Diese Franzosen…

Franzosen sind seltsam. Das wissen wir nicht erst, seit ihre Filmelite die 100 besten Filme aller Zeiten gewählt und damit mal eben die ganze britische Filmindustrie auf ganzer Linie gedisst hat.

Die spinnen halt, die Gallier. Das beweist auch der folgende, höchst objektive Clip:

[youtube=http://www.youtube.com/watch?v=9V7zbWNznbs]

Die 100 besten Filme aller Zeiten… mal wieder

Womit verbringen Filmkritiker, wenn sie nicht gerade im Kino sitzen oder ihrem Beruf nachgehen, am liebsten ihre Zeit? Na Klar, sie machen Listen. Die besten Filme des Jahrzehnts, die besten Filmfiguren, die besten Kostüme von Marlene Dietrich und natürlich die Mutter aller Listen, die besten Filme aller Zeiten, dürfen in keinem Kritikernotizbuch fehlen.

Die Cahiers du Cinema, ihrerseits Mutter und wohl auch selten gesehener Onkel aller Filmzeitschriften, hat sich mal zur Freude aller Cineasten an einer solchen Liste versucht und zum Wohle eines demokratischen Wahlverfahrens ganze 78 Kritiker und Filmhistoriker befragt. Herausgekommen ist eine Zusammenstellung, die alles in allem die Zunft professioneller Listenerstellung nicht revolutionieren, dafür aber dennoch für einige Diskussionen sorgen dürfte.

…Trommelwirbel für die angeblich hundert besten Filme aller Zeiten:

[Zur Diskussion der Liste, bitte nach unten scrollen]

  1. Citizen Kane – Orson Welles
  2. The Night of the Hunter – Charles Laughton
  3. The Rules of the Game (La Règle du jeu) – Jean Renoir
  4. Sunrise – Friedrich Wilhelm Murnau
  5. L’Atalante – Jean Vigo
  6. M – Fritz Lang
  7. Singin’ in the Rain – Stanley Donen & Gene Kelly
  8. Vertigo – Alfred Hitchcock
  9. Children of Paradise (Les Enfants du Paradis) – Marcel Carné
  10. The Searchers – John Ford
  11. Greed – Erich von Stroheim
  12. Rio Bravo – Howard Hawkes
  13. To Be or Not to Be – Ernst Lubitsch
  14. Tokyo Story – Yasujiro Ozu
  15. Contempt (Le Mépris) – Jean-Luc Godard
  16. Tales of Ugetsu (Ugetsu monogatari) – Kenji Mizoguchi
  17. City Lights – Charlie Chaplin
  18. The General – Buster Keaton
  19. Nosferatu the Vampire – Friedrich Wilhelm Murnau
  20. The Music Room – Satyajit Ray
  21. Freaks – Tod Browning
  22. Johnny Guitar – Nicholas Ray
  23. The Mother and the Whore (La Maman et la Putain) – Jean Eustache
  24. The Great Dictator – Charlie Chaplin
  25. The Leopard (Le Guépard) – Luchino Visconti
  26. Hiroshima, My Love – Alain Resnais
  27. The Box of Pandora (Loulou) – Georg Wilhelm Pabst
  28. North by Northwest – Alfred Hitchcock
  29. Pickpocket – Robert Bresson
  30. Golden Helmet (Casque d’or) – Jacques Becker
  31. The Barefoot Contessa – Joseph Mankiewitz
  32. Moonfleet – Fritz Lang
  33. Diamond Earrings (Madame de…) – Max Ophüls
  34. Pleasure – Max Ophüls
  35. The Deer Hunter – Michael Cimino
  36. The Adventure – Michelangelo Antonioni
  37. Battleship Potemkin – Sergei M. Eisenstein
  38. Notorious – Alfred Hitchcock
  39. Ivan the Terrible – Sergei M. Eisenstein
  40. The Godfather – Francis Ford Coppola
  41. Touch of Evil – Orson Welles
  42. The Wind – Victor Sjöström
  43. 2001: A Space Odyssey – Stanley Kubrick
  44. Fanny and Alexander – Ingmar Bergman
  45. The Crowd – King Vidor
  46. 8 1/2 – Federico Fellini
  47. La Jetée – Chris Marker
  48. Pierrot le Fou – Jean-Luc Godard
  49. Confessions of a Cheat (Le Roman d’un tricheur) – Sacha Guitry
  50. Amarcord – Federico Fellini
  51. Beauty and the Beast (La Belle et la Bête) – Jean Cocteau
  52. Some Like It Hot – Billy Wilder
  53. Some Came Running – Vincente Minnelli
  54. Gertrud – Carl Theodor Dreyer
  55. King Kong – Ernst Shoedsack & Merian J. Cooper
  56. Laura – Otto Preminger
  57. The Seven Samurai – Akira Kurosawa
  58. The 400 Blows – François Truffaut
  59. La Dolce Vita – Federico Fellini
  60. The Dead – John Huston
  61. Trouble in Paradise – Ernst Lubitsch
  62. It’s a Wonderful Life – Frank Capra
  63. Monsieur Verdoux – Charlie Chaplin
  64. The Passion of Joan of Arc – Carl Theodor Dreyer
  65. À bout de souffle – Jean-Luc Godard
  66. Apocalypse Now – Francis Ford Coppola
  67. Barry Lyndon – Stanley Kubrick
  68. La Grande Illusion – Jean Renoir
  69. Intolerance – David Wark Griffith
  70. A Day in the Country (Partie de campagne) – Jean Renoir
  71. Playtime – Jacques Tati
  72. Rome, Open City – Roberto Rossellini
  73. Livia (Senso) – Luchino Visconti
  74. Modern Times – Charlie Chaplin
  75. Van Gogh – Maurice Pialat
  76. An Affair to Remember – Leo McCarey
  77. Andrei Rublev – Andrei Tarkovsky
  78. The Scarlet Empress – Joseph von Sternberg
  79. Sansho the Bailiff – Kenji Mizoguchi
  80. Talk to Her – Pedro Almodóvar
  81. The Party – Blake Edwards
  82. Tabu – Friedrich Wilhelm Murnau
  83. The Bandwagon – Vincente Minnelli
  84. A Star Is Born – George Cukor
  85. Mr. Hulot’s Holiday – Jacques Tati
  86. America, America – Elia Kazan
  87. El – Luis Buñuel
  88. Kiss Me Deadly – Robert Aldrich
  89. Once Upon a Time in America – Sergio Leone
  90. Daybreak (Le Jour se lève) – Marcel Carné
  91. Letter from an Unknown Woman – Max Ophüls
  92. Lola – Jacques Demy
  93. Manhattan – Woody Allen
  94. Mulholland Dr. – David Lynch
  95. My Night at Maud’s (Ma nuit chez Maud) – Eric Rohmer
  96. Night and Fog (Nuit et Brouillard) – Alain Resnais
  97. The Gold Rush – Charlie Chaplin
  98. Scarface – Howard Hawks
  99. Bicycle Thieves – Vittorio de Sica
  100. Napoléon – Abel Gance

Ein paar Anmerkungen, über die man streiten kann:

Die wievielte Liste ist das nun, die Citizen Kane auf Platz eins hievt? Egal, wie sehr Welles’ Film den Platz verdient hat, eine mutigere Entscheidung hätte zumindest für etwas Überraschung gesorgt.

Charles Laughtons Die Nacht des Jägers auf Platz zwei! Ist endlich eine Wiederentdeckung fällig? Wohl kaum, sagt das pessimistisch gestimmte Herz. Dennoch Daumen hoch für die Wahl!

Jean Renoir auf Platz drei… verdammt, die BFI-DVD ist vollkommen überteuert. Bis zur Preissenkung oder deutschen DVD-Veröffentlichung muss das abgenutzte Videoband genügen.

Es folgen die üblichen Verdächtigen, denen man ohne schlechtes Gewissen zustimmen kann.

Chaplin gewinnt knapp vor Keaton. Schade. Das aber ist Geschmackssache, ich geb’s zu.

Ein bisschen Asien wurde auch untergebracht mit Ozu, Mizoguchi und Ray. Auffallend: Es fehlen moderne Regisseure wie Wong Kar-Wai, John Woo, Park Chan-Wook, Takeshi Kitano, Zhang Yimou, Kim Ki-Duk oder Takashi Miike. Zu diesem Grundproblem später mehr.

Die Verachtung (15) (Yay!)

Der Leopard (25) (Yay!)

Panzerkreuzer Potemkin landet relativ weit hinten auf Platz 37, ebenso Der Pate (40), (46) und Kurosawa (Die Sieben Samurai, 57).

Alfred Hitchcock hat es dreimal auf die Liste verschlagen. Vertigo (8) und Der Unsichtbare Dritte (28) sind nachvollziehbar, Berüchtigt (38) weniger. Wo sind “Psycho”, “Die Vögel” und v.a. “Das Fenster zum Hof”? Zeigt sich hier doch einmal das wagemutige Wesen der Franzosen?

Mit 2001: Odyssee im Weltraum (43) und Barry Lyndon (67) schafft es Stanley Kubrick verdient zweimal auf die Liste. Der vielfach unterschätzte “Barry Lyndon” erfreut besonders, schließlich schreien “Uhrwerk Orange” oder “Full Metal Jacket” penetranter nach Aufmerksamkeit.

Die Scharlachrote Kaiserin von Josef von Sternberg auf Platz 78! Yay!

Wow, ein aktueller Film ist auch zu finden! Pedro Almodovars Sprich mit ihr hat es immerhin auf Platz 80 geschafft. Das kommt ja fast schon der vermissten Revolution gleich. Aber nur fast.

Der Partyschreck mit Peter Sellers hat sich auf Platz 81 in eine Bestenliste geschlichen! Num num!

Und noch ein aktuelles Werk: Mulholland Drive (94) von David Lynch. Sind sie denn noch ganz bei Trost? Da hat sich aber jemand in eine Videothek geschlichen.

Howard Hawks, Vittorio de Sica und Abel Gance schließen diese Top 100 ab und das Fazit lautet: Französische Cineasten scheinen in einer Zeitblase gefangen zu sein. Zumindest die Wahlberechtigten haben sich irgendwann in den Achtziger Jahren den Kinobesuch abgewöhnt, um nur noch ihre alten Cahiers-Ausgaben zu streicheln, heimlich, still und leise in ihrem Kämmerchen, das wahrscheinlich von Asta Nielsen-Plakaten geziert wird.

Glaubt man der Liste, hat das deutsche Kino seit dem Ende der Stummfilmzeit aufgehört zu existieren. Wie kann man sonst das Fehlen von Rainer Werner Fassbinder erklären? Vom Neuen Deutschen Film sei hier gar nicht erst die Rede.

Die Deutschen können sich jedoch noch glücklich schätzen, denn eine andere europäische Nation hat es wesentlich schwerer getroffen. Der tendenzielle Minderwertigkeitskomplex, mit dem die Briten ihre Filmgeschichte betrachten erhält durch diese Liste weitere Nahrung, denn KEIN britischer Film hat es unter die hundert Besten geschafft! Nun könnte man beruhigend mein: Tja, die Iren haben auch keinen. Aber das  Argument dürfte niemanden aus der Depression retten.

Wer mit dem britischen Film ausschließlich sozialkritisches Kino verbindet, vergisst, dass David Lean (“Oliver Twist”, “Lawrence von Arabien”) dazu zählt, ebenso wie Carol Reed (“Der Dritte Mann”) und Michael Powell (“Irrtum im Jenseits”, “Peeping Tom”). Dies sind noch die gängigen Regisseure, die internationale Bestenlisten bevölkern.

Die unzähligen französischen Meister, denen stattdessen ein Platz zugestanden wurde, sollten wohl zum Zweifel an der breiten Auswahlbasis des ganzen Vorhabens berechtigen. Die Notwendigkeit der Nennung von Jean Renoir, Marcel Carné oder Alan Resnais sehe ich ein, eine Bestenliste ist ohne Die Spielregel oder Kinder des Olymp einfach unvollständig. Ist aber ein Zugeständnis von zwei oder drei Filmen für diese Regisseure gerecht? Müsste dann nicht auch der große Ingmar Bergman durch mehr als nur einen Film (Fanny und Alexander, 44) vertreten sein? Der offensichtliche Faible der Wähler für klassische Auteurs würde dafür sprechen.

Eine gleichmäßigere Verteilung der Filme pro Regisseur (z.B. nicht mehr als zwei) hätte vielleicht wenigstens dem internationalen Kino der letzten 25 Jahre zum Einzug in die Bestenliste verhelfen können. Das Argument, Filme sollten sich erstmal über Jahrzehnte hinweg bewähren, wird an dieser Stelle abgeschmettert, schließlich hat die Liebe der Wähler für Autorenfilmer aktuellen Filmen von Almodovar und Lynch den Weg in die Liste geebnet.

Ich bin beileibe nicht der Typ Cineast, der Pulp Fiction oder Fight Club in die Top 20 aufnehmen würde, aber wenn selbst Werke von Sam Peckinpah, Martin Scorsese, Robert Altman und Terrence Malick fehlen, verleitet die Auswahl unweigerlich zum Stirnrunzeln. Zugegeben, eine Bestenliste, die zur Abwechslung mal Die Verurteilten übersieht (der absolut nichts auf so einer Liste zu suchen hat) ist ein seltenes Vergnügen. Die fast völlige Ignoranz gegenüber der neueren Filmkunst, geschweige denn der Kinos der Zweiten und Dritten Welt, untermauert jedoch schlussendlich die Unglaubwürdigkeit des ganzen Unterfangens.

Alternativen:

Die Top 100 vom Time Magazine (ungeordnet).

Die Top 100 von Entertainment Weekly.

Empire hat mal eben die 500 (!) besten Filme aller Zeiten wählen lassen.

Die von den Usern gewählte Top 250 der IMDb. Platz eins: “Die Verurteilten”.

Sight and Sound führt alle zehn Jahre einen Top Ten-Poll durch. Die Ergebnisse vom letzten (2002) und allen davor findet man hier.

Bei Britmovie wählen die User tagtäglich die hundert besten britischen Filme aller Zeiten.

Das American Film Institute hat natürlich auch nichts besseres zu tun, als regelmäßig die 100 besten amerikanischen Filme aller Zeiten zu wählen.

Spoiler Time

100 Filmenden in 5 Minuten werden in dem folgenden Video auf höchst unterhaltsame Art und Weise verraten. Meine Favoriten: “Meg’s Many Men”, “Spacey Spoilers” und das Ende von “Die Passion Christi”: Jesus gets killed.

Wer hätte das gedacht?

[youtube=http://www.youtube.com/watch?v=hN5avIvylDw]

Fokabular: Auteur

Im letzten und ersten Beitrag zur Klärung filmwissenschaftlicher Grundbegriffe hatte ich ja noch angekündigt, dass es sich hier primär um formales Fachgesimpel handeln würde, d.h. die Fachbegriffe zur Beschreibung formaler filmischer Darstellungsweisen im Blickpunkt der Aufmerksamkeit stehen würden. Diese werden auch weiterhin das Hauptaugenmerk der Kategorie darstellen. Heute soll jedoch eine Ausnahme gemacht werden für den ominösen Begriff des “Auteurs”.

Man könnte ihn schlicht und sehr deutsch als Autor oder Urheber bezeichnen, aber das wäre ziemlich langweilig und mit französischen Wörtern lässt sich ein selbstverliebter Studentenintellektualismus wesentlich leichter zelebrieren.

Jeder, der schon mal eine Filmkritik schreiben musste oder wollte, hat zu einem hohen Prozentsatz zumindest indirekt auf den Auteur zurückgegriffen. Denn anders als bei einem literarischen, musikalischen oder einem Werk der bildenden Kunst, ist der Urheber eines Films nur schwer auf einen einzigen Namen festzunageln.

Schreibt man also eine Kritik mit der Absicht, nicht seitenweise auf den Kameramann, den Cutter, den Drehbuchautor, den Rigging Gaffer oder gar den Best Boy einzugehen, sondern irgendwann mal zum Punkt zu kommen, wird man schnell zum einfachen Ausweg verleitet: Der Regisseur ist schuld.

Dem Inhaber des Regiestuhls wird die künstlerische Verantwortung, Lob und Tadel, der Einfachheit halber zugeschoben, da ein differenzierteres Urteil für den Zuschauer aus nachvollziehbaren Gründen meist schon bei Schnitt, Drehbuch und Kamera an seine Grenzen stößt. Der Regisseur hält schließlich alle Fäden in der Hand. Aber hat nicht gerade in Hollywood der Produzent die eigentliche Macht?

Hier in Europa sei einmal Bernd Eichinger in Gedächtnis gerufen, der zwar mit einigen namhaften Regisseuren (a.k.a. Auteurs) zusammengearbeitet hat, wie Tom Tykwer oder Bernardo Bertolucci, aber seinen Großproduktionen immer auch den eigenen Stempel aufdrückt. Sein Hang, die komplette deutsche Schauspielelite in einen Film zu quetschen, ist eines der auffälligeren Merkmale, ebenso seine Vorliebe für literarische Stoffe wie “Das Parfüm” oder “Der Baader-Meinhof-Komplex”.

Um das Problem mit einer viel zu oft genutzten Floskel zu fokussieren: Die Grenzen sind fließend. Während Thomas Mann eindeutig für den “Zauberberg” verantwortlich ist und auch an der Urheberschaft J.M.W. Turners an seinem “Sklavenschiff” niemand ernsthaft zweifelt, kann jeder Hitchcocks Vertigo begutachten und dem Hitch-Fan entgegenhalten: Ja, aber die Musik stammt doch von Bernard Herrmann, die Kamera hat er nicht selbst geführt und das Drehbuch auch nicht geschrieben. Dennoch ist Alfred Hitchcock eines der Paradebeispiele für die Auteur-Theorie.

Als Wurzel allen Übels bzw. als die Advokaten der Erleuchtung werden heute die französischen Filmkritiker der Cahiers du Cinema angesehen. Beeinflusst durch die Schriften ihres Mentors Andre Bazin stellten junge Kritiker wie Francois Truffaut oder Jean-Luc Godard in den 50er Jahren die Forderung, eine persönliche moralische oder philosophische Handschrift solle in Filmen erkennbar sein. Später wurde das Konzept in der englischsprachigen Welt durch Andrew Sarris als Auteur-Theorie bekannt.

Eine “subjektive Haltung” war für Godard, Truffaut und andere in den Filmen Jean Renoirs, Howard Hawks und eben Alfred Hitchcocks zu erkennen. Viele der so wiederentdeckten Regisseure waren zuvor v.a. als Handwerker der Massenware bekannt gewesen, schließlich schreien die Western Anthony Manns oder Samuel Fullers weniger offensichtlich nach der Aufmerksamkeit von Kritikern als die Filme Roberto Rosselinis.

Stets zu beachtender Hintergrund dieser Wendung zum Auteur war und ist der Wunsch, das relativ junge Medium Film neben den alteingesessenen Künsten zu etablieren. Ein auf industrieller Arbeitsteilung beruhender, im nachhinein kaum zu überblickender Entstehungsprozess ist da nicht gerade hilfreich.

Dem Film als Kunst Anerkennung zu verschaffen, das schien zu dieser Zeit nur durch die Angleichung des Vokabulars an die Literatur möglich. So wurde mit dem Konzept des Auteurs letztendlich die Annahme auf den Film übertragen, dass ein künstlerisches Genie hinter einem Film stehen kann.

Für die Kritiker der Cahiers war jedoch nicht jeder Regisseur zugleich ein Auteur. Unterschieden von diesem wurde noch der “Réalisateur”. Der Réalisateur ist, wenn man so will, der Kino-Handwerker. Seine Filme können auf inhaltlicher oder formaler Seite der Perfektion zustreben, doch sein künstlerischer Einfluss geht selten über die Vorlage des Drehbuchautors hinaus.

Der Auteur kann hingegen an seinem Größenwahn scheitern oder nur ein unvollkommenes Meisterwerk drehen und doch ist in jeder Einstellung seine Persönlichkeit, seine Haltung spürbar. Deshalb sind seine gelungenen Filme dazu in der Lage, den Zuschauer auf besondere Weise zu berühren.

Da ist schon mal von der “enormen Zärtlichkeit” gegenüber ihren Figuren und “kleinen Schönheiten”, die es zu entdecken gibt, die Rede. Formale Innovationen etwa der Mise en Scène gehören naturgemäß ebenfalls zu den Merkmalen, die den Stil eines Auteurs prägen können.

Vom Kritiker und Filmliebhaber zum Regisseur war in den 50er Jahren der Weg nicht weit, so dass aus Eric Rohmer, Jean-Luc Godard und eben Francois Truffaut sehr bald selbst Autorenfilmer wurden, die den Grundstein für die Nouvelle Vague legten. Das Konzept des Auteurs ist gerade bei Ansicht ihrer Filme nachvollziehbar. Betrachten wir beispielsweise Die Amerikanische Nacht von Truffaut, fällt – mal abgesehen vom Fakt, dass Truffaut hier einen Regie-Handwerker, also nicht sich selbst, spielt – die Thematisierung seiner eigenen Cinephilie ins Auge.

Sinnbild dafür ist eine Traumsequenz, in welcher Ferrand (Truffaut) als kleiner Junge zu sehen ist, wie er Aushangfotos für Citizen Kane aus einem Kino stiehlt. Dieser Moment ist tatsächlich höchst berührend und natürlich zugleich subjektiv geprägt. Schließlich offenbart Truffaut hier seine Verehrung für den großen Auteur Orson Welles.

Die subjektive Haltung des Auteurs äußert sich nicht nur in der Selbstreferenzialität des Mediums. Nicht jeder Auteur muss das Kino selbst thematisieren, wie es Godard in Die Verachtung tut, wenn er der Regielegende Fritz Lang eine Rolle gibt.

In Sie küssten und sie schlugen ihn verarbeitet Truffaut seine eigene Jugend bis ins Detail. So lebt sein Film-Alter Ego Antoine Doinel genau wie er selbst bei seiner Großmutter bis diese stirbt, um dann mit seiner Mutter und seinem Stiefvater zusammen zu wohnen, regelmäßig die Schule zu schwänzen, Diebstähle zu begehen usw.

Ein Auteur präsentiert nich zwangsläufig seine privaten Probleme auf dem Tablett, wie es Truffaut oder Godard getan haben. Wiederkehrende Themen, die sich durch ihre ganzes Werk ziehen und damit einhergehend eine gewisse künstlerische Kontrolle, machen den Auteur jedoch aus. Man denke nur an Hitchcocks Vorliebe für kühle Blondinen, die komplizierten Mutter-Sohn-Beziehungen und sein beliebtes Handlungsschema über einen unbescholtenen Bürger, der zu Unrecht verfolgt wird.

In den Filmen eines modernen Auteurs wie Michael Mann lassen sich ebensolche Konstanten auffinden, während die Filme eines Handwerkers wie Brett Ratner uninspirierte Auftragsarbeiten darstellen. Auch wenn die Titulierung als Handwerker eine abwertende Note trägt, wurde die Unterscheidung zwischen Auteur und Réalisateur ursprünglich nicht auf einer wertenden Ebene genutzt. Dennoch wurden die Filme eines Auteurs dem steril perfekten (französischen) Kino der damaligen Zeit vorgezogen.

Die Einführung des Auteur-Begriffes führte in Europa letztendlich zu einer Bedeutungsverlagerung von narrativer Perfektion zur Betonung der subjektiven und damit womöglich ungewöhnlichen Perspektive auf die Welt. In Hollywood wurden die wiederentdeckten Auteurs der Studiozeit durch das New Hollywood abgelöst.

Berühmte Beispiele für für heutige amerikanische Regisseure, deren distinkter Stil und thematische Konstanten zur Nutzung des A-Wortes herausfordern, sind Steven Spielberg und Martin Scorsese.

Ersterer, ein Scheidungskind, dreht z.B. seit über 20 Jahren immer wieder Filme mit problematischen Vaterfiguren, letzterer schafft es, in so gut wie jedem Werk seine italo-amerikanische Einwandererherkunft und den Katholizismus anzusprechen.

Abgesehen von der Therapiefunktion, die das Filmemachen für einige Auteurs anzunehmen scheint, sollte er in der Lage sein, seinen Stil trotz unterschiedlichster Vorlagen erkenntlich zu machen. Scorsese schaffte  eben das auch ohne seinen Stammautor Paul Schrader. Nicht zufälligerweise vertrauen berühmte Auteurs oftmals auf dieselbe Crew. Spielbergs Filme werden seit 1979 von Michael Kahn geschnitten, von John Williams komponiert und seit rund 10 Jahren steht Janusz Kaminski hinter der Kamera.

Einfacher, den Stil an einer Person festzumachen, ist es da noch bei Stanley Kubrick, dessen Filme kaum jemals denselben Cutter oder Kameramann hatten. Dennoch ist die Handschrift des Regisseurs sofort erkennbar, ob man nun “Wege zum Ruhm”, “Uhrwerk Orange” oder “Eyes Wide Shut” heranzieht.

Dem Auteur-Konzept ist eine gewisse Idealisierung der Position des Regisseurs im Prozess des Filmemachens zu eigen. Gleichfalls verkennt seine Überhöhung des Künstlergenius’ andere Einflüsse auf die Autorschaft. Der oben genannte Paul Schrader könnte das Siegel als Drehbuchautor ebenso  verdienen. Oder man stelle sich Lost in Translation in den Händen eines anderen Regisseurs vor. Mit Bill Murray wird die Veränderung kaum auffallen. Ohne ihn ist der Film unvorstellbar. Seine Persönlichkeit ist für die emotionale Wirkung prägend, nicht die Sophia Coppolas.

Ausgehend von der Tendenz, Regisseure hierarchisch nach “Auteur” und “nur Réalisateur” zu werten, hat die  offenkundige Unschärfe der Theorie in Folge also zu einiger Kritik geführt. Schließlich wird dem Handwerker ein gewisser Grad an Originalität abgesprochen, sofern er keine Nabelschau betreibt. Auch verleitet die Unterscheidung zu unverdienter Nachsicht gegenüber dem gescheiterten Auteur. Von der Missachtung der künstlerische Leistungen Anderer während des Prozesses des Filmemachens ganz zu schweigen.

Der Poststrukturalist Roland Barthes verkündete 1968 sogar den Tod des Autors. Bezogen war sein Aufsatz auf die Literatur. Er ist aber auch anwendbar auf den Film. Demnach besteht jeder Text aus einer Vielzahl anderer Texte aus einer Reihe von Kulturen. Erst beim Leser (sprich: Zuschauer) werden die Bedeutungseinheiten zusammengesetzt.

In den letzten zwanzig Jahren wird die Titulierung “Auteur” bewusst zur Vermarktung von Filmen eingesetzt. Bestes Beispiel hierfür ist Quentin Tarantino, der Filme auf DVD-Hüllen “präsentiert”, mit deren Produktion er nicht das geringste zu tun hatte.

Für den Filmkritiker bleibt das Konzept jedenfalls Anlass zur Reflexion. Denn auch wenn man dem Kult des Regisseurs nicht verfallen ist, kann man die persönliche Note und Wiedererkennbarkeit in den Filmen von Guillermo Del Toro, Terrence Malick oder Darren Aronofsky kaum ignorieren. Der Auteur ist eben noch lange nicht verschieden. Von Zeit zu Zeit geistert er nur unter dem Pseudonym des “großen Regisseurs” durch den Blätterwald.


Literatur:

 

Koebner, T. (Hrsg.): Reclams Sachlexikon des Films, Stuttgart 2002

The Machine Girl (J/USA 2008)

Noch vor Einsetzen des Vorspanns von Noboru Iguchis The Machine Girl künden die reißerische Inszenierung und der verschwenderische Umgang mit vollkommen übertriebenen Blutfontänen vom Wesen der folgenden 96 Minuten. Nein, es ist keine feministisch angehauchte Science-Fiction-Meditation. Auch handelt es sich nicht um einen sozialkritischen Film über ausgebeutete Arbeiterinnen in Top Ramen-Fabriken. “The Machine Girl” ist stattdessen ein Trashfilm, wie ihn wohl nur die Japaner auf die Leinwand bringen können. Während anderen Regisseuren die Idee, ein Schulmädchen mit einem Maschinenpistolenarm auf eine tödliche Vendetta zu schicken, für einige unterhaltsame Geschmacklosigkeiten genügt hätte, baut Noboru Iguchi aus Spaß an der Freude Yakuza, Ninjas(!) und sogar eine fliegende Guillotine ein. Da verwundert es nicht, dass der Trailer des Films seine Attraktionen der Tradition von B- und C-Filmen entsprechend anpreist. Mit fetten gelben Buchstaben, das versteht sich.

Die recht platt gestrickte Geschichte erzählt von der Schülerin Ami (Minase Yashiro), die den Mord an ihrem Bruder rächen will, dabei ihren Arm verliert und mit Hilfe von einem KFZ-Mechanikerpärchen zur ihrer protzigen Wunderwaffe kommt. Ein Mädchen – natürlich die ganze Zeit ihre knappe Schuluniform tragend – das mit ihrer Protese Horden von Yakuza-Kiddies niedermäht; die Idee an sich ist High Concept à la carte, wie sie ein guter Trashfilm sich nur wünschen kann. Die von vornherein veranschlagte Einfachheit kann als ein erster Trumpf des Films gesehen werden. Iguchi gibt gar nicht erst vor, auf eine Sinn ergebende Story aus zu sein. Warum sollte er auch, schließlich stehen ihm Kampfszenen zwischen peinlich verkleideten Ninjas und einem mordlustigen Mädel zur Verfügung. Trumpf Nummer Zwei ist sein Verzicht darauf, sich nach der Einführung seiner Heldin einzig auf den Unterhaltungsfaktor von Blutfontänen zu verlassen. Der ist auf Dauer schließlich begrenzt.

Stattdessen beweist der Film bei den unzähligen Tötungs- und Verstümmlungsszenen seine ungebremste Phantasie. Abgetrennte Köpfe im Mittagessen und Sushi aus menschlichen Fingern sind da noch die konventionelleren Ausprägungen. Wenn hingegen ein Arm im Tempura-Stil frittiert wird, läuft der Zuschauer Gefahr, sein Bier vor Lachen über den Vordermann im Kinosaal zu versprühen. Ausgangsbasis des Unterhaltungspotenzials ist natürlich eine gewisse Offenheit gegenüber den Freuden des schlechten Geschmacks. Bei wem angesichts von Teenagern, die sich gegenseitig die Gliedmaßen abhacken, die Alarmglocken der Political Correctness läuten, mag der Genuss des Films höchstens zu einem besorgten Stirnrunzeln führen. Pflegt man allerdings einen Faible für intentional gedrehten Trash, der seine schlechten Gore-Effekte und die diversen abwegigen Einfälle mit Stolz vor sich her trägt, ist The Machine Girl absolut empfehlenswerte Kost.

Einziger Kritikpunkt sind ein paar der wenigen lang geratenen Passagen, die sich nicht gerade für eine bierselige Mitternachtsvorstellung eignen. Da Iguchi die melodramatischen Momente jedoch immer wieder ironisch bricht und die Heldin uns zuweilen zuzuzwinkern scheint, als wäre sie sich über den Spaßfaktor ihrer traurigen Story bewusst, fallen die wenigen Längen von “The Machine Girl” nicht weiter ins Gewicht. Man möchte ihr vielleicht nicht auf der Straße begegnen, aber man kann nur hoffen, dass das Machine Girl eine europäische DVD-Auswertung erhält. Am besten ist der Film wie seine Genregenossen in Anwesenheit von Freunden blutiger Ausschweifungen zu genießen.


Zum Weiterlesen:
Beiträge zum Exground Filmfest 2008 in Wiesbaden.