X-Men Origins: Wolverine (USA/AUS/CDN 2009)

Auf eine ausufernde Diskussion im Anschluss des gestrigen Kinobesuches folgt hier eine Gastkritik meines MeWi-Kommilitonen Martin Schneider. Im Grunde bringt die folgende Kritik all das auf den Punkt, was auch mir bei Ansicht des Films durch den Kopf ging. Mit anderen Worten: Ich hätte zwar meinen Senf zum “Wolverine” – Spin off hier abgeben können, nur eben wesentlich weniger eloquent und mit mehr Schimpfwörtern.

Die Kritik enthält minimale Spoiler hinsichtlich der Frage, wie genau unser Held schließlich sein Gedächtnis verliert.

Das Erzählen von Geschichten vor den Geschichten scheint sich in diesem Jahr im Kino endgültig etabliert zu haben. Vor gut zehn Jahren gab George Lucas den Startschuss, als er die putzige Jugend des dämonischen und mystifizierten Darth Vader in „Episode 1: Die Dunkle Bedrohung“ dem Publikum entblößte. Spätestens ab diesem Moment schrumpfte die personifizierte dunkle Macht mit asthmatischen Zügen auf Otto-Normalverbraucher-Niveau. Und seitdem jeder Kinogänger die Motive eines Weltenbeherrschers verstehen kann, ist dann das Böse wirklich noch so furchteinflößend? Wirkt das sadistische Zungenschnalzen eines Hannibal Lecter überhaupt noch pathologisch, wenn der Zuschauer über das tragische Schicksal seiner Jugend Bescheid weiß? Nachdem Christopher Nolan mit seinem Reboot von “Batman” ein überraschend gutes Stück Arbeit gelungen war, zog Marvel jetzt nach, um die Vorgeschichte seiner “X-Men” zu erzählen. Mit Wolverine lief nun der erste „X-Men Origins“-Teil in den Kinos an.

Wolverine alias James (Hugh Jackman) wächst mit seinem Bruder Victor (Liev Schreiber) in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts im Nordwesten der USA auf. Beide besitzen die außergewöhnliche Fähigkeit, nicht zu Altern und unverwundbar zu sein. Dies macht ihnen ein Leben in der normalen Gesellschaft unmöglich, weshalb sie ihren Heimatort verlassen und untertauchen. Dennoch kämpfen beide Seite an Seite für ihr Vaterland an vorderster Front an allen wichtigen Kriegsschauplätzen. Dies wird eindrucksvoll innerhalb des Vorspanns erzählt, der ein gesamtes Jahrhundert umreißt und dabei vom amerikanischen Unabhängigkeitskrieg bis zum Vietnamkrieg geht. Als der General Stryker (Danny Huston) auf die Begabung der Beiden aufmerksam wird, rekrutiert er sie für besondere Einsätze in einer Special-Force. Die rabiaten Methoden des Generals, aber auch das rücksichtslose Vorgehen seines cholerischen Bruders, entsetzen James, der sich für mehrere Jahre in die kanadische Wildnis absetzt. Dort führt er ein spartanisches, aber befriedigendes Leben mit seiner Freundin. Doch er wird vom General gefunden, der Größeres mit ihm vor hat und ihn zur ultimativen Waffe machen will. Zunächst lehnt James ab. Als jedoch seine Freundin von seinem Bruder getötet wird, willigt er dem Experiment ein, um seine Rache an Victor in die Tat umzusetzen. Mit einem speziellen Metall, dem Adamantium, wird sein Skelett umhüllt, um ihn unverwundbar zu machen. Die Geburtsstunde von Wolverine.

Die Mixtur aus skurrilen Gestalten, die mit abnormen Fähigkeiten aufwarten und sich in den Kampf gegen oder für die Menschheit begeben und der für die “X-Men”-Trilogie typischen gesellschaftskritischen, Minoritäten unterstützenden Story, geht in diesem Film nicht auf. Denn eine Story ist, wenn überhaupt, nur in Fragmenten vorhanden. Das Drehbuch ist demnach auch die größte Schwachstelle von X-Men Origins: Wolverine, das zwar großen Wert darauf legt, eine Überzahl an Charakteren einzuführen, aber keine dieser auch nur ansatzweise zu vertiefen. Dabei bietet doch gerade der Bruderkonflikt zwischen Wolverine und Victor oder auch die tragische Vater-Sohn-Geschichte des Generals Stryker, der die Mutation seines Sohnes nicht verkraften konnte und daraus einen generellen Hass auf alle Mutanten entwickelte, einen herausragenden Filmstoff. Dagegen werden diese eigentlich starken Elemente mit albernen Zwischenbemerkungen beiseite geräumt. Schön, dass wir darüber gesprochen haben! Auch die Erklärung für Wolverines Gedächtnisverlust, der in den späteren/früheren Teilen signifikant ist, wird lächerlich lapidar dem Zuschauer vor den Latz geknallt: Eine Kugel aus Adamantium tötet Wolverine nicht, aber wird ihm das Gedächtnis rauben! Alles klar?!

Die Effekte hingegen sind gut gelungen, auf dem Stand der Zeit und lassen der Physis der Figur Wolverine genug Spielraum. Das hinein- und hinausschieben der Klingen sowie die Mann-gegen-Mann-Duelle sind launig, auch wenn manche Superzeitlupenaufnahme den Bogen überspannt. Generell ist dieser Film ungeheuer physisch und animalisch. Insofern wird er seinem Protagonisten, dem wilden Tier, voll und ganz gerecht. Was der Film im Übermaß an Körperlichkeit gewinnt, verliert er leider auf der Seite des Geistes.

Das Herumdoktern an der Vergangenheit von Filmklassikern mag in erster Linie ökonomischem Denken geschuldet sein. Doch wirkt sich dieses Eingreifen auch auf die filmgeschichtliche Wahrnehmung aus. Denn was bleibt einem Kunstwerk – besonders wenn es als gelungen betrachtet werden darf – wenn seine Abgeschlossenheit gebrochen wird und ihm verschiedenste Interpretationsmöglichkeiten nachträglich aufgedrückt werden. Es wird in Vergangenheit wie Zukunft beliebig und somit beliebig austauschbar. Am Ende bleibt dann so etwas wie der Killer-Mutant, der alle Eigenschaften eines X-Men besitzt, die ihn aber zu nichts mehr machen, als die Summe seiner Einzelteile, die irgendwie nicht zusammenpassen wollen.

[Ebenfalls veröffentlicht in der OFDb.]

Kontrapunkt: Cellu l'art X – Das 10. Jenaer Kurzfilmfestival

Dieses Mal werde ich meine Leser nicht mit der elendig langen Beschreibung meiner Hin- und Rückfahrt nerven, schließlich kann man während einer 10-minütigen Straßenbahnfahrt nur wenige Dinge erleben, die nicht komplett langweilig sind.

Aber zum Thema: Von 22. bis 26. April fand in Jena zum nunmehr zehnten Male das Kurzfilmfestival „Cellu l’art” statt. Bereits ab 20. bis 22. April gab es ein Black Box-Kino im Einkaufszentrum Goethe Galerie zu bestaunen, bevor am 22. April die Jubiläums-Eröffnungs-Gute-Laune-Party, die zwar von reichlich Lokal-Prominenz, jedoch nicht von mir besucht wurde, angesagt war. Dafür war ich dann aber beim Open Air in der Goethe Galerie dabei, wo mit kurzen, meist skurrilen Filmen auf einer Leinwand ab 21 Uhr schon einmal auf das Festival eingestimmt wurde.

Abgesehen davon, dass „Open Airs” normalerweise draußen und nicht in einem Gebäude stattfinden, gab es vor allem bei der Akustik etwas zu meckern. Während man die Dialoge etc. der Kurzfilme immerhin noch mit sehr viel Mühe verstehen konnte, nervten die basslastigen Schallüberlagerungen beim Auftritt der Band „Indicat” vor 21 Uhr und während der Pausen dann endgültig, so dass man selbst 10 Meter von ihnen entfernt nicht ausmachen konnte, was und vor allem: in welcher Sprache da gesungen wurde. Doch die Stimmung war gut, die kostenlose Veranstaltung rege besucht und schon ein kleiner Erfolg.

Am Freitag, den 24. April stand dann ab 17.30 Uhr der Erste Wettbewerbsblock an. Den Auftakt bildete mit Der Untermieter eine skurrile Komödie um einen ziemlich rasch neu einziehenden Mieter, der ein Pärchen durch seine Privatsphären nicht respektierende Lebensweise in den Wahnsinn treibt. In diesem insgesamt neun Kurzfilme umfassenden Wettbewerbsblock folgten u. a. noch der spätere Publikumspreisgewinner Hundesöhne, der reich an Klischees Armut, Vernachlässigung und häusliche Gewalt in Ostdeutschland thematisiert, wie man hier nachlesen kann, sowie der köstliche Moving Camera, in welchem ein exzentrischer Filmemacher per Audiokommentar sein dümmliches Erstlingswerk um einen Besoffenen, der im Wald herumirrt, analysiert.

Zwischen den einzelnen Wettbewerbsblöcken wurden – so auch hier – jeweils sechs Kurzfilme des Länderschwerpunkts gezeigt. Im diesjährigen Fokus stand dabei mit Spanien ein Produktionsland, welches schon in den vergangenen Jahren mit starken Filmen wie dem tragischen Episodenfilm Diente por ojo, der sehr menschlich-sympathischen Dokumentation El hombre Feliz oder dem abstrakt-romantischen Animationsfilm Broken Wire beim „Cellu l’art” vertreten war und nun längst überfällig auserkoren wurde. Dabei soll der Länderschwerpunkt Polen im Jahre 2008 jedoch keineswegs mies gemacht werden: Filme wie das das intensive Adoleszenzdrama Männersache oder die assoziative Kurz-Doku um die Frage(n) des Lebens Talking Heads von Krzysztof Kieslowski hinterließen durch ihren moralischen Realismus einen nachhaltigen Eindruck.

Es schloss sich der Zweite Wettbewerbsblock, welcher von 22 bis 0 Uhr dauern sollte, an. In ihm waren dieses Mal nur noch acht Filme zu sehen; darunter:
Freies Land: Gut gespieltes Drama um einen Pfarrer in der DDR der 80er Jahre, welcher – trotz der Möglichkeit auszureisen – im Arbeiter- und Bauernstaat für seine Überzeugungen kämpfen will. Die Konstellation seiner zwiegespaltenen Familie und eines IM-Stasi-Freundes fängt dabei seine hin- und hergerissene Gefühlslage zwischen Heimatverbundenheit und potenzieller Benachteiligung seiner Kinder im Bildungsweg glaubhaft ein. Gelegentlich anstrengend, aber der 3. Platz im Wettbewerb geht in Ordnung.

Made in Germany: Ein assoziativer Dokumentarfilm, der die Parallelen im Bewegungsablauf von Mensch und Maschine sowie den Hightech-Produktionsprozess in Großunternehmen darstellt. Dabei kann er sich in Sachen formaler Geschlossenheit mangels Stringenz nicht mit dem in dieser Hinsicht mustergültigen Film „Koyaanisqatsi” messen, dem es mit Philip Glass’ minimalistischer Musik gelang, die Botschaft pervertierter Lebensumstände zu manifestieren. Eine Botschaft mag diese anstrengende Collage aus Sprachfetzen und Maschinen-Rhythmik schon haben, allerdings fiel es mir gegen 23.30 Uhr eher schwer, darüber nachzudenken.

Am Samstag, den 25. April fand ab 15 bis 17 Uhr eine Fragestunde mit Kult-Kurzfilmregisseur Felix Stienz (Nenn mich einfach Tobi B., Antje und wir) statt, deren Ende ich noch mitbekommen konnte. Anscheinend auf das Schweigen seitens des Publikums reagierend, sparte er einige zynische Kommentare nicht aus, was einen extrem unsympathischen Eindruck von ihm bei mir hinterließ. Es schloss sich wiederum ab 17.30 Uhr der dritte Wettbewerbsblock an, bei dem folgende der neun Filme am meisten Eindruck hinterließen:
Schäfchen zählen: Frank Plötzer ist Schäfer und erzählt mit einigem Augenzwinkern aus 30 Jahren Berufserfahrung allerlei Anekdoten um Tier-Exkremente, seine Herde und seinen Beruf. Eine sehr kurzweilige Kurzdokumentation, der man gerne noch länger als 15 Minuten Laufzeit gegeben hätte, um Herrn Plötzer zu lauschen.
Das grüne Schaf: Eine Schafsdame aus der „Textilbranche” berichtet davon, wie sie einen gedrungenen Froschherren mit tollem Akzent („Quak-e”) kennengelernt hat und wie aus dieser Verbindung ihr Sohn entstand, der es im bisherigen Leben nicht leicht hatte: ein grünes Schaf. Also: Kauft mehr grüne Wolle, damit auch Tier-Mischlingskinder in die Textilbranche einsteigen können! Köstlich.
Neben Jade, den ich ja schon von der Berlinale kannte und aufgrund seiner Intensität immer wieder schauen könnte, lief auch noch Porque hay cosas que nunca se olividan um zwei Kinder, die im Italien der 1950er Jahre durch ihr Fußballspiel den Unmut einer alten Dame auf sich ziehen und sich an ihr rächen. Der italienische Nationalspieler Fabio Cannavaro gab sich in diesem originell erzählten und sehr humoristischen Kurzfilm sogar die Ehre und Regisseur Lucas M. Figueroa war gar mit Boletos por favor um einen Schwarzfahrer, der im Zug einem sinistren alten Mann mit Pistole begegnet, im Länderschwerpunkt mit einem weiteren Film vertreten.

Aus dem vierten Wettbewerbsblock, welcher am Samstagabend von 22 bis 0.00 Uhr gezeigt wurde, blieb vor allem die Animation Our Wonderful Nature um das Paarungsverhalten von Wasserspitzmäusen, die Martial Arts-Kämpfe im „Matrix”-Stil veranstalten, um das Herz eines Weibchens für sich zu gewinnen, in bleibender Erinnerung. Wer sich von der Klasse dieses Films überzeugen oder wieder einmal herzhaft lachen möchte, kann das hier tun:

[youtube=http://www.youtube.com/watch?v=0aFKSvw4bjU]

Wettbewerbsblock Nummer 5: am Sonntag, den 26. April, von 16.30 Uhr bis 18.30 Uhr. Die Highlights:
Teleportation: Am 9. November 1989 experimentieren drei Kinder mit allerlei Technik und denken, dass sie nach einem Stromausfall alle Bewohner ihrer Stadt in den Westen teleportiert haben, da die Straßen und ihre Schule leer sind. Eine sympathische Spielerei und Ode an die Macht kindlicher Fantasie mit einigem Ostalgie-Charme und autobiografischen Zügen, wie der anwesende Regisseur Markus Dietrich verriet, der sich nach seinem Film geduldig den Fragen des Publikums stellte.
Schautag: Ein Drama um Schuld, Verdrängung und Sühne mit einer verstörenden Pointe. Die drei Erzählstränge werden am Ende sinnvoll zusammengeführt, auch wenn das Ergebnis letztlich nicht allen logischen Prüfungen standhält. Warum dieser Film von Marvin Kren letztlich den mit 1500 Euro dotierten 1. Preis des Festivals gewonnen hat, ist mir aufgrund einiger anderer Filme, die mir wesentlich besser schienen, etwas schleierhaft.

Nach dem abschließenden Länderschwerpunkts-Block erfolgte dann ab 21 Uhr die Preisverleihung, bei der alle Gewinnerfilme nochmals gezeigt wurden. Die Reihen des Saals im schön restaurierten Astoria-Kino, welches aufgrund der Schließung des vormaligen Veranstaltungsortes Capitol wieder zu neuem Leben erweckt wurde, hatten sich schon etwas gelichtet. Und so fand diese Abschlussveranstaltung, zu der ich einen eigens für das Festival kreierten, köstlichen „Cellu l’art X”-Cocktail genoss (Matthias und Kratzi, ihr seid die Besten! *hicks*), in einem eher kleinen Rahmen mit einem Fototermin mit den Jury- und „Cellu l’art”-Vereinsmitgliedern gegen 23 Uhr ihr offizielles, gegen 5 Uhr morgens (so munkelt man) nach einem Besuch in der Kneipe nebenan und der Rückkehr zum Ort des Geschehens ihr inoffizielles Ende.

Alles in allem war dieses 10-jährige Festival-Jubiläum in Sachen Organisation und Programmgestaltung sehr gelungen, über ein paar technische Pannen („Hundesöhne” wurde im selben Block zweimal angespielt; bei einem spanischen Film verschwanden plötzlich die Untertitel) und die zum Teil etwas schläfrige Moderation (Christoph, nicht “Wolverine”-Gastkritik-Martin, der toll war) kann man dabei großzügig hinwegsehen.

Would you like to know more?
Der offizielle „Cellu l’art”-Blog zum Nachlesen der Preisträger und Co.

The Fall (USA/GB/IND 2006)

Gemälde. Wie eine Sammlung von Gemälden wirken die Bilder, die sich im Kopf der kleinen Alexandria (Catinca Untaru) zu einer Abenteuergeschichte formen. Oftmals surrealistisch, als hätte Salvador Dali hinter der Kamera seinen Schnurrbart gezwirbelt. Zuweilen in ihrer extremen Betonung von Farbflächen wie eine malerische Version von Chen Kaiges “Gelbe Erde” wirkend. Dennoch ist Bewegung Lohn und Brot nicht nur Tarsems, der sie in den vielen Zeitlupen zelebriert, sondern auch des tragischen Helden und Erzählers Roy (Lee Pace). Der ist ein Stuntman in frühen Stummfilmen und wenn ein Stuntman eines kann, dann sind es Bewegungen, die der Star nicht auszuüben in der Lage ist. Stuntmen sind die unbesungenen wahren Helden der Filmwelt, denn Heldsein bedeutet, den eigenen Körper für eine höhere Sache in Gefahr zu bringen. Und was für eine höhere Sache ist das Kino!

Umso grausamer ist Roys Schicksal, denn er verliert seine Geliebte an den Star des Films. Sein verzweifelter Versuch, die Schöne mit einem Stunt zu beeindrucken, endet im Krankenhaus. Der Stuntman – im Liebeskummer ertrinkend – hat die Lust am Leben verloren. Er spürt seine Beine nicht mehr; ans Bett gefesselt ist er auf Alexandria angewiesen, um das zu bekommen, wonach er sich sehnt: Eine Überdosis Morphium. Das kleine Einwanderermädchen, das sich beim Orangenpflücken den Arm gebrochen hat, lockt er mit besagter Geschichte vom bösen Gouverneur Odious und den fünf Helden, die ihn gemeinsam zur Strecke bringen wollen.

Während die Realität des Krankenhauses in warmen Sepia-Tönen gehalten ist, entfaltet Tarsem die Fantasie des Mädchens in unglaublich farbenprächtigen Bildarrangements aus endlosen Wüsten, winzigen Eilanden im türkisfarbenen Meer und architektonischen Wunderdingen. Unwirklich und traumartig wirken die Schauplätze, doch sie alle sind auf unserer Erde zu finden. Keinem Computer sind sie entsprungen. Für diese Feststellung benötigt man weder Making Of, noch Audiokommentar. Die durchdringende Plastizität ist es hingegen, die Greifbarkeit des Dargestellten, nach der sich jahrhundertelang Maler gesehnt haben.

Doch Tarsem ist eben nicht nur der malerische Filmemacher, der ausgefallene Kostüme und Schauplätze zu ebenso märchenhaften wie wunderschönen und manchmal grausamen Tableaux vivants zusammenfügt. The Fall ist ein Film über den Film und die Quintessenz des Films ist Bewegung. Bezeichnenderweise sind Pferde hier sein liebstes Motiv. Ob das leblose Tier, das in den Credits aus dem Wasser gehoben wird und schon auf Roys Verletzung verweist oder die kurze Projektion, die Alexandria dank eines einfachen Lichtspiels zu sehen bekommt. Eadweard Muybridge hätte an diesem Film seine helle Freude gehabt. Mit Zeitlupenaufnahmen beginnt der Film und dermaßen betont Tarsem in Folge selbst die flüchtigsten Bewegungen seiner menschlichen und tierischen Körper, dass es naheliegt, “The Fall” als überstilisiertes Nichts abzutun. Wäre da nicht die ‘Realität’.

Roys tragische Liebe ist ein überaus melodramatisches Kontrukt, das sich nicht von ungefähr auch in seiner Geschichte wieder findet. Nichtsdestotrotz erscheint die Beziehung zwischen ihm und Alexandria ungemein natürlich. Zu verdanken ist das primär Catinca Untaru, die – und das ist im Film überraschend selten – schlicht wie ein normales Kind wirkt. Ihre wachsende Freundschaft zum suizidalen Stuntman gestaltet Tarsem mit überraschend viel Tiefe und Feingefühl. Gerade wenn sich das Drama in beiden Erzählebenen zuspitzt, beweist der ehemalige Videoclipregisseur ein figurenpsychologisches Talent, welches aus dem Film mehr als nur einen Bilderreigen, aus der Rahmenhandlung mehr als nur einen Vorwand macht. Schlussendlich weiß er, sein Medium auf eine Weise zu feiern, die schon Preston Sturges 65 Jahre vor ihm mit Hilfe eines einfachen Disney-Cartoons zur Meisterschaft gebracht hat. Manche Dinge ändern sich eben nie.


Andere Meinungen:

 

luzifus 6/10
Symparanekronemoi 8/10

Chef, my ass!

Eben noch für das Cannes Filmfestival ausgewählt, nun mit einem neuen Trailer am Start. Vengeance, der neue Film von Johnnie To, startet in knapp einem Monat in den französischen Kinos, so dass die Marketingmaschinerie langsam in Gang kommt.

Der zweite Trailer gibt nicht nur einen besseren Eindruck von der Story und den Englischkenntnissen Johnny Hallydays und Anthony Wongs. Als Bösewicht darf anscheinend Dr. Lamb höchstpersönlich – Simon Yam – auftreten, der hier übercool mit Sonnenbrille und Gewehr daherkommt. Auch wenn die etwas konventionelle Musik nicht an die des ersten Trailers herankommt, steigert sich beim Anblick Hallydays, der überaus gelassen Leute niedermäht, die Vorfreude langsam ins Unermessliche.

Ob Vengeance Johnnie To nun endlich zum internationalen Durchbruch verhilft, muss man sich unweigerlich bei dieser englischsprachigen Produktion fragen. Schon fürchten oder ersehnen Fans den Gang nach Hollywood. To hat sich für sein erstes internationales Projekt ausgerechnet an das Land von Alain Delon und Jean-Pierre Melville gewendet und das deutet zumindest an, dass er zu diesem Zeitpunkt nicht gewillt ist, den Pfad eines John Woo zu beschreiten. “Vengeance” spielt trotz oder gerade wegen des Hauptdarstellers in Hongkong und auch Tos geplantes Remake von Melvilles “Le Cercle Rouge” wird wohl in seiner Heimat gedreht werden. Genießen wir das, solange wir es noch können.

Bei Wildgrounds gibt es eine YouTube-Version des Trailers.

(via)

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Next up: “The Fall”.

Rache, Durst und der Antichrist

Gestern wurde die Filmauswahl des diesjährigen Festivals in Cannes bekannt gegeben und zum ersten Mal bin ich extrem neidisch auf diejenigen, die das Event besuchen können. Allein der Blick auf den Wettbewerb macht zumindest meinen Cineastenmund wässrig und das nicht einmal nur wegen Johnnie To.

Von Alain Resnais über den unvermeidlichen Haneke zu den neuen Filmen von Park Chan-Wook, Quentin Tarantino, Ang Lee, Pedro Almodovar usw. versammeln sich vom 13. bis zum 24. Mai die Größen der internationalen Kinoszene an der Côte d’Azur. Und das sind nur die Namen, die den Wettbewerb bevölkern. Filme von Terry Gilliam, Bong Joon-Ho (“The Host”) und Pen-Ek Ratanaruang (“Last Life in the Universe”) sind in anderen Kategorien auch noch zu finden.

Hier die Liste der Beiträge für den Wettbewerb um die Goldene Palme:

Bright Star, Director: Jane Campion

Spring Fever, Director: Lou Ye

Antichrist, Director: Lars von Trier

Enter the Void, Director: Gaspar Noe

Face, Director: Tsai Ming-Liang

Les herbes folles, Director: Alain Resnais

In the Beginning, Director: Xavier Giannoli

A Prophet, Director: Jacques Audiard

The White Ribbon, Director: Michael Haneke

Vengeance, Director: Johnnie To

The Time That Remains, Director: Elia Suleiman

Vincere, Director: Marco Bellocchio

Kinatay, Director: Brillante Mendoza

Thirst, Director: Park Chan-Wook

Broken Embraces, Director: Pedro Almodovar

Map of the Sounds of Tokyo, Director: Isabel Coixet

Fish Tank, Director: Andrea Arnold

Looking for Eric, Director: Ken Loach

Inglourious Basterds, Director: Quentin Tarantino

Taking Woodstock, Director: Ang Lee

Die Filme in den anderen Kategorien findet man hier.