Letztes Jahr in Marienbad (F/I 1961)

Memory’s a bitch. Erinnerungen brechen herein in den Alltag, wenn man sie am wenigsten braucht. Ein ganzes Leben lang verfolgen einen die Schlechten und die Guten muss man jeden Tag aufs neue vor dem Treibsand des Vergessens bewahren. Wie ein Puzzle drohen sie zu zerfallen, verschwinden einzelne Teile auf nimmer Wiedersehen, muss der Rest in  einem unaufhörlichen Kreislauf immer wieder neu zusammengesetzt werden. Denn Erinnerungen, das sind Rückzugsorte und Versicherungen der eigenen Identität samt ihrer Vergangenheit. Wenn materielle Begleiter ihr Ablaufdatum längst erreicht haben, vergehen oder ersetzt werden, ermöglicht das Gedächtnis die Kontinuität zwischen Vergangenheit und Gegenwart. Dabei beherbergt es die ultimative Subjektivität. Ist das Puzzle einmal neu zusammengesetzt, wird das Bild schließlich nicht zwangsläufig dasselbe sein.

Es mag verwegen klingen, aber Alain Resnais hat das Gedächtnis verfilmt. Mit all seinen Manipulationsmöglichkeiten, surrealen Überraschungen und der stets hervorlukenden Unberechenbarkeit eines Vierjährigen, der einem in der Bahn gegenüber sitzt, während man verzweifelt versucht, sich auf ein Buch zu konzentrieren. Das ist jedoch nur eine Deutung von Letztes Jahr in Marienbad, was zugleich die Frage beantwortet, warum der Film von nicht wenigen leidenschaftlich gehasst und als prätentiös bezeichnet wird. Alternativer Untertitel: Alles, was wir am “Kunstkino” hassen.

Resnais hat zugegebenermaßen einen schweren Film gedreht, das reinste Rätsel, rafft der Zuschauer sich nicht auf, um für sich selbst Bedeutung in die Sache zu bringen. Ein Verwirrspiel der absoluten Relativität von Realität, welches so perfekt ineinander greift, so – das spürt man bei Anblick der 94 Minuten – konsequent durchdacht und konzipiert wurde, dass es als sinnlos abzutun, nur ein Symptom geistiger Faulheit wäre.

Der Film ist eine Herausforderung, alle Erwartungen, jede Vorstellung filmischer Konventionen hinter sich zu lassen. An der Oberfläche: Ein Mann, der eine Frau überzeugen möchte. Sie hatten vor einem Jahr eine Affaire, sagt er, in Marienbad. Vielleicht war es auch woanders. Sie erinnert sich nicht an ihn, doch er gibt nicht auf. Das alles in einem barocken Schloss samt geometrisch massakriertem Garten und teilnahmslosen Gästen. Sie reden aneinander vorbei, blicken ins Leere. Vielleicht sind sie Geister, vielleicht spielen sie aber auch gar keine Rolle,  außer jener der leblosen Staffage der Erinnerung.

Lebendigkeit scheint X (Giorgio Albertazzi) ihr einzuhauchen, mit jedem Überredungsversuch ein bisschen mehr. “Wir waren da und da, sie haben das und das getan”, hört man in Variationen aus dem Off, selbst wenn sich im Bild ein anderes Ereignis abspielt. Später wird man es einordnen können, denn passende Bilder sind tatsächlich vorhanden. X’ Gedächtnis neigt nur hin und wieder zur Asynchronität. Das ist es, was man sieht: Sein Versuch, die Erinnerungen, welche er von A (Delphine Seyrig) besitzt, umzuformen, bis der Ausgang der Affaire ihn zufriedenstellt. Ständig verzweifelt das “Nein, so ist es nicht gewesen, es war anders!” bis sich seine Version des Ablaufs durchsetzt.

Die klare Trennung zwischen Vergangenheit und Gegenwart, selbst die Einheit von Zeit und Raum hebt Resnais in “Letztes Jahr in Marienbad” auf und bis man in den Film findet, ist das Gefühl eines kühlen Experiments voller Stillleben und quälend langer, diffuser Kamerafahrten nur schwer abzuschütteln. Jedoch nicht nur eine abstrakte Idee, ausgebreitet auf Spielfilmlänge ist sein Werk, vielmehr ein reichlich menschlicher Film, der ein wesentliches Phänomen unseres Daseins in bewegte Bilder zu fassen sucht.

Auf technischer Ebene brillieren die Macher. Labyrinthisch führt Sacha Vierny den Blick durch die prunkvolle Sterilität der Gänge, als würde es sich um die Windungen eines Gehirns handeln. Kombiniert werden die Bilder virtuos, denn X springt von Moment zu Moment. Manchmal ist es auch nur der Hintergrund, der sich wandelt, so als sei er sich selbst nicht mehr sicher, wo das Gespräch nun wirklich stattgefunden hat. Doch ein “wirklich”  gibt es in  diesem Film ja sowieso nicht. Selten drängt sich die Montage derart invasiv ins Filmerlebnis und wo danach oft nur die prätentiös verschleierte Leere vorherrscht, ist diesem und den anderen Stilmitteln Resnais’ problemlos ein Motiv für die Auswahl zuzuordnen.

Letztes Jahr in Marienbad ist kein Erzählkino, denn Erinnerungen kommen selten mit einer gewöhnlichen continuity im Handgepäck. Der Film wird vor unseren Augen von X konstruiert. Allerlei Umwege und Einbahnstraßen müssen dabei eben in Kauf genommen werden. Nichts ändert das an der Tatsache, dass Resnais jedem, der will, eine einzigartige Erfahrung bereitstellt. Alles, was zu tun bleibt, ist auf Play zu drücken.

Aber vielleicht war es ja auch ganz anders.

Public Enemy No. 1 – Todestrieb (F/CDN 2008)

Public Enemy No. 1 - TodestriebEin bisschen stieg das Gefühl eines Déjà-vu-Erlebnisses in mir auf, als ich letzte Woche in der Spätvorstellung des zweiten Teils der Biografie von Jacques Mesrine saß. Oder war es ein Fehler in der Matrix? Wohl kaum, denn da war er wieder, der Verbrecher gespielt von Vincent Cassel, der in Frankreich Banken ausraubt, ins Gefängnis kommt, ausbricht, einen neuen Kompagnon trifft, der von einem französischen Star gespielt wird (Mathieu Amalric), sich mit ihm überwirft, eine hübsche Freundin findet, die von einem französischen Star (Ludivine Sagnier) gespielt wird, sich mit ihr streitet, ein Casino ausraubt, jemanden entführt usw. Natürlich läuft das alles nicht in dieser Reihenfolge ab und ich kann Regisseur Jean-François Richet nicht vorwerfen, einzig die Handlungsstationen des Vorgängers noch einmal mit anderen Frisuren zu wiederholen. Doch da saß ich eben im Kino und wunderte mich, warum in “Mordinstinkt” all die obigen Elemente noch relativ frisch gewirkt hatten und das vergleichbar flotte Tempo von “Todestrieb” im Gegensatz dazu hin und wieder zur Ermüdung führte. Plötzlich nervten etwa die verwackelten Actionszenen, welche in der ersten halben Stunde die Exposition ersetzen und damit den Einstieg in den Film auch nicht gerade erleichtern.

Das soll nicht heißen, Public Enemy No. 1 – Todestrieb leide im Vergleich zum Vorgänger an einem rapiden Qualitätsverlust. Beauftragt, die hohe Ereignisdichte von Mesrines Biografie als homogene, zweiteilige Erzählung auf die Leinwand zu bringen, versuchen Richet und sein Drehbuchpartner Abdel Raouf Dafri alles, um sowohl erzählerische Motive aus dem Vorgänger im zweiten Teil zu variieren, als auch Mesrines Transformation zum Public Enemy No. 1, den Wandel vom Mordinstinkt zum Todestrieb des gewalttätigen Robin Hood-Verschnitts glaubhaft zu machen. Im Zusammenspiel mit den Medien kommt Mesrines eitle Großmannssucht zum Tragen. So entführt er einen Journalisten, der ihn in einem Artikel beleidigt hat, prahlt in seiner Autobiografie mit Morden, welche er nicht begannen hat und führt, wenn er gerade nicht irgendetwas ausraubt, Interviews wie jeder andere Celebrity.

War Mordinstinkt noch vom Hintergrund des Algerienkriegs und dem Niedergang der französischen Kolonialmacht in den Anfangsjahren der Fünften Republik geprägt, macht der Terror in den Nachbarländern Mesrine in den Medien nun Konkurrenz. In demselben Maße wie es in den Siebzigern zur Radikalisierung von Teilen der Linken kommt, scheint Mesrine selbst zum verzerrten Spiegelbild seiner Außenwelt zu werden. Richets ambivalente Herangehensweise schwankt hierbei jedoch immer wieder zwischen der Entlarvung seiner grenzenlosen Brutalität und der Bewunderung des schelmischen Banditen, stets erfolgreich in seinen Versuchen, der Staatsmacht ein Schnippchen zu schlagen. Bis diese selbst alle Zügel der Legalität fahren lässt.

Das Leben Jacques Mesrines als Allegorie auf RAF, Rote Brigaden und Co.? Nur stellenweise wird diese Deutung dem Film gerecht, sind doch seine schon im Vorgänger angedeuteten, rar gesäten Motive  – z.B. die Schließung von Hochsicherheitsgefängnissen – einigermaßen halbgar aufbereitet, kaum ernst zu nehmen und meistens in der irrationalen Blase gefangen, in der sich auch der Instinktmensch Mesrine bewegt. Todestrieb ist in erster Linie die Charakterstudie eines sich zunehmend in seinen Taten verlierenden Raubtieres, welches recht früh erkennt, dass es aus der Falle, die sein Leben ist, kein Entkommen gibt und sich daraufhin immer tiefer in ihr verfängt.

Trotz der in der zweiten Hälfte überaus spannenden Kost bleibt die Frage im Raum stehen, ob dem Leben und Sterben des Jacques Mesrine nicht auch ein einziger Film gerecht geworden wäre. Ein bisschen weniger Déjà-vu, ein Tick mehr Mut zur erzählerischen Lücke, überhaupt die Fähigkeit eine Lebensstation wegzulassen, wenn sie dem Bild Mesrines nichts neues hinzufügen kann – die Erfüllung dieser Wünsche verweigern uns die Macher. Da beide Teile, “Mordinstinkt” und “Todestrieb”, sich in Ton und Atmosphäre nicht  – wie etwa “Kill Bill 1+2” – fundamental voneinander unterscheiden, vielmehr an ihren Enden einander überlappen, hätte ein beherzter Cutter dem Ganzen durchaus gut getan. Abgesehen davon hat ein Film William Wellman, Howard Hawks und deren Kollegen doch auch gereicht.


Zum Weiterlesen:
Public Enemy No. 1 – Mordinstinkt

Che – Revolución (USA/E/F 2008)

Ein Handwerk, das ist die Revolution. Man übt diesen Job eben aus. Die Bezahlung? Für die einen vielleicht der Sieg. Für die anderen die Selbstverwirklichung in der konkreten Tat. Die quälende Wanderung durch den Dschungel, die sich stetig wiederholenden, motivierenden Reden vor der Truppe. In ihrer Ritualisierung stehen sie den ausgiebig eingefangenen Begrüßungen zwischen den Revolutionären in nichts nach. Zwei Kompanien treffen sich wieder. Che geht die Reihen durch, jeden seiner Kameraden umarmt er. Äußerlich wohl ein Zeichen der Freundschaft, ist das alles Teil des Jobs. So wird der Zusammenhalt innerhalb der Truppe sichergestellt, wie auch der für das Gelingen der Revolution unabdingbare Rückhalt in der Landbevölkerung mit der persönlichen Geste, dem Handschlag, zementiert wird. Wieder muss unter den Bewerbern aussortiert werden. Wieder die Fragen: Wer hat eine Waffe? Wer kann lesen und schreiben? Wie alt seid ihr? Die Revolution als Fließbandarbeit, welche sich durch immer gleiche Handgriffe und Gesten auszeichnet.

Che – Revolución ist kein Drama, kein Biopic, sondern unbeteiligte Beobachtung. Stirbt einer der bewaffneten Kämpfer, verweigert der Film die Stilisierung des Moments als tiefen Einschnitt in der Geschichte, denn es gehört eben dazu, genau wie das Nachladen, das Schwitzen und das Warten. Eine ‘Geschichte’ will “Che” wohl auch gar nicht erzählen, denn es fehlt die gewöhnliche Dramaturgie, dank der Abwesenheit von konstruierten Höhe- und Wendepunkten. “Che” erzählt nicht, es wird stattdessen der Ablauf der Revolution beobachtet, inbegriffen die Distanzierung und tendenzielle Unübersichtlichkeit, die solch ein filmisches Vorgehen eben mit sich bringt. Wann immer – das ist glücklicherweise selten – der Film in Versuchung gerät von der Unpersönlichkeit abzuweichen, stechen ein paar Sekunden oder wenige Minuten grell heraus aus dem atmosphärisch unterkühlten, selbst in seinen bunten Phasen wie ein schwarz-weiß-Film wirkenden Prozedere.

Über Motive will man etwas erfahren und über die Psychologie hinter dem Mythos, der in den letzten Jahrzehnten zur rot-schwarzen Schablone verkommen ist. Wie tickt denn so ein Großer der Geschichte? Wenn auch viel geredet wird über die Grundlagen einer Revolution und des Guerilla-Krieges, ist das Bild des schwer atmenden, von einem Asthma-Anfall geplagten Revolutionärs auf seinem mühsamen Weg durch die Sierra Maestra an Aussagekraft über sein Dasein unübertroffen. Tiefschürfende Psychologisierung wäre in den 134 Minuten nur ein störender Fremdkörper. Warum geht Che nach Kuba? Er will die Welt verändern. Hat er es geschafft? Ja. Wie ist’s abgelaufen? Schaut es euch an.

Benicio Del Toros Che ist ein charismatisches Konglomerat aus ideologischen Grundsätzen und Taten. Es ist nicht das Abziehbild der Ikone, kein vom Sockel gestürzter erbärmlicher Schatten und erst recht nicht der posierende Held, dem man dramaturgisch manipuliert zujubelt, mit dem man sich – wie sagt man so schön – ‘identifiziert’. Er ist ein Revolutionär, der seiner Arbeit nachgeht und revolutioniert. Er kämpft, redet, hustet, verhandelt und befolgt die Befehle seines Vorgesetzten, Fidel Castro. Noch erreicht er sein Ziel, doch irgendwann im zweiten Teil dieser Produktionshistorie, wird das Fließband stocken, wird er beim Zusammensetzen seiner zweiten Revolution nicht hinterher kommen und schließlich ins Leere greifen. Nach Che – Revolución will ich das Scheitern im Job auch sehen.

Die Roten Schuhe (GB 1948)

Das abgelegene Kloster im Fantasie-Himalaya in “Schwarze Narzisse”, der schwarz-weiße Himmel, den eine symbolische Treppe mit der Welt der Lebenden in “Irrtum im Jenseits” verbindet und die Untiefen der Psyche des Serienmörders Mark, welche in “Peeping Tom” ergründet werden.

Mit und ohne seinen Partner Emeric Pressburger ist die Realität, in die Michael Powell seine Figuren versetzt, oft genug relativ. Zwischenwelten tun sich da plötzlich auf, gegen deren häufig fatalen Sog sich die Männer und Frauen erwehren müssen, mal erfolgreich, mal zum Nachteil der eigenen geistigen Gesundheit.

In Die Roten Schuhe ist es die Kunst. Sie droht die Ballerina Vicky (Moira Shearer) zu entführen aus dem wirklichen Leben, das zunehmend außer Reichweite gerät. Vickys Traum geht in Erfüllung als sie der berühmte Impresario Boris Lermontov (Anton Walbrook) in sein Ensemble aufnimmt. Bald spielt sie die Hauptrolle in Andersens “Die Roten Schuhe” und wird vom Publikum gefeiert. Vicky verliebt sich in den aufstrebenden Komponisten Julian Craster (Marius Goring), doch der obsessiv veranlagte Lermontov, dem das Ballett alles, das Leben nur ein Störfaktor ist, stellt sie vor die Wahl: Entweder sie gibt die Beziehung auf und wird zum Star der Ballettwelt oder die Arbeit im Ensemble – ihr Traum – ist für sie Geschichte.

Die roten Schuhe trägt Vicky streng genommen schon bevor sie von ihrem Mentor entdeckt wird. Auf die Frage, warum sie tanze, antwortet  sie schließlich herausfordernd “Warum leben sie?”. Die wunderbaren Schuhe, die das Mädchen in Andersens Märchen dazu zwingen, bis zur Erschöpfung, bis zum Tode weiter zu tanzen, ihr Rot hat man vor diesem Film noch nie gesehen.  In seiner fatalen Verführungskraft erinnert es an den Lippenstift, den sich die verrückt werdende Schwester Ruth im Finale von Schwarze Narzisse über die Lippen zieht. Es ist dort die Verlockung der Sinnlichkeit, hinter der sich Abgründe einer unrettbar verlorenen Seele verbergen. Es ist hier die Verheißung von Ruhm, Ehre und dem vollkommenen Aufgehen  und Verlust des Selbst in der künstlerischen Tat.

Powell und Pressburger waren Magier in der Komposition von Farbe und Bild, nicht zuletzt dank ihres Kameramanns, dem im April verstorbenen Jack Cardiff und in “Die Roten Schuhe” haben sie sich in formaler Hinsicht selbst übertroffen. Den visuellen wie künstlerischen Höhepunkt nicht nur dieses Films, sondern des Tanzfilms generell, bildet die rund 17-minütige Erzählung der Geschichte-innerhalb-der-Geschichte – die Aufführung der “Roten Schuhe”. Das konventionelle Abfilmen der Bühnengeschehnisse, die daraus resultierende fundamentale Trennung zwischen der Erzählebene im Stück und derjenigen des Films überwinden P&P, in dem sie zunächst wie schon Busby Berkeley bei seinen Musicaleinlagen, das Kameraauge von der Zuschauerperspektive befreien und mitten auf der Bühne platzieren. Daraus folgend wird die Geschichte des Märchens in der Diegese (der Filmwelt) als gleichwertig behandelt. Anders gesagt: Die Fesseln des Theaters werden abgelegt.

Dank noch heute beeindruckender Special Effects eröffnet sich ein Tor in die grausame, von Hans Christian Andersen erdachte Fantasiewelt. Da tanzt das Mädchen in Zeitlupe nachts durch den von Menschen verlassenen Jahrmarkt, ihre einsame Selbstverlorenheit eindringlich auf eine Weise, von der moderne Filmemacher nur träumen können. “Träumen” ist das richtige Wort für die gesamte, den Zuschauer sprachlos zurücklassende, Sequenz. Die umher gleitende Kamera scheint der einzige ständige Begleiter dieses Mädchens, das keine Ruhe finden kann und von den Schatten der dunklen, zunehmend sich zur Traumwelt wandelnden Stadt zum Weitertanzen gezwungen wird. Es ist dies ein Tanz, der nicht nur die pure, schöne Attraktion (wenn er darin auch sehr erfolgreich ist), sondern Mise en abîme, ein Spiegel der Filmhandlung, ist. Ein Kondensierung der Handlung auf wenige magische, märchenhafte Minuten; eine, die so weit in die restliche Story verzahnt ist, dass schlussendlich beide Ebenen ineinander übergehen und die vormalig auszumachenden Grenzen verschwimmen.

Dermaßen sticht hier technische Meisterleistung und gekonnte stumme Erzählung hervor, dass der restliche Film demgegenüber an Wirkung einbüßen muss. Immerhin eine Stunde dauert es, bis das Ballett zum Hauptdarsteller wird, denn Powell und Pressburger schenken dem Zuschauer bis dahin nur winzige Appetithäppchen, welche weder den Hunger nach der erwarteten P&P-Zauberei stillen können, noch sollen. Ohne den Auftritt Anton Walbrooks erschiene diese erste Hälfte wohl als unbedeutende seichte Tänzergeschichte.

Walbrooks dämonischer Charme verleiht dem besessenen Lermontov die Aura eines charismatischen Schattenwesens, das seine Tänzer aus der Realität entlockt und sie wie Blinde am Rande einer bodenlosen Kluft zurücklässt. Die glänzenden Augen, die seinem Theo in Leben und Sterben des Colonel Blimp noch eine tiefe Melancholie verliehen hatten, glimmen nun gefährlich, wann immer er die Macht über seine tanzenden Marionetten zu verlieren droht. So mysteriös wie die Welt des Märchens verzaubert dieser Magier der wirklichen Welt die zweite Hälfte des Films, findet sich Vicky wie auch der Zuschauer in seinem Bann wieder.

Dieser Lermontov lebt nicht nur das Ballett, er ist Ballett. Seine eleganten tänzelnden Bewegungen, der geschwungene melodische Akzent; das sind die Zutaten seines existenzbedrohenden Sirenengesangs. Er ist Michael Powell, der seine Zuschauer mit wunderschönen Bildern anlockt, manchmal gnädig ist, die Schönheit bewahrt und manchmal den Vorhang des Scheins fallen lässt; seine Zwischenwelten als alptraumhafte Labyrinthe entlarvt und dennoch folgt man seinem filmischen Gesang immer wieder gern.

[Erstmals veröffentlicht in der OFDb am 08. Juni ’09.]


Zum Weiterlesen:

 

Uralte Kritiken von mir zu den beiden P&P-Filmen Leben und Sterben des Colonel Blimp und Irrtum im Jenseits.

Confession of Pain (HK 2006)

Traumatische Erinnerungen schweben über ihnen wie dunkle Regenwolken in einfallslosen Trickfilmen. Die Vergangenheit ist in  Confession of Pain nicht der Ort, an den man hin und wieder freiwillig oder nicht zurückkehrt. Sie ist der Schatten, der die beiden ungleichen Freunde nicht nur bei jedem Schritt verfolgt, sondern längst in die Gegenwart eingedrungen ist und sich festgekrallt hat. Flashbacks, das zentrale stilistische Element des Films, werden nur selten durch befreiende Schnitte aus dem Jetzt verbannt. Eine klare Linie kann nicht gezogen werden, denn es ist unmöglich. Schuldgefühle verbergen sich in jeder Ecke, im Grunde muss nur der Schleier bei Seite gezogen werden und schon sind sie zu sehen, die Traumata, welche in dem Räumen verweilen, blind gegenüber den Jahren, die vergangen sind.

Und so sitzt der Ex-Polizist und Nun-Detektiv Bong (Takeshi Kaneshiro) jeden Abend in der Kneipe, in der seine Freundin vor Jahren ihre letzten Stunden verbracht hat, bevor sie nach Hause gegangen ist, um sich das Leben zu nehmen. Da sitzt er und trinkt und sieht sie immer wieder warten, als würde er darauf hoffen, dass sie zu ihm kommt, sie gemeinsam den Heimweg antreten und alles ist wie vorher. Sein Ex-Kollege und Freund Hei (Tony Leung Chiu-Wai), der soeben seinen Schwiegervater brutal ermordet hat, reproduziert seine Erinnerungen in jeder einzelnen seiner Taten. Beide stehen in “Confession of Pain” am Scheideweg; die einfache Frage: Loslassen oder nicht?

Eines kann man dem Blockbuster-Team um Andrew Lau, Alan Mak und Felix Chong ganz sicher nicht vorwerfen: Dass sie sich wiederholen. Zwar ziert ihre an Hollywood orientierte Hochglanzoptik in Variationen alle ihre Kollaborationen (“Infernal Affairs I-III”, “Initial D” und “Confession of Pain”). Die Produktionsprämissen ähneln sich von Film zu Film – man nehme alle Stars, die man in einem Frame unterbringen kann und füge sie in eine High Concept-Story ein – greifen sie jedoch auf klassische Erzählmotive des Hongkong-Kinos zurück, ringen die drei den angestaubten Konstruktionen selbst dann noch ungewohnte Aspekte ab, wenn sie am bereits dritten Aufguss einer Geschichte werkeln.

Infernal Affairs basiert beispielsweise auf Schemata, die das HK-Kino seit den Achtziger und Neunziger Jahren bis zum Erbrechen durchexerziert hat. Reagierend auf den Anachronismus, den die sentimentalen, oftmals dualistisch aufgebauten Gangstergeschichten im neuen Jahrtausend darstellen, behandelt der Film seine beiden Hauptfiguren wie Antagonisten, die ihren Konflikt anders als Danny Lee und Chow Yun-Fat in “The Killer” niemals auflösen können. Erzählt wird das ganze mit der drehbuchtechnischen Professionalität eines Hollywood-Films. In der Fortsetzung wird die Vorgeschichte dann als episches Gangsterdrama im Geiste von “Der Pate II” präsentiert und in “Infernal Affairs III” die Handlungsstränge im Rahmen eines komplexen Psychothrillers zu ihrem Ende gebracht.

Nach all dem Tod und Verderben nahmen sich die Herren einer Manga-Verfilmung an, der durchaus sehenswerten Antwort auf “The Fast & The Furious” namens Initial D. Ein ziemlich simpler Autostreifen für die Jugend sozusagen als Zwischenstopp vor der Rückkehr ins düstere Fach. Die heißt nun Confession of Pain und ist wohl ihre letzte Zusammenarbeit. Ein fast schon klassischer Krimi – der Detektiv wird auf den Mörder, seinen Freund, natürlich angesetzt – der seinen Suspense nicht aus der Whodunnit-Frage zieht, sondern aus dem Warum. Warum hat der überaus korrekte Polizist mit dem Bilderbuchleben den Vater seiner Frau ermordet? Ein Katz- und Mausspiel ist “Confession of Pain” deshalb, der Mörder Hei hilft seinem Freund nämlich auch noch bei den Ermittlungen. Wieder das dualistische Prinzip mit zwei Therapie-bedürftigen Figuren, die am Ende nicht gemeinsam in den Sonnenuntergang reiten können. Diesmal weil ihre Methoden der ‘Traumabewältigung’ diametral entgegengesetzt sind.

Schlussendlich verlaufen sich Lau, Mak und Chong ein wenig im Labyrinth der Erinnerungen, haben sie sich doch  noch mehr ‘Erzählung’  aufgebürdet als in den vorherigen Werken. Das läuft alles nachvollziehbarer und spannender als in Infernal Affairs III, in dem die Idee der herumspukenden Geister der Erinnerung ad absurdum geführt wurde. Gleichwohl finden sich die Macher in den letzten Minuten in überflüssigen melodramatischen Gefilden wieder, welche den visuell ungewöhnlichen Film mit sich in die Untiefen der Konvention ziehen.