Dieses Mal ein Kontrapunkt über noch relativ aktuelle Filme, die allesamt spätestens vergangenes Jahr in den deutschen Kinos liefen bzw. im nächsten Monat noch laufen werden. Und nein, ich habe mir „Sunshine Cleaning” nicht gesaugt, sondern habe mir den einmal mehr zusammen mit the gaffer zusammen in die Erfurter Sneak gegeben.
Slumdog Millionär (GB 2008)
Hier nun also noch irgend so eine Kritik zum am meisten über den Klee gelobten Film 2008. Die gute Nachricht vorweg: Ein Großteil der 8 Oscars für diesen Genre-Mix zwischen Armutsdrama, Liebesgeschichte und Thriller ist hochverdient (Kamera, Ton, Musik, Regie) und das ist nur einer der Gründe, warum dieses Feel-Good-Movie of the Year noch mehr Spaß macht.
Einziger Wermutstropfen: Bollywood hat damit auch den Westen erobert und ich kann mit Shahrukh Khan und den wüsten 2,5 Stunden-Genremixen mit Love-Story meets Actionfilm meets Musical-Epos nichts anfangen. Und dass man sich im indischen Kino auch unter britischer Regie nicht gänzlich von diesen für mich als Westeuropäer immer noch befremdlichen wie überladenen Dingen verabschieden will/kann, zeigt sich im Abspann, der dem vorhergegangenen bewegenden Seriös-Film eine unnötige Spaß-Musicalnummer bar jeglichem zuvor kolportierten Knallhartrealismus folgen lässt. Der Film berührt, aber man sollte schon mit Beginn des Abspanns und noch gänzlich unter dem visuell-akustischen Drogencocktail, den uns Slumdog Millionär bis dahin verabreichte, das Kino verlassen.
Sunshine Cleaning (USA 2008)
„Ein überdurchschnittlicher, aber entbehrlicher Independent-Film” trifft als Fazit wohl am besten zu. Irgendwie geht es in Sunshine Cleaning um das Schicksal der working class-Schwestern Norah (Emily Blunt) und Rose (Amy Adams), die zusammen eine Reinigungsfirma mit Namen – na? – Sunshine Cleaning eröffnen und bevorzugt an Tatorten nach der Spurensicherung Körperflüssigkeiten und ähnliches Gekröse von den besudelten Wänden entfernen. Natürlich fehlen ein spleeniges, seltsames Kind und ein schrulliger Großvater, der die seltsamsten Geschäftsideen hat, auch nicht im Figurenbrei. Alan Arkin ist in letzterer Rolle einmal mehr die Idealbesetzung und weckt nicht nur durch die Parallelen, was seine Rollenwahl angeht, Assoziationen zu „Little Miss Sunshine”. Nur dass „Little Miss Sunshine” wenigstens eine Story entwickelte, während man sich bei „Sunshine Cleaning” stets fragt, wann diese abseits der vorgetragenen, losen Episoden und Momentaufnahmen schwankend zwischen Drama Komödie endlich beginnt. Charmant, ja, aber inhaltlich dennoch irgendwie ziemlich planlos.
Ben X (B/NL 2007)
Ein Autist namens Ben (Greg Timmermans), der sich in der Computerwelt des Online-Rollenspiels „Archlord” ausleben kann, während er in der Schule von Mitschülern nur drangsaliert wird, setzt zum Gegenschlag an. Dabei ist Ben X ebenso berührend wie durch die zunehmende Verschmelzung von virtueller Realität und Alltag aus der subjektiven Sichtweise der Hauptfigur so faszinierend wie verstörend.
Man erlebt seinen von Anfeindungen und Unverständnis geprägten Alltag und seinen innerlichen Kampf mit, auch wenn Greg Timmermans hin und wieder bei seinem um Einfühlsamkeit bemühten Schauspiel die Augen etwas zu weit und wahnsinnig aufreißt. Schnelle Schnitte, unverhoffte Nahaufnahmen, kurze Inserts usw. strengen bei Sichtung dieses außergewöhnlichen Films mit noch außergewöhnlicherer Pointe, die es sich nicht so leicht macht wie das Klischee, an, reflektieren aber eindringlich den Seelenzustand des Autisten Ben, der in seiner eigenen Welt lebt. Ein Film der manchmal hart an den Nerven zerrt, anstrengt, vielleicht auch schwer zugänglich ist, aber durch die vielen Reflexionsmöglichkeiten lohnt.
Beim Slumdog kann ich deine doch sehr lobenden Worte nicht teilen und erst recht bei der Sache mit dem Oscar verdienen… die technischen und die Musi vielleicht, mehr nicht. Für den Drehbuchoscar hätte zumindest mal die Liebesgeschichte überzeugen müssen.
Und was Boyle da an Bollywood zeigt ist noch weniger als “Bollywood light” und, da stimm ich dir zu, unpassend. Schade, dass er unbedingt in die Klischeekiste greifen musste und dann auch nur was halbgares für westliche Augen erträgliches draus macht.
Was ist eigentlich “spleenig”?
“Und nein, ich habe mir „Sunshine Cleaning” nicht gesaugt”
Du musst dich hier nicht verteidigen, wir sind doch nicht in der OFDb! ;-)
Charmant, ja, aber inhaltlich dennoch irgendwie ziemlich planlos.
Wie schon beim Beitrag zuvor erwähnt, ich sehe den Film etwas positiver, obschon der natürlich eine Menge an Fehlern birgt. Planlos war die Handlung für mich nicht, nur wirkte sie teilweise, speziell in der ohnehin schwachen zweiten Hälfte, unausgegoren. Sehenswert finde ich den Film dennoch allemal.
Auch bzgl. SLUMDOG fallen mir hier arg harsche Worte. Den Film mit Bollywood gleichzusetzen, nur weil indische Schauspieler in einer indischen Geschichte spielen, bei der am Ende getanzt wird, halte ich für falsch. Aber der Film erhitzt ja ohnehin (wie jeder Oscargewinner des “Besten Film” anschließend immer) die Gemüter.
@ the gaffer:
Ich halte daran fest: Kamera, Musik, Ton und Regie sind hochverdient – von den anderen spreche ich ja auch gar nicht in meiner Kurzkritik ;-). Das Drehbuch ist schlimmster, wenn auch irgendwie alternativ umgesetzter amerikanischer “Vom-Tellerwäscher-zum-Millionär”-Aufstiegskitsch, der zeigt, dass durch die Globalisierung nun solche Stoffe auch “woanders” gefilmt werden und den Oscar nicht wert. Und beim besten Film gab’s dieses Jahr – nun ja – keinen Film, der besser gewesen wäre. Zumindest “Benjamin Button” und “Der Vorleser” waren keine ernsthafte Konkurrenz. “Milk” werde ich heute abend nun doch noch schauen.
Spleenig heißt übrigens: “einen Spleen haben, leicht verrückt sein” ;-)
Ja, die OFDb sucks, aber manchmal wage ich das aussichtslose Unterfangen, diesen Laden durch meine Kritiken irgendwie pimpen zu wollen… warum auch immer ;-).
@ Flo Lieb:
Sehenswert sind sowohl “Sunshine Cleaning” als auch “Slumdog Millionär”, ja. Bei ersteren kann ich auch deiner Beurteilung nur zustimmen, alles eine Sache der Wahrnehmung. Bei Letzterem mal eine Gegenfrage: Wenn indische Schauspieler in einer – wie du sagst – indischen Geschichte, die in Indien spielt zu sehen sind und am Ende getanzt wird: Wo ist er dann in Absehung des Regisseurs und Teilen des Stabs nicht Bollywood? Und dafür ist er ein erstaunlich gut gelungener Kompromiss geworden, der seine Wurzeln eben im Bollywood-Kino – mit dem ich eigentlich kaum etwas anfangen kann – aber nicht verdecken oder verleugnen kann. Das ist ja nicht schlecht, harmoniert aber nicht so wirklich mit einem “westlichen”, eher nüchternen, weniger pompösen Stil.
Zu “Bester Film” und dessen Berechtigung: siehe oben.
Naja, man muss sich ja nur mal einen klassischen Bollywood-Film ansehen, dann merkt man die Unterschiede zu Boyles Film finde ich schon.
@flo
Wenn Boyles Film keine Referenz an Bollywood ist oder sein soll, warum hat er dann peinlichst genau darauf geachtet alle 9 Rasas in seinem Film unterzubringen?
@Tumulder
Ich hab nicht gesagt, dass er Bollywood nicht referiert, sondern dass ich es für falsch halte ihn einem Bollywood-Film gleichzusetzen.
@ tumulder:
Was sind Rasas?
@ Flo Lieb:
Ich halte “Slumdog Millionär” ja auch für keinen typischen Bollywood-Film. Aber faktisch würde ich ihn doch als solchen klassifizieren. Die Merkmale habe ich ja schon aufgezählt, auch wenn der Film eben nicht so extrem emotional überhöht und überladen daherkommt, wie ich den Eindruck vom “echten” Bollywood-Kino habe.
Übrigens: Auch “Milk” ist ein sehr guter Film, aber ich weiß schon, warum er nicht Bester Film geworden ist. Dafür befasst er sich nämlich zu sehr mit Zeitgeschichte und der Rekonstruktion realer Ereignisse.
@luzifus
Das sind die neun überlieferten traditionellen Bestandteile der indischen Kunst, die jeder Bollywoodstreifen beinhalten sollte.
Slumdog Millionär – ein richtig toller Film, ein verdienter Sieger! ja, ein bisschen traurig, aber nicht alles in unserer Welt rosa ist, nicht? Empfehle ihn allen, die ihn noch nicht gesehen haben!