zirkuliert in ewig gleichen Handlungsmotivationen. Er sucht den Mörder seiner Frau, einen Mann namens „John G.“, immer wieder. Auch wenn er ihn gefunden und ermordet hat, wird dies wieder zu seinem Lebensziel, sobald ihn sein „Zustand“ dieses Ereignis vergessen lässt. Shelbys Leben in seiner abgeschotteten, nach eigenen Regeln funktionierenden Gedankenwelt, die sich von jener der Lebensumwelt drastisch unterscheidet, ist in serieller Wiederholung organisiert, ein abgeschlossenes System im System.

Ähnlich lässt sich auch die durch Halluzinationen geprägte Wahrnehmung von Will Dormer (Al Pacino) in Insomnia deuten, die anders als seine Kollegen und die der Bewohner Alaskas funktioniert. In seinem Kopf konvergieren Traum und Realität, Vorsätzlichkeit und Fahrlässigkeit beim Tod seines Kollegen, im Film metaphorisch dargestellt durch das Grün der Natur (Leben) und Eis (Tod), welche beide nebeneinander existieren, miteinander. Der Film lebt von diesen dualistisch aufgeladenen Schauplätzen und es ist bezeichnend, dass die Schlüsselszenen des Films im Nebel stattfinden, welcher die vernebelte Wahrnehmung und die aufgewühlte Gedankenwelt Dormers exemplifiziert.

Diese Gedankenwelt ist in Inception ein zentraler Bestandteil. Sie wird von Dom Cobb (Leonardo Di Caprio) und seinen Kollegen im Unterbewusstsein eines Träumenden um Ideen bestohlen oder neu angeordnet, indem eine neue Idee ins Unterbewusstsein implementiert wird. Nolan präsentiert dabei atemberaubende Bilder der Schwerelosigkeit und Zeitlupen, die allesamt durch die Traumlogik motiviert sind. Ähnlich „Memento“ und Prestige (Dreiteilung eines Zaubertricks; auch der Film hält am Ende einen überraschenden Twist bereit) wird auch bei „Inception“ das Sujet auf die Struktur des Films übertragen. Dass für Cobb die Grenzen zwischen Traum, Erinnerung und Realität verschwimmen, wird für den Zuschauer durch das wiederholten Hin- und Herspringen zwischen mehreren Traumebenen und dem daraus folgenden Overkill in den Erzählsträngen deutlich. Er erhält einen Einblick in die Funktionsweise der Traummanipulation – stets konfrontiert mit dem Zweifel, ob er seinen Augen trauen kann. Und auch hier wird wieder die philosophische Frage gestellt, ob eine Welt außerhalb der eigenen Gedanken existiert oder einen Wert hat. Das kann man auch als eine Allegorie auf das Filmemachen verstehen: Ohne diese im Innern reifenden Ideen, nur durch die perspektivlose Abbildung der äußeren Welt entstehen keine Spielfilme.

Nolan spielt mit diesen psychologischen Themen. Alle Figuren sind ausgestattet mit einem Makel in den kognitiven Fähigkeiten. Er stellte gar Fragen um die moralische Befindlichkeit eines gebrochenen Helden und einer von Verbrechen erschütterten Stadt, als er sich der Frischzellenkur des „Batman“-Comicuniversums annahm. Stets anspruchsvoll, aber unterhaltsam, stets mainstreamtauglich, aber mit Mut zu außergewöhnlichen Themen. Da freut man sich schon auf Nolans nächsten „Batman”-Film.

Meine detailliertere Besprechung von „Inception“ findet ihr auf MovieMaze.de.

The Dark Knight (USA 2008)

Als Charles Lindbergh am 21. Mai 1927 nahe Paris seine Spirit of St. Louis sicher auf europäischem Boden landete, wurde der Mittzwanziger aus Detroit über Nacht ein amerikanischer Held. Noch rund 80 Jahre später wird er vom Time Magazine in der Liste der 100 wichtigsten Personen des 20. Jahrhunderts in der Kategorie “Heroes and Icons” neben Mutter Theresa, Anne Frank und Rosa Parks geführt. Eine postume Ehrung, der auch Lindberghs latenter Antisemitismus nichts anhaben konnte. Lindbergh, der mit seinem Nonstop-Flug über den Atlantik als ein legendäres Beispiel für die Bezwingung natürlicher Hindernisse durch Erfindungsgeist und Abenteuerlust des Menschen in die Annalen der Geschichte einging, ist nur einer unter vielen heroischen Mythen der amerikanischen Nation. Angesichts der Entwicklungsgeschichte der USA ist es keine Überraschung, dass die amerikanische Gesellschaft zuweilen ein aus europäischer (und besonders deutscher) Sicht fast schon naives Verhältnis zum Heldentum hegt.

Vielleicht kann auch nur ein Land, dessen Sendungsbewusstsein tief geprägt vom Manifest Destiny ist, Herkunft des modernsten aller Heroen sein, des Superhelden. Dessen klassische Vorbildfunktion als selbstloser Verfechter von Recht und Ordnung liegt schließlich nicht allzu fern von der mit dem Schicksal verknüpften Vorstellung des “American Exceptionalism“. Kurz gefasst versteht man darunter die auf der ursprünglich moralischen Überlegenheit der jungen Demokratie gegenüber den tyrannischen Monarchien des Alten Europa basierende, quasi-religiösen Vorstellung, die Neue Welt sei der Boden einer außergewöhnlichen, weil guten, stabilen, egalitären Gesellschaft.

Ihr heutiger Status als Weltpolizei, die eine Achse des Bösen ausgemacht hat und ihr in einem Kreuzzug für Demokratie entgegen geschritten ist, trägt noch immer die Vorstellung puritanischer Siedler in sich, ein Modell, ein Vorbild für den Rest der potenziell verkommenen Welt zu sein. Ist man Verfechter der durchaus zweifelhaften Vorstellung, Filme spiegelten immer auch den Zeitgeist wieder, liegt die Argumentation daher nahe, dass der Boom amerikanischer Comicverfilmungen seit der Jahrtausendwende – nehme man Bryan Singers “X-Men” als Ausgangspunkt – diesen seltsamen Ur-Instinkt, diesen anscheinend verstärkten Wunsch nach Vorbildern und Helden besonders gut zu befriedigen weiß. Anders gesagt: Fault das Selbstbewusstsein einer Gesellschaft vor sich hin, tun Superheldenfilme dem Verlangen nach heldenhafter Kompensation Genüge.

Dieser Logik widerspricht natürlich der unverkennbare Anachronismus einer Figur wie Superman in heutiger Zeit. Zumindest in der von (wieder einmal) Bryan Singer in “Superman Returns” realisierten Form wirkt dieser ideale Mann aus Stahl, stellt man ihn neben moderne Modellen wie Wolverine oder Spiderman, doch leicht angerostet. Spätestens seit den Achtziger Jahren überwinden bevorzugt komplexe Normalos und Anti-Helden die Schwelle zum Superhelden, weil sie trotz ihrer diversen Schwächen und unzähliger Versuchungen den steinigen Weg zur Verbesserung der Gemeinschaft gehen, der ein Scheitern nicht ausschließt.

Auch Batman ist in diesem Sinne keine Lichtgestalt mehr, die allein durch ihre Tugenden und guten Taten zum idealen Fixpunkt einer sich nach einem Retter sehnenden Stadt wird. Einen ur-amerikanischen Helden wie Superman hätte Gotham City nämlich nicht verdient. Darauf läuft zumindest Christopher Nolans The Dark Knight hinaus. Akzeptiert man nun die Zeitgeist-Theorie oder nicht, der neue Batman kann leicht als eine Allegorie auf die USA nach dem 11. September gelesen werden. Der bereits angedeutete Glaube der Bush-Administration an die Rechtmäßigkeit der eigenen Mission wurde ausgehöhlt durch die eingesetzten Mittel, die dem Vorbildcharakter des amerikanischen Rechtsstaates widersprachen. Wenn Bruce Wayne alias Batman (Christian Bale) also den Bösewicht zusammenschlägt, um an für die Rettung Unschuldiger notwendige Informationen zu gelangen, geht dem Kritiker das Herz auf bei all den wunderbaren Parallelen, die sich zur weiteren Analyse anbieten.

Reduziert man jedoch den Film vorerst auf das wesentliche, ist “The Dark Knight” ein äußerst spannender Thriller, der es in der zweiten Hälfte tatsächlich schafft, die immensen Erwartungen weitgehend zu erfüllen. In Zusammenarbeit mit dem Polizist Jim Gordon (Gary Oldman) zieht der Fledermausmann auch diesmal wieder gegen das organisierte Verbrechen zu Felde. Letzteres gerät jedoch in Unordnung durch einen mysteriösen Soziopathen, den Joker (Heath Ledger). Bezirksstaatsanwalt Harvey Dent (Aaron Eckhart), der Gotham ganz vom verbrecherischem Unrat befreien will, gerät bald zu dessen Zielscheibe. Dumm nur, dass Dent ausgerechnet mit Rachel Dawes, der Ex-Freundin von Bruce Wayne, ausgeht.

Als Superheldenfilm besticht “The Dark Knight” durch eine gewagte Interessenverlagerung, die Bruce Wayne mitsamt seiner moralischen Skrupel mehr oder weniger der Faszination rund um die Figur des von Ledger erschreckend intensiv porträtierten Jokers opfert. Christian Bale, dem es leider am sinisteren Charme eines Michael Keaton mangelt, wird vom Drehbuch anders als in “Batman Begins” eine zutiefst undankbare Rolle maßgeschneidert. Den Millionär und Frauenheld Wayne schüttelt Bale locker aus dem Handgelenk, die sich hinter dem Image verbergenden inneren Konflikte werden dagegen zu selten ausgebreitet. Vielleicht war das nach dem in dieser Hinsicht zu ergiebigen Batman Begins eine bewusste Wahl Nolans. Bahnen sich vermeintlich emotionale Momente an, wählt der Regisseur lieber die bedeutungsschwere Pose Batmans, als den Blick ins Innenleben Waynes.

Als Fehlentscheidung stellt sich die Wahl nicht heraus, weil andere Figuren die nötige Persönlichkeit ins Spiel bringen, um “The Dark Knight” zu mehr als nur einem kühlen Actionthriller zu machen. Herauszuheben sind hierbei zum einen Gary Oldman, einer der auffälligsten Casting Coups schon im letzten Film. Endlich mal dem Typecasting entgehend, ist Oldmans Jim Gordon der Inbegriff einer Anständigkeit, die einem auf der Straße begegnet, nicht im Latex-Kostüm.

Eckharts Harvey Dent ist ebenfalls ein Bild der Rechtschaffenheit, besitzt mit seinen leuchtend blonden Haaren, dem eckigen Kinn und dem unvermeidlichen Grübchen aber das Äußere eines All American Guy, der mit Leichtigkeit die Herzen von Gothams Bevölkerung erobert. Schon früh deutet eine gewisse Rücksichtslosigkeit gegenüber seiner eigenen Person glaubhaft Persönlichkeitsmuster an, die spätere Wandlungen schlüssig erklären helfen.

Über allem liegt der Schatten des Jokers und damit Heath Ledgers “Vermächtnis” als Schauspieler, der zweite Casting Coup der Reihe. Schon in Tim Burtons “Batman” verblasste neben der übermächtigen Performance Jack Nicholsons jedes andere Ensemblemitglied. “Scenery Chewing” betreibt Ledger nicht in diesem Maße. Sein Joker ist zwar ein geschminktes Scheusal, wirkt aber realistischer als Nicholsons grinsender Cartoon-Bösewicht.

Dieser Joker ist auch nicht das Böse, sofern man an die Existenz desselben glaubt. Ledger spielt das nihilistische Chaos, das menschliche Gestalt angenommen hat. Der Joker hält Gotham vielleicht keinen Spiegel vor, verkörpert allerdings ein Element, das trotz aller Bemühungen aus dem Leben nicht auszuschließen ist. Er bedroht die Stabilität, drängt die Gemeinschaft in eine Extremsituation, die unliebsamer Entscheidungen bedarf.

Diese aus dem Nichts kommende Naturgewalt ist das genaue Gegenteil von all den ach so sympathischen Bösewichten des Marvel-Filmuniversums wie Magneto, Harry Osborne und Doc Octopus, deren Schritt zur ‘Dunklen Seite der Macht’ ausführlich dokumentiert und mit einem nachvollziehbaren Motiv versehen wurde. Ledgers Joker ist eine willkommene Abwechslung, ein Schurke ohne Herkunft, ohne gewöhnliches Motiv, ohne Gewissenskonflikt. Es ist eine Interpretation, die so erfolgreich ist, dass jeder spätere Schauspieler um die Übernahme der Rolle nicht beneidet werden kann. Dabei bleibt ein Wermutstropfen, dass man von Ledger selbst hier absolut nichts sieht.

Wenn der Joker nun das sprichwörtliche Flugzeug ist, das in ein Hochhaus rast, die Bombe, die in einem vollbesetzten Bus hochgeht und all die schönen Bedeutungsebenen sich in der letzten dreiviertel Stunde zu einem festen Knoten verbinden, der den Film als etwas Großes im Bauchgefühl des Zuschauers zurücklässt, warum gehört er nicht in die Top Ten der IMDb? Gotham sieht eben ziemlich nett aus. Nachteilig für diesen Eindruck ist, dass man die Stadt oft aus Sicht von Penthouse-Apartments und Büros in sauberen Hochhäusern erblickt. Das soll hier kein Plädoyer für das Gothic-Ambiente eines Tim Burton sein, doch unverkennbar ist der Mangel an einer Atmosphäre, welche die verheerenden Wirkungen des organisierten Verbrechens und damit das Bedürfnis nach einer rettenden Lichtgestalt plausibel spürbar macht.

Natürlich, Batman hat aufgeräumt, Harvey Dent auch, doch bei einem Film, der soviel darüber diskutiert, welche Art von Held eine Stadt verdient, welches Vorbild sie braucht, fehlt “The Dark Knight” schlicht der Standpunkt von Gotham selbst. Christopher Nolan schafft es wunderbar, die Aktionen und Reaktionen seiner Hauptfiguren, und deren persönliche Entwicklung in einem wasserdichten Plot unterzubringen. Der atmosphärischen Darstellung gesellschaftlicher Dynamik geht er zu Ungunsten des Films aber aus dem Weg.

Es fehlt das Gefühl einer allgegenwärtigen Bedrohung, die auch existieren sollte, wenn der Joker nicht im Bild ist. Es fehlen die Zersetzungserscheinungen, welche die von Nolan angestrebten zeitgeschichtlichen Referenzen und eben auch Allegorien auf das Amerika von heute mitsamt der Folgen des neokonservativen Kreuzzuges prägnanter auf den Punkt gebracht hätten. Ungeachtet der politischen Haltung des Filmemachers wäre Nolans Gotham ein bisschen mehr Vision gut bekommen.

Auch dieser Batman ist ein amerikanischer Held. Einer, der kaum zum Vorbild taugt, schließlich sind in der Nacht alle Katzen (und Fledermäuse) grau. Anscheinend spricht dieser Mann ohne Superkräfte, der die Hydra des organisierten Verbrechens aus dem Schatten heraus mit High Tech-Waffen bekämpft, den Post-9/11-Zeitgeist treffsicherer an, als ein Alien, das als Messias-Figur auf die Erde kommt und mit nur einer Schwäche belastet, die lächerlichen Pläne seiner von vornherein unterlegenen Gegner zermalmt. Vielleicht ist The Dark Knight aber einfach “nur” ein guter Film.


Zum Weiterlesen:

Eine Auswahl an Kritiken zum Film von Kollegen aus der Blogosphäre:

Blockbuster Entertainment

Kino, TV und Co. (inkl. Kritikerspiegel! Fleißig, fleißig…)

Sneakcast.de

Es gibt auch Menschen, die dem Film nicht 9 oder 10 Pünktchen geben.

Einen wiedermal lesenswerten Artikel zur Frage, ob Comicverfilmungen etwas mit dem Zeitgeist zu tun haben und was denn dagegen spricht, hat David Bordwell auf seinem Blog veröffentlicht. Seinen auch für Hobby-Filmwissenschaftler unterhaltsamen Schreibstil gibt’s gratis dazu.

Zu guter Letzt wird die Frage beantwortet: Wer sind denn die 99 anderen “wichtigsten Personen des 20. Jahrhunderts“?