Und der Preis für die kürzeste Oscarverleihung mit dem schlechtesten Tribute geht an…

Die Gewinner sind bekannt, die Berichterstattung flaut ab, das Schlafdefizit ist behoben. Die Awardsseason ist nun vorbei, zumindest die amerikanische. Was haben wir daraus gelernt? Trotz der Remakemanie, die derzeit in Hollywood grassiert, ist ein erstaunlich guter Wettbewerb zustande gekommen.

Die Gebrüder Coen haben zu alter Stärke zurückgefunden und wurden dafür mit vier Oscars belohnt. Die Literaturverfilmung No Country for Old Men nach Cormac McCarthy war der Gewinner des 80. Oscarabends. Wie vor einem Jahr gingen die Preise für die Beste Regie und den Besten Film Hand in Hand an den selben Film.

Paul Thomas Anderson musste der Bühne während der erstaunlich kurzen Zeremonie fern bleiben. Sein achtmal nominiertes Ölepos There Will Be Blood erhielt am Ende nur zwei Preise, kam damit allerdings besser weg, als seine vorherigen Filme Boogie Nights und sein Meisterwerk Magnolia, die jeweils leer ausgegangen waren. Neben der Besten Kameraführung ging wie (leider) erwartet der Preis für den Besten Hauptdarsteller an Daniel Day Lewis. Den überreichte ihm Helen Mirren, die letztes Jahr eine ähnlich überraschungslose Favoritenrolle eingenommen hatte. Als Belohnung gab’s noch einen Ritterschlag von der “Queen”.

Der ausgeglichene Wettbewerb war wohl auch ein Grund für die miserablen Einschaltquoten in den USA. Das schlechteste Ergebnis seit Beginn der Ratings 1974 erzielte die Show. Die Quoten waren in der Vergangenheit immer hoch gewesen, wenn ein Blockbuster alle Preise absahnen konnte. Das langweilige Titanic-Jahr war deswegen das erfolgreichste. Am Montag nun standen fast nur Independentproduktionen zur Disposition, kein Wunder also, dass ein solcher Einbruch erfolgen musste. Die negative Publicity rund um den Autorenstreik muss ihr übriges dazu getan haben.

Jon Stewart jedenfalls kann man keine Schuld zuweisen. Bedenkt man, dass er nur zwei Wochen Zeit zur Vorbereitung hatte, ist seine Leistung bemerkenswert. Selbst kritische Witze über die Irakpolitik konnte man von ihm hören. An seine Bissigkeit in der Daily Show kommt er zwar noch nicht heran, aber das kann ja noch werden. Er übertraf jedenfalls locker andere Hosts der letzten Jahre, wie Ellen DeGeneres, Whoopie Goldberg und Chris Rock. Mein Lieblingsmoment der Show war dann auch, als er die Mitgewinnerin des Preises für den Besten Song aus dem Film Once noch einmal auf die Bühne holte, damit auch sie eine Gelegenheit bekommen konnte, ihre Dankesrede zu halten.

Ich geb es zu, der sentimentale Aspekt der Oscarshow ist mir immer schon einer der wichtigsten gewesen. Ob Zusammenschnitte vergangener Sieger oder die Erinnerung an verstorbene Filmschaffende, die Liebeserklärungen ans Kino sind für mich die emotionalsten Momente des Abends.

Dieses Jahr enttäuschte besonders der In Memoriam-Teil. Die Unsitte, bei bestimmten Verstorbenen zu klatschen, bei anderen nicht, begleitet die Oscars ja schon seit der Einführung dieser Tradition in den Neunzigern. Am Montag blieb dann sogar der Beifall für Michelangelo Antonioni aus, unbestritten einer DER größten, besten, wichtigsten Regisseure der Kinogeschichte. Anspruchsvolle Filmkost bekommt der Academy wohl nicht.

Wie Hollywood es den tragischen Opfern der Filmindustrie dankt, zeigte die fehlende Erinnerung an den Tod Brad Renfros, ehemaliger Kinderstar aus Der Klient, Sleepers und Der Musterschüler, der Anfang des Jahres an einer Überdosis Heroin gestorben war.

Den Verstorbenen würdige drei Minuten des Gedenkens hatten dagegen die diesjährigen BAFTA-Awards zu bieten:

[youtube=http://www.youtube.com/watch?v=TTGcboZGg0Q]

Eine überragende Oscarshow gab es dieses Jahr wirklich nicht, was angesichts des Jubiläums etwas enttäuschend ist. Gestern habe ich mir bei YouTube ein paar Ausschnitte aus der BAFTA-Verleihung angeschaut und bin zu dem Schluss gekommen, dass die Oscars dringend mal eine Modernisierung benötigen.

Wie wäre es, statt schmalziger Streichermusik dynamische Popsongs zur Untermalung zu nutzen? Bei den BAFTAs wurde selbst der Tribute an Anthony Hopkins mit Britpop unterlegt und es wirkt klasse. Wie wäre es mal, die 30 Sekunden-Regel für Dankesreden abzuschaffen? Das unflexible Einsetzen der Musik an den emotionalsten Momenten ist einfach nur peinlich. Aber das nur am Rande.

Alle Gewinner findet man (überraschenderweise!!!) auf der Homepage der Oscars.

Ich freu mich schon auf den Winter, wenn der Oscarbuzz wieder losgeht…

Sweeney Todd: The Demon Barber of Fleet Street (USA/GB 2007)

Think about it! Lots of other gentlemen’ll soon be comin’ for a shave, won’t they? Think of all them pies!

Das “Lange Neunzehnte Jahrhundert” hatte dem aufmerksamen Zuschauer einiges zu bieten gehabt. Vom “Vollender der Revolution”, dem kleinen Korsen Napoléon Bonaparte, bis zum Einheitskanzler Bismarck. Vom Niedergang des Osmanischen Reiches bis zum Risorgimento Italiens. Vom “Verräterischen Herz” bis zum “Kapital”. In der Literatur stand Zolas Sozialrealismus dem Ästethizismus Oscar Wildes gegenüber, Widersprüche in den Kunstauffassungen als verzerrtes Spiegelbild gesellschaftlicher Entwicklungen, geprägt von proletarischer Massenarmut, bürgerlicher Wirtschaftsexpansion, Hand in Hand gehend mit dem Bedeutungsschwund des Adels als Zielgruppe staatlicher Politik. Die Schützengräbe vor Sewastopol maschinisierten die Gewalt, das Menschenleben, ein weiterer Produktionsschritt in der Fabrik des Krieges.

For what’s the sound of the world out there? Those crunching noises pervading the air! It’s man devouring man, my dear! And who are we to deny it in here?

Die Grausamkeit des Schönlings Dorian Gray fand ihr Ebenbild in den Mordgeschichten der penny dreadfuls. Barbiere, die zu Serienkillern wurden, die Überreste ihrer Opfer den hungrigen Kunden auf den Esstisch brachten. Eher ungewöhnliche Themenkost für ein Musical, handelt dieses künstlichste aller Spielfilmgenres doch eher von frisch Verliebten, die im Regen tanzen, ihr Glück der ganzen Welt bekundend, während dem Zuschauer ein wohliges Gefühl vollkommener Zufriedenheit durchfährt.

Ein Mann, der seinen Rassiermessern ein Liebeslied widmet, über die Ungerechtigkeit der Welt erbost, von Rache zerfressen, tritt er nicht im Kampfe für die Unterdrückten auf. Er wird selbst zum Inbegriff tödlicher Willkür, die doch von seinem Erzfeind, dem Richter, verkörpert wird. Musikalische Themen, in ihrer komplexen Eingängigkeit suchen sie in der Musicalgeschichte ihresgleichen, erzählen uns die Geschichte des zu Unrecht eingekerkerten Barbiers Benjamin Barker (Johnny Depp), der Frau, Kind, sein Bilderbuchleben an diesen Richter (Alan Rickman) verliert. Nach fünfzehn Jahren Freiheitsberaubung ist Vergeltung sein Lebenselixier, ist er Sweeney Todd. Im Moloch London findet er seine Helferin (Helena Bonham Carter) und verkennt doch völlig ihre Beweggründe. Der Zorn vernebelt seinen Blick für alle übrigen menschlichen Gefühlsregungen.

Now we all deserve to die. Even you Mrs. Lovett…even I. Because the lives of the wicked should be made brief. For the rest of us death will be a relief.

Ist der erste Mord mit seiner kannibalischen Verschleierung noch improvisiert, mischt sich schon bald der schwarze Rauch, der von Mrs. Lovetts Pie Shop ausgeht, in den dreckigen Dunst der Fabrikschlote. Hätte es im Neunzehnten Jahrhundert Fließbänder gegeben, hätte Todd seinen Hinrichtungsablauf noch effizienter gestalten können. So muss er auf den Stuhl zurückgreifen, der seine Opfer nach ihrer letzten, tödlichen Rasur kopfüber in den Keller befördert, wo schon ein gewaltiger Fleischwolf auf sie wartet. Ein ewiger Kreislauf der Produktionsschritte. Das Geschäft im Pie Shop boomt, leidet doch die restliche Stadt unter einem Fleischmangel. Die Toten sind gesichtslose Zutaten. Todd erledigt sie ohne jede Leidenschaft, routiniert wie eine Guillotine, die ihre Arbeit auf einem französischen Marktplatz der Revolutionszeit verrichtet.

Anstatt mit seiner noch lebenden Tochter Johanna Kontakt aufzunehmen, wartet er auf sein letztes Opfer, den Richter, ihren Vormund, der sie eingesperrt hat in Foggs Asylum, weil sie ihn nicht heiraten will. Was man nicht haben kann, zerstört man. Die einzige Hoffnung der Jugend ist die Jugend, der Seemann Anthony, der den vielversprechenden Nachnamen “Hope” trägt. Todd wird selbst zum Herrn über Leben und Tod, es ist kein Wunder, dass einer der Höhepunkte des Films sein Duett “Pretty Women” mit dem Todfeind ist. Hinter der Harmonie der beiden sich vereinigenden Stimmen verblasst der Antagonismus.

And if you’re beautiful, what then. With yellow hair, like wheat? I think we shall not meet again — My little dove, my sweet Johanna…

Die Obsession des Sweeney Todd schmückt Regisseur Burton wie einen Horrofilm der Dreißiger Jahre aus. In den fast schwarz-weißen Bildern sticht das Rot des Blutes hervor, sein übertriebener Fluss, das Spritzen und Sprudeln der aufgeschnittenen Kehlen untermalt Todds ebenso überzogenen Eifer. Die typisch Burton’sche Oberflächlichkeit in der Figurenentwicklung wird hier durch die musikalische und textliche Vorlage wettgemacht. Sweeney Todd springt nicht von Attraktion zu Attraktion, er ist, dank der Lieder, Erzählung pur. Diese Logik muss dazu führen, Schauspieler, nicht Sänger, in den Hauptrollen zu besetzen. Perfektion in der gesanglichen Präsentation ist immer auch Attraktion, ist Stillstand der Narration. Der Film hält nicht an, um zur Bühne des Solisten zu werden.

Selbst die große Geste “Epiphany” wird ironisch hinterfragt. Der Humor verlässt Burton zu recht erst am Ende, wenn das verbrecherische Geschehen im Pie Shop erstmals durch die Augen der unschuldigen Jugend gesehen wird. Dabei ist das hier betriebene Geschäft nur die Überspitzung dessen, was draußen vor der Tür in viktorianischer Zeit abläuft. Sweeney Todd verlässt nie den Rahmen artifizieller Darstellung, ist am Ende mehr Edgar Allan Poe als Zola, also typisch für seinen Macher. Dieses blutige Musical, tief verankert in der urbanen und lebensweltlichen Umwälzung des kapitalistischen Neunzehnten Jahrhunderts, ist Tim Burtons bester Film seit Ed Wood.

There was a barber and his wife. And she was beautiful. A foolish barber and his wife. She was his reason and his life. And she was beautiful. And she was virtuous. And he was, naive.


Zum Weiterlesen:
Weitere Einträge zum Thema Sweeney Todd.
Eine äußerst lesenswerte Kritik mit einem längst überfälligen Plädoyer bezüglich einer unterrepräsentierten Gattung des gemeinen Kinogängers bei Kino, TV und Co.

Saw IV (USA 2007)

[Warnung: Diese Kritik könnte mittlere Spoiler enthalten für Saw III und IV. Wer letzteren noch nicht gesehen hat, sollte sich glücklich schätzen.]

Vielleicht kann man die abnehmende Qualität einer Filmreihe an der abnehmenden Qualität der dahinsterbenden Castmitglieder erkennen.

Nehmen wir Saw I aus dem Jahre ’04: Danny Glover (Lethal Weapon), Cary Elwes (Dracula, Mel Brooks’ Robin Hood), Monica Potter (Con Air, Im Netz der Spinne).

Nehmen wir Saw IV aus dem Jahre ’07: Costas Mandylor (hä?), Scott Patterson (ah, der Typ aus Gilmore Girls!), Lyriq Bent (wow, Lyriq ist ein cooler Name).

Zugegeben, Horrorfilme leben oftmals davon, dass wir die Schauspieler nicht kennen, also nicht einschätzen können, wer auf Grund seiner Popularität den Fängen des Killers entkommt und sich seiner verbliebenen Gliedmaßen erfreuen kann. Das kann in seelenlose Teenagermetzeleien ausarten oder in atmosphärisch dichte, weil gut gespielte, Gruselfilmchen.

Ich sage gleich vorweg: Saw I hat mir nie besonders gefallen. Der Film von James Wan wirkte auf mich wie ein für Epileptiker nicht geeigneter Abklatsch von Sieben. Spannend war der Film, weil fähige Charakterdarsteller uns am grausamen Schicksal ihrer Figuren haben mitfühlen lassen.

An dieser Stelle fangen die Probleme von Saw IV an. Die Liste ist endlos…
Was tun, wenn der Killer im vorherigen Teil stirbt?

Keine weitere Fortsetzung drehen? Nein, wir sind in Hollywood, wir brauchen die Eintrittsgelder gewaltversessener Teenies und Mittzwanziger!

Ein Prequel drehen? Nein, wir haben Star Wars: Die Dunkle Bedrohung gesehen!

Drehen wir doch ein Sequel, rekrutieren ein paar TV-Stars und montieren parallel zu unserem Storypuzzle, das so kompliziert ist, dass wir selbst während des Drehbuchschreibens bei Wikipedia die Inhalte der anderen Teile nachschlagen müssen, noch Flashbacks aus der Frühphase unseres Killers ein, die zwar die Story nicht voranbringen, aber eben unser Trademark, unseren Killer, zeigen!

So funktioniert Saw IV, denn der Jigsaw Killer a.k.a. John Kramer (Tobin Bell) hat Teil Drei nicht lebend überstanden. Eine Filmreihe, die stetig ihre Hauptfiguren tötet, hat irgendwann ein Problem. Glücklicherweise hat Jigsaw anscheinend so viele Azubis, dass die Reihe für die nächsten zwei, drei Teile ausgesorgt hat.

Polizist Rigg will nun seinen Kollegen aus den Händen eines solchen Lehrlings befreien, muss dabei aber eine kranke Prüfung nach der anderen überstehen. Meist geschehen diese in Form der Entscheidung über Leben und Tod irgendeines fremden Opfers, das mit irgendeinem tödlichen Mechanismus verbunden ist und sich nur durch eine recht unsentimentale Haltung gegenüber den eigenen Körperteilen/ Gesichtspartien/ Teilen der Kopfhaut befreien kann.

Diese Folterapparate sind die Hauptattraktion der Saw-Reihe, da der Zuschauer sich an Blut und Tränen erfreuen und gleichzeitig beim Gedanken, was er in dieser oder jener Situation tun würde, erschaudern kann. Der Begriff “Gewaltporno” wurde u.a. durch diese Filme geprägt, auch Teil IV weiß ganz genau, was er ist.

So beginnt er mit einer genussvoll gefilmten Obduktionsszene, deren Relevanz für die Story keine solche Ausführlichkeit der Darstellung rechtfertigt. Wen interessiert’s? Wir wollen sehen, wie einer Leiche die Kopfhaut abgezogen wird!

Andere Splatterfilme unterhalten mit solchen Szenen durch ihre Selbstironie, ihr Bewusstsein für die eigene Übertreibung. Saw IV ist todernst, langweilt aber auf Dauer durch die hanebüchen konstruierte Aneinanderreihung von Extremsituationen.

Einziger Lichtblick der miserabel geschnittenen Zwickmühlen des Grauens sind die Flashbacks, ist die Erzählung, wie aus dem perfektionistischen John Kramer der menschenfeindliche Jigsaw Killer geworden ist. Bell ist eben der einzige im Cast, der durch sein Charisma so etwas wie Sympathie bei uns erzwingt. Wir verstehen nun seine Motivation. Mit dem Restfilm hat das allerdings wenig zu tun.

Saw IV leidet erheblich unter der uninspirierten CSI-Optik. Hier haben wir mal wieder einen Film, der die Unfähigkeit seiner Macher, eine gruselige Atmosphäre aufzubauen, geschweige denn, nervenaufreibende Schockmomente zu liefern, mit einem undurchdachten Staccatoschnitt überdecken will. Das hält zwar wach im Kinosaal, so wie eine grelle Neonröhre an der Bushaltestelle wachhält. Mit Spannung hat das aber nichts zu tun.

Warum vergleiche ich nun ständig Saw I und IV? Ich habe die anderen beiden Teile nicht gesehen. Das ist ein Grund. Die neue Ausgeburt der Saw-Schmiede lädt durch sein hemmungslos von Teil Eins abgekupferten Twist am Ende aber auch zum Vergleich ein. Der qualitative Abstieg der Reihe ist nun unaufhaltsam.

Saw IV ist nur noch für Kenner – nicht Gelegenheitsgucker – der ersten drei Teile empfehlenswert. Das wussten die Macher auch und haben ihren Film für die Stammzuschauer inszeniert, so dass alle anderen angesichts der fehlenden Erklärungen der diversen Handlungsstränge einen Großteil des Geschehens nicht einordnen können. Wer die Vorgeschichte von Rigg und Co. herbeten kann, also im Stoff steht, wird sich auch Saw V, Saw VI usw. anschauen. Für alle anderen ist der langweilige, blutige Müll, der sich Saw IV nennt, Verschwendung wertvoller Lebenszeit. Als würde man auf einen Bus warten, der nicht kommen wird.

Anthony Wong im Doppelpack: The Untold Story (HK 1993) + Colour of the Truth (HK 2003)

Anthony Wong Chau-Sang, inoffizieller König der Category III-Filme und in unseren Breitengraden bekannt durch seine Rolle des Inspektor Wong in der Infernal Affairs Trilogie [ich sage nur: “Autodach”], ist der Hauptgrund, warum ich mir die zwei sehr unterschiedlichen Filme The Untold Story (1993) und Colour of the Truth (2003) angeschaut habe.

Wong, neben Lau Ching-Wan und Francis Ng einer der wichtigsten Charakterdarsteller Hongkongs, gilt als bad boy der Industrie. Ob er nun bei den HK Film Awards im Freddy Krueger-Kostüm auftaucht; erklärt, er werde seinen Award mit aufs Klo nehmen oder über das nicht vorhandene Talent seiner Kollegen herzieht, er hegt und pflegt seinen Status als enfant terrible. Seine legendären Interviews variieren zwischen genervt einsilbig und zutiefst sarkastisch.

An Kritik für seine heimische Filmwirtschaft und die eigenen Werke spart er nie. Wem das “Wir waren am Set eine große Familie“-Gesülze nervt, sollte sich mal zu Gemüte führen, was der vielfach ausgezeichnete Wong über Größen wie John Woo oder Tsui Hark zu sagen hat.

An mehr als 140 Filmen hat der 46 Jährige mittlerweile mitgewirkt. Offenkundiger Müll, wie Gen-Y-Cops, findet sich ebenso in seiner Filmografie, wie Arthousekost von Ann Hui. Diese Vielfalt spiegelt sich auch in seinem Rollenrepertoire wieder.

Berühmt geworden durch wahnsinnige Mörder (The Untold Story, Ebola Syndrome) und gewissenlose Gangster (Hard Boiled), kann er den unauffälligen Normalo, der zum Berserker wird (Taxi Hunter, Beast Cops) ebenso glaubwürdig verkörpern, wie sympathische Vater- und Mentorfiguren (Infernal Affairs, Princess-D).

10 Jahre liegen zwischen The Untold Story und Colour of the Truth, die Unterschiede könnten kaum größer sein. Die bloße Präsenz dieser beiden Filme erzählt uns einiges über die Geschichte des Hongkong-Kinos.

The Untold Story (HK 1993)

Bei uns nennt man es FSK-18, in den USA NC-17, in Hongkong heißt es seit 1988 Category III, oder besser Cat. III. In anderen Ländern führt die Altersfreigabe “ab 18” dazu, dass die Filmemacher versuchen dieses Etikett durch Schnitte zu vermeiden. Selbst ein Gewaltporno wie Saw IV (den ich gestern im Kino durchlebt habe) wurde aus kommerziellen Gründen so geschnitten, dass er nur ein R-Rating bekommen hat.

In Hongkong führte die Klassifizierung dazu, dass Produzenten begannen, bewusst das “Label” Cat. III bis zum äußersten auszureizen. Wieviel Gewalt, Sex oder Gewalt und Sex kann man zeigen, bevor die Zensur einschreitet? Für wenige Jahre entwickelte sich so ein Genre, dessen Existenzberechtigung vielleicht fraglich, dessen Trashfaktor dafür erfreulich hoch ist. Viel Geld stand nie zur Verfügung. Warum auch, ging es doch vordergründig nur darum, für Freunde des schlechten Geschmacks möglichst viel Blut, Gedärm und nackte Haut in neunzig sinnfreie Minuten zu packen.

The Untold Story ist einer der Klassiker des Genres, was nicht nur an der extremen Natur des Films liegt. Der ein oder andere Zuschauer wird sich vielleicht hinterher wünschen, die titelgebende Geschichte wäre unerzählt geblieben.

Restaurantbesitzer Wong Chi-Hang (Anthony Wong) neigt dazu, seine köstlichen Fleischbällchen mit den Überresten ungeliebter Mitbürger zu füllen. Das ist auch kein Wunder, schließlich betrügt der Mann regelmäßig beim Mahjong. Einem solchen Menschen kann man alles zutrauen! Als die Polizei ihn festnimmt und ein Geständnis erpressen will, beginnt ein brutaler Foltermarathon.

Im Grunde hat Regisseur Herman Yau mit diesem überraschend logischen Schocker zwei verschiedene Filme gedreht, die zuerst parallel ablaufen und sich ab einem bestimmten Zeitpunkt zu einem Film vereinigen. Mit einem seltsamen Ergebnis.

Der eine Teil erzählt in dreckigen Farben die Geschichte eines Serienmörders, dessen Metzgertätigkeiten vor keiner Altersgruppe halt machen. Wong spielt diesen geldgierigen Misanthropen so abstoßend und widerwärtig, wie man es nur selten bei einer Hauptfigur sieht.

Andere Psychopathen der Filmgeschichte gewinnen die Herzen des Zuschauers durch ihre charismatische Intelligenz und Überlegenheit (Hannibal Lecter? John Doe? Jigsaw?). Wong Chi-Hang ist nicht besonders schlau, hat schlechte Umgangsformen und ist die Unfreundlichkeit in Person.

Er wäre schon abstoßend genug, wenn er keine Frauen vergewaltigen und Kinder ermorden würde. Auch verweigert der Film eine Erklärung für diesen abscheulichen Charakter. Nein, es wird keine von einer dominanten Mutter kontrollierte Kindheit gezeigt oder irgendeine Ideologie, irgendein höheres Ziel angegeben, für das er all die Schandtaten vollbringt. Er ist einfach nur da und wir müssen damit leben.

Anthony Wong hat für die intensive Darstellung seinen ersten Hongkong Film Award bekommen, damals ein Novum für einen Cat. III-Film. Mir persönlich gefallen seine späteren Rollen besser, da in The Untold Story wenig Platz für Subtilität und Zurückhaltung geboten wird.

Trotzdem könnte sich in diesem Erzählstrang das Potenzial für einen – trotz seiner unglaublichen Brutalität – guten Film verstecken, sozusagen als frischer Wind im Serienkillergenre. Ein Film der seinen Killer mal realistisch anpackt.

Wären da nicht die Cops, also der bereits erwähnte “zweite Film”. Danny Lee (The Killer) führt sie an als etwas fragwürdige Autoritätsfigur. Er bringt ständig Nutten mit aufs Revier. Seine Untergebenen sind nicht viel besser und vertreiben die meiste Zeit damit, ihre einzige Kollegin zu hänseln. Was hier zwischen den unfähigen Ermittlern abläuft, trägt in großen roten Lettern mit Ausrufezeichen den Titel COMIC RELIEF! vor sich her und es passt überhaupt nicht in diese Serienkillerstory, die höchstens schwarzen Humor aufblitzen lässt, aber nicht viel mehr.

So kann der Zuschauer nach blutigen Zerstückelungen hin und wieder befreit aufatmen. Die düstere Atmosphäre ist aber dahin. Diese beiden Stränge treffen nach der Gefangennahme des Mörders zusammen. Die hölzern agierenden Darsteller der Polizisten und der in der Story angelegte unbarmherzige Umgang mit Wong Chi-Hang, der mit dem auf Rache versessenen Bruder eines seiner Opfer eingesperrt wird, führen am Ende sogar dazu, dass wir Mitleid mit dem Widerling empfinden.

The Untold Story darf sich aufgrund der schauspielerischen Leistung des Hauptdarstellers und der technisch versierten Regie von Herman Yau als Höhepunkt seines Genres feiern. Seine disparate Natur verhindert aber, dass ein wirklich guter Film im DVD-Player landet. So bleibt am Ende eher der Trashfaktor, der zugegebenermaßen abgestumpfte Zuschauer – wie mich – sehr gut unterhalten kann.

Colour of the Truth (HK 2003)

Nach der Rückgabe Hongkongs an China wurde der Untergang des Kinos der Sonderverwaltungszone überall vorausgesagt. Die großen Regisseure waren ins Ausland gegangen (John Woo, Ringo Lam, nun auch Wong Kar-Wai), die Zensur machte dem Cat. III-Genre ein Ende und die Filme zielten von Jahr zu Jahr immer mehr auf den Markt Festlandchinas ab.

Man geht davon aus, dass Hongkongs Filmindustrie früher oder später mit der Chinas verschmelzen wird. Das sind traurige Gedanken angesichts der Tatsache, dass kaum ein wegweisender Film, ob Drama oder Krimi, in China überhaupt gezeigt werden darf. Sozusagen als Schlag für die dahinsiechende Filmindustrie muss noch festgehalten werden, dass die Ticketverkäufe und Filmproduktionen Hongkongs pro Jahr stetig zurück gehen.

Es ist also kein Wunder, wenn man dort gnadenlos bekannte Erfolgsrezepte kopiert. Infernal Affairs und seine Ableger waren ein unerwarteter Hit an den Kinokassen gewesen, d.h. früher oder später wurden Undercoverdramen und Triadenfilme en masse produziert, die vom Hype profitieren wollten.

Colour of the Truth geriet schnell in den Verdacht ein solcher Abkömmling zu sein, nicht zuletzt wegen seiner Besetzung. Bedenkt man, dass Wong Jing, der Albtraum aller geschmackvollen Kritiker, diesen Film in die Wege geleitet hat, kann man davon ausgehen, dass Colour of the Truth auch so gedacht war. Die Story ähnelt Infernal Affairs aber nicht wirklich:

Die beiden Cops Wong (Anthony Wong) und Seven Up (Lau Ching-Wan) stehen sich auf einem Dach gegenüber, als Wong den Triadenboss “Blind” Chui (Francis Ng) festnehmen will. Nach dem Ende der Konfrontation ist Wong der einzige Überlebende der Drei. 10 Jahre später kommt Neuling Cola (Raymond Wong) in die Einheit Wongs. Er ist der Sohn Seven Ups und will Rache am Mörder seines Vaters üben.

Den inszenatorischen Fähigkeiten des Co-Regisseurs Marco Mak ist es wohl zu verdanken, dass Colour of the Truth so gut geworden ist. Der stylische, in ausgebleichten Farben gehaltene Film ist temporeich und spannend, trotz der fehlenden Motivation der Hauptfigur; die Figur Wongs ist viel zu sympathisch, als dass wir glauben könnten, der junge Cop könne sie töten.

Anthony Wong möchte man zwar hin und wieder zuflüstern, er solle mal seine Sonnenbrille abnehmen, damit wir sein Spiel besser verfolgen können. Seine Fähigkeit, innerhalb weniger Filmminuten einen glaubwürdigen, vielschichtigen Charakter auf Zelluloid zu bannen, erbringt allerdings einen nicht zu unterschätzenden Mehrwert für den Thriller.

Trotz der Storymängel ist Colour of the Truth ein spannender Thriller, dessen Actionszenen nicht enttäuschen. Selbst die eher ruhigen Momente – so pflegt Wong in einer Szene seinen gelähmten Vater – überzeugen dank der Besetzung. Groß ist Colour of the Truth aber nur in der Auftaktsequenz, die den Rahmen des Films bildet: Lau Ching-Wan, Francis Ng, Anthony Wong auf einem Dach, das ist sehenswertes Kino!


Mehr zum Thema Cat. III.
Ein lesenswerter Artikel über die Karriere Anthony Wongs.
Kritiken zum Hongkong Kino, inkl. Infernal Affairs.

Indy IV Trailer

Abfällige Bemerkungen über Fortsetzungen sind vielleicht auch an dieser Stelle angebracht, aber zwei Dinge versprechen, dass Indiana Jones and the Kingdom of the Crystal Skull sehenswert sein wird:

Der Score von John Williams und Cate Blanchett mit einer tollen Dominafrisur als böse Russin. Zumindest über den Zungenbrechertitel sollte das hinwegtrösten.

Steven Spielberg hat sich mit diesem Sequel, dass er gar nicht nötig hat – anders als Harrison Ford – einiges an Erwartungen aufgehalst. Der Trailer verspricht schon mal große Actionsequenzen. Der Charme der Originale wird aber nur schwer herauf zu beschwören sein.

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