Der entrückte Reigen der Hoffnung (Marat/Sade, GB 1967)

Gesang und Tanz sind nicht die ersten Dinge, die gemeinhin mit der französischen Revolution verbunden werden. Doch Regisseur Peter Brook nimmt das Theaterstück Die Verfolgung und Ermordung Jean Paul Marats, dargestellt durch die Schauspielgruppe des Hospizes zu Charenton unter Anleitung des Herrn de Sade von Peter Weiss und lässt seine Schauspieler singen und tanzen. Ständig brechen Musicaleinlagen in die Handlung ein, wodurch sich die Atmosphäre zu einem beißenden Mitleiden des Zuschauers verdichtet. Musicals sind eruptive Freudentänze. Nicht hier. Denn nicht die Entmachtung der Adligen wird gefeiert, sondern die Hysterie der Figuren, welche immer wieder den Schrecken erleben, der den ständig enttäuschten Hoffnungen folgt.

Wir schreiben den 13. Juli 1808. Napoleon ist Kaiser und auf dem Höhepunkt seiner Macht. Er hat Frankreich aus den Klauen einer vulgären Revolution befreit und es auf den Weg in ein aufgeklärtes Zeitalter geführt. So möchte es zumindest die offizielle, napoleonische Geschichtsschreibung. Um diese Aufgeklärtheit zu verdeutlichen soll der Marquis de Sade mit seinen Mitinsassen der Heilanstalt Charenton ein Theaterstück aufführen. Als Thema wählt dieser die Ermordung Jean Paul Marats, welcher während der Französischen Revolution als Vorsitzender der Jakobiner Partei und Herausgeber der Zeitschrift “L’ami de peuple” (Der Volksfreund) den Terror durch die Guillotine mit einleitete. An dieser Stelle … mit Start der Aufführung setzt der Film ein und wird die durch Gitter vom Publikum getrennte Bühne nie verlassen. Aus diesem scheinbaren Nachteil macht Brook aber seinen größten Vorteil. Nie verfällt er in die Beliebigkeit einer Theaterverfilmung, obwohl er tatsächlich nur die Aufführung auf einer Bühne abfilmt. Fast immer sind die Wände und Gitter im Bild zu sehen, doch der Ort verliert seinen kargen Realitätsgehalt und wird mit einer vollständigen Welt gefüllt. Einer Welt der Empörung, der Hoffnung und des Verfalls.

Fast schon spielerisch verbinden dabei die Autoren de Sade, Weiss und Brook die verschiedenen Ebenen von Charenton. Jede Minute der Handlung bezieht sich auf die Revolution, die Anstalt, die westliche Welt des Jahres 1967 sowie das hier und jetzt. Der Ruf der Figuren nach Freiheit kann nicht von dem Ruf der Insassen der Heilanstalt, welche sie verkörpern, getrennt werden. So fallen die Darsteller auch immer wieder aus der Rolle und schlafen ein oder werden von ihrem pathologischen Sexualtrieb übermannt. Die Trennung zwischen Rolle und Schauspieler verwischt nicht, sie hat nie bestanden. Bezeichnenderweise wird Marat, vom Verfolgungswahn gehetzt, von einem Paranoiker gespielt. Mit subversiven Witz und atemlosen Schrecken werden die Ebenen des Wahnsinns gebrochen und vereint. Die Frage nach der Gerechtigkeit der Welt stellt de Sade in die Kamera und meint damit die Zuschauer des Stücks und des Films. Niemand steht außen vor und genau daraus gewinnt The Persecution and Assassination of Jean-Paul Marat as Performed by the Inmates of the Asylum at Charenton Under the Direction of the Marquis de Sade seinen mitreißenden Sog.

Zentral auf besagter Bühne steht eine Wanne. In ihr sitzt der an Skrofulose leidende Marat. Er sieht sich von Verrätern der Revolution umgeben, von heimlichen Royalisten, welche die Revolution sabotieren möchten. Die einzige Möglichkeit zur Rettung stellt für ihn das Guillotinieren der Verdächtigen dar. Auf dass durch den Terror eine gerechte Welt ohne Hunger und Not entstehe. Doch die bluttriefende Realität ist uneingeschränkte Paranoia. So kommt die junge Charlotte Corday nach Paris, um Marat zu töten, die Macht der Jakobiner zu brechen und die blutigen Wogen der Revolution zu glätten. Dieser Handlungsstrang bleibt der Einzige, der in Raum und Zeit zu Verorten ist, denn die Darstellung der Revolution dient den beiden Regisseuren, de Sade und Brook, nur um sich mit der Frage auseinanderzusetzen, ob eine gerechte Welt mit entmenschlichter Gewalt erreichbar ist. Die Figuren schreien, weinen, zweifeln, disputieren manisch … alles miteinander und mit dem Publikum. Immer wieder fällt das Stück aus der Rolle. Zensoren unterbrechen, de Sade kürzt oder redet direkt mit dem Publikum. Eines bleibt klar: dass Gitter und Leinwand nur einen marginalen Schutz bieten. In der Arena von Charenton stehen sich somit der grausame Individualismus de Sades und der kollektiven Massenmord Marats gegenüber. Auf einer anderen Ebene sitzt Nietzsche über die kommunistische Utopie Lenins, Trotzkis und Stalins zu Gericht. Vielleicht ringt aber auch die Schönheit menschlicher Gewalt mit der Entmenschlichung dieser zu einem Werkzeug der Erreichung von grenzenloser Gleichheit.

Dass dies nicht zu einem verkopften Diskurs verkommt, ist ein kleines Wunder, erreicht durch Gesang und Tanz. Diese lockern nicht nur die Stimmung auf, sondern geben dem Ruf nach einer besseren Welt seinen perfekten Ausdruck, dem sich niemand entziehen kann. The Persecution and Assassination of Jean-Paul Marat erschafft so ein Panoptikum der Wahnsinnigen und Hoffenden, die sich singend, tanzend und aus der Rolle fallend auf die Suche nach einer gerechten Welt begeben, die sie von Marats Wanne in Charenton aus zu erreichen hoffen. Ihnen zu folgen lohnt sich.


Dieser Text wurde bereits bei der Aktion Lieblingsfilm auf moviepilot.de veröffentlicht.

Videoessay: Jim Emerson seziert The Dark Knight

Als nützliche Ergänzung zu jenem Post über den Niedergang des Actionkinos gibt es hier einen neuen Videoessay von Jim Emerson, der für PressPlay eine Actionsequenz aus The Dark Knight auseinander genommen hat. Man könnte anführen, dass Emerson etwas zu genau vorgeht und unnötig kleinlich ist, aber ich finde den Clip schon allein deswegen sehr reizvoll, weil er detailliert aufzeigt, wie die Action aufgebaut ist, welche Regeln aus dem Handbuch der Filmemacherei gebrochen werden und wie sie funktioniert bzw. nicht funktioniert. Das Zitat von Scorsese erscheint in diesem Kontext jedoch wie ein Schuss in den eigenen Fuß. Sehenswert ist das Video aber allemal.

Bei Emersons empfehlenswertem Blog Scanners ist die Diskussion derweil im vollen Gange. Dort hat sich Jim Emerson in den vergangenen Jahren immer wieder über die Filme von Christopher Nolan geäußert. Zusammengefasst hat er seine Meinung vor einer Weile bei msn.

Der vorliegende Videoessay ist übrigens nur der erste Teil einer geplanten Reihe namens “In the Cut”, die bei PressPlay in regelmäßigen Abständen gepostet werden soll.


 

Der unvermeidliche Abstieg des Ernst Stavro Blofeld

Eine knappe Ansammlung persönlicher Notizen mit einigen Spoilern

Es gibt Filmfiguren, die werden verehrt, weil sie unseren Wünschen entsprechen. Von ihnen geht eine Faszination aus, weil sie unsere Helden und selbst mit ihren Fehlern perfekt sind. Ferdinand Griffon ist ein solcher Held für mich. Dann gibt es Figuren, die uns gerade faszinieren, da wir sie abstoßend finden (bei mir zum Beispiel Jens Albinus) oder weil von ihnen ein anziehender Schrecken ausgeht (Thulsa Doom). Eine meiner liebsten Leinwandpersönlichkeiten ist Ernst Stavro Blofeld, für gewisse Zeit der Erzfeind von James Bond, aber nicht weil er auch nur in einem Film wirklich überzeugen kann, sondern weil meine Vorstellungen von ihm überlebensgroß sind. Der Grund dafür liegt wahrscheinlich darin, dass ich ihn über seine Abbilder kennen gelernt habe. Aber schauen wir uns erst einmal die Nummer Eins von S.P.E.C.T.R.E. an.

Blofeld und S.P.E.C.T.R.E. tauchen bei Ian Fleming gerade einmal in drei Büchern auf. Es sind die zu den letzten Romanen der Reihe gehörenden Thunderball, On Her Majesty’s Secret Service und You Only Live Twice. Vorher hatte James Bond oft mit Handlangern der SMERSH zu tun gehabt, dem eigentlich seit 1946 aufgelöstem Nachrichtendienst der UdSSR, doch mit der Entspannungspolitik entschied sich auch Fleming, andere Gegner zu suchen. So ließ er ein globales Verbrechersyndikat auftauchen, welches von einem gewissen Ernst Stavro Blofeld geleitet wurde. „[…]zwei Augen, die tiefen Teichen gleichen, umgeben, »wie die Augen Mussolinis«, von zwei Skleren von sehr klarem Weiß, […] die einen an Puppenaugen denken läßt, auch wegen der schwarzen, seidigen Frauenwimpern […] Der Gesamteindruck ist der der Verstellung, Tyrannei und Grausamkeit ‘auf shakespeareschem Niveau’; er wiegt 120 Kilo.“[i] Am Anfang seiner Karriere arbeitet er in einem polnischen Telegrafenamt und fängt an mit geheimen Informationen zu handeln. Hier liegt der Ausgang von  S.P.E.C.T.R.E., das Syndikat, welches in einigen Verfilmungen den Platz der SMERSH einnehmen sollte (Dr. No, From Russia With Love).

Ian Fleming gibt Blofeld alles mit, was ihm Angst bereitet. Er ist sexuell nicht „normal“ (asexuell), nicht reinrassig (polnischer Vater, griechische Mutter), hat einen Bürstenschnitt und ist von niederer Herkunft. Doch all diese Beschreibungen sind die Krux. Sie machen aus Blofeld einen Bösewicht, der sich nur durch seine Organisation von den anderen Gegenspielern Bonds unterscheidet. Die Filme versuchen, aus ihm etwas Einzigartiges zu machen und nicht nur eine Schreckgestalt für Fleming. Sie reißen ihm die flemingschen Charakteristika vom Gesicht und erschaffen so ein Gespenst (spectre). Er ist nur ein Oberkörper mit einer Katze, ikonografisch simpel und einprägsam und durch das fehlende Gesicht setzt er der Fantasie keine Grenzen, um in totale Paranoia zu verfallen. Er ist sadistisch und hinterhältig selbst zu seinen Mitarbeitern und hat stets einen Knopf parat, der Menschen qualvoll in einen überraschenden Tod stürzen lässt. Sein einziges Charakteristikum ist das verkommene Wesen, das sonst nicht festzumachen ist. Hinter jeder Mauer kann sein Syndikat lauern, welches verschlagen und mächtig genug ist, um die Welt aus den Angeln zu heben. Der Schrecken hat zwar einen Namen, sonst ist er nur die Heimsuchung der eigenen Fantasie.

Den Produzenten Saltzman und Broccoli kann vorgeworfen werden, dass sie in Man lebt nur zweimal Blofeld ein Gesicht geben ließen und damit seinem Untergang zu einer Witzfigur ausgelöst haben. Doch das eben Beschriebene ist das Bild von Blofeld in meiner Fantasie, denn die Filme haben den Mythos, das Gespenst von Anfang an mit Stücken von Wirklichkeit kontaminiert. Die Ausnahme bleibt James Bond 007 jagt Dr. No. S.P.E.C.T.R.E. wird nur kurz erwähnt und bleibt so für den Zuschauer ein bedrohliches Mysterium. In Liebesgrüße aus Moskau und Feuerball, so geheimnisvoll sie Blofeld auch beginnen aufzubauen, wird das mögliche Mysterium aber schon abgeschwächt. Jedes Mal sitzt er Menschen gegenüber, mit denen er interagiert. Er ist aus Fleisch und Blut und nur dem Zuschauer wird das Gesicht vorenthalten. Dr. Claw oder die Anführer von F.O.W.L., beides deutliche Epigonen von Blofeld, haben die Lektion gelernt, sie sind nur per Fernsehübertragung zu erreichen und selbst für ihrer Mitarbeiter Phantome. Doch der schlimmste Makel in diesen Filmen ist vor allem die Durchnummerierung der S.P.E.C.T.R.E.-Mitglieder… streng nach Rang und Können. Diese magenverkrampfende Versinnbildlichung von Leistungsdruck, reißt Blofeld aber in einen Malstrom gen Enträtselung. Nachdem Bond die Top Ten getötet hat, kann er kaum gegen den Bodensatz oder gegen eine neue Nummer Zwei kämpfen. Ihm bleibt nur das I-Tüpfelchen.

Donald Pleasence spielt in Man lebt nur zweimal einen beeindruckenden Blofeld. Die Macher gaben sich alle Mühe, dem von ihnen geschaffenen Mythos gerecht zu werden. Doch danach wurde er zu einem überflüssigen Anhängsel. Er wurde das, was die Filme bisher verbargen, denn durch den Beweis seiner Realität wurde er zu einer Witzfigur die sich hinter lächerlichen Jalousien versteckt oder auf Jachten hockt, böses Genie spielt und über Fische philosophiert. Er war kein Phantom mehr, sondern für jeden sichtbar und damit uninteressant, weil verarbeitet, denn Angst verbreitet nur das Unbekannte.

Im Geheimdienst ihrer Majestät und Diamantenfieber versuchen auch kaum zu verstecken wie wenig Mühe sie sich mit der Figur geben. Telly Savalas spielt ohne Narbe und wühlt im Dreck der Wirklichkeit, sprich: er jagt Bond auf Skiern und mit Schnellfeuerwaffe hinterher und prügelt sich gar mit ihm. Eine Katze ist nirgends zu sehen. Und warum erkennen sie sich nicht, sie haben sich doch bereits getroffen? Sein Abgang dient auch nur noch als Sprungbrett für einen Treppenwitz. Diamantenfieber versucht nochmals mit dem einführen von chirurgisch gefertigten Doppelgängern, Blofeld Richtung Fantômas oder Dr. Mabuse zu rücken, aber sichtlich uninspiriert tötet Bond diese einfach. Zurück bleibt ein Feigling (Hatte der nicht mal ne Glatze? Sieht er nicht irgendwie wie Dikko Henderson aus Man lebt nur zweimal aus?), der wieder einmal schon vorm endgültigen Scheitern flieht (darf er doch nicht gefasst werden) und von Bond der Lächerlichkeit preisgegeben wird, da er in seiner U-Boot-Kapsel von Bond am Kran gefangen und hilflos wie von einem Puppenspieler gehandhabt wird. Kläglich verhallen seine Schreie, welche den ihm gebührenden Respekt einfordern. Augenscheinlich hatte er noch nicht erkannt, wie tief er gesunken ist.

Mit dem Auftritt von Roger Moore verschwindet dann auch Blofeld. Zu sehr hatte er sich überlebt. In In tödlicher Mission taucht er nochmal auf, aber nur um kurz zu Beginn von Bond in einen Schornstein geworfen zu werden. Ohne ihm Würde zu geben, wird er abserviert… mit einem herablassenden Klaps auf die Fontanelle wurde er entsorgt. Ich habe ihn über Inspektor Gadget und Darkwing Duck kennen gelernt und träume immer wieder den Traum eines gesichtslosen Schreckgespenstes, dass die Welt in ihren Klauen hält. Wenn ich die Filme sehe, wird mir aber immer wieder klar, dass es dieses nie gegeben hat.


[i] Eco, Umberto: Die erzählerischen Strukturen im Werk Ian Flemmings, in: Ders.: Apokalyptiker und Integrierte, Frankfurt am Main 1986, S. 273-312, S. 281.

Aktion deutscher Film

Seit dem März 2011 gibt es die Aktion deutscher Film, dem geneigten Leser auch als DÖS bekannt. Gestartet wurde sie durch den intergalaktischen Affenmann. Seit dem März 2011 soll dem deutschsprachigen Film mehr Aufmerksamkeit gewidmet werden. Zu Stiefmütterlich werde er behandelt. Seit März 2011 frage ich mich, was den deutschen Film ausmacht. Und was den österreichischen. Und was weiß ich überhaupt über den schweizerischen. Und vor allen Dingen, ob es überhaupt nötig ist, sich darüber Gedanken zu machen.

Zeit für DÖS

Einer meiner Freunde hasst deutsche Filme. Er hat mir einmal erzählt, dass diese schon am Aussehen erkannt werden können. Die Hässlichkeit der Bilder von Material und Farbgebung würden ihrer Deutschheit preisgeben. Die Selbstdenunziation der Schreckgestalt. Doch die Frage bleibt, was war zuerst da. Die Hässlichkeit oder der Hass. Ich für meinen Teil wusste damals, was er meinte. Aber ich bin mir sicher, dass der französische, der japanische, der brasilianische oder der US-amerikanische Film auch anders wirken würden, alltäglicher und beschämender, wenn er in Form von billigen Fernsehproduktionen uns ein Leben lang umgeben hätte. Wenn er nicht fremd wär, sondern vertraut. Wenn der kalte, erdrückende Schatten der Minderwertigkeit, der von Hollywood ausgestrahlt wird, auf ihm zu spüren wäre.

Eine Freundin von mir sagte, dass sie wohl keine 10 Filme für eine Top Ten zusammenbekommen würde. Auch sie verstand ich, aber je länger ich darüber nachdenke, desto mehr Filme fallen mir ein. Der deutsche Film braucht vielleicht nicht mehr Aufmerksamkeit, sondern mehr Bewusstheit dafür, dass dieses vertraute Etwas nicht nur aus dem ganzen Mist besteht, der uns umgibt, den es überall gibt, sondern dass er auch diese wunderbaren Filme hat, wie es sie nirgendwo anders gibt.

2006 kam ein Film in die Kinos, der da Pingpong hieß. Er war dezent, spielerisch und wunderschön … bis das Ende kam. Plötzlich packte der Film den Zuschauer am Kragen und drückte ihn mit der Nase voran in die Jauchegrübe der menschlichen Gefühle. Verflogen waren die Kunst der Andeutungen und die Leichtigkeit. Alles unter der dramatischsten aller Möglichkeiten schien zu klein, zu unbedeutend. Es war ein überzogener, unnötiger, abstoßender Schlag in die Nierengegend und ich dachte so bei mir, dass diese grobschlächtigen Deutschen es nie lernen werden, etwas Kleines, Zierliches erschaffen zu können. Natürlich stimmt das nicht, aber seien sie dafür gepriesen, dass sie beharrlich daran scheitern. Denn dem deutschen Filme ist eine Künstlichkeit zu eigen, wie sie niemand sonst hat. Es ist nicht die verspielte der Franzosen, die dezente oder exaltiert hysterische der Japaner oder die Künstlichkeit eines Vergnügungsparkes wie in Hollywood. Es ist eine derbe, mitweilen hysterische Künstlichkeit mit Hang zur großen Geste. Damit sind die deutschen Filme immer noch Brecht und dem Expressionismus verpflichtet, genau wie Hegel und dem Militarismus der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Kurz: dem dumpfen, individualisierenden Morast der Geschichte.

Problemtisch bleibt für mich aber, dass DÖS in meiner Wahrnehmung im Grunde nur ein dreiviertel D auszumachen scheint. Österreich, mit seinem süßlichen Hang zur Morbidität, ist mir nur über Haneke, Seidl und ein paar alte Filme aus der Standard-Edition ein Begriff. Viel zu wenig weiß ich darüber. Noch düsterer sieht es mit der Schweiz aus, da kenne ich nur Daniel Schmid vom Namen her. Sonst herrscht kaum voreingenommenes Unwissen. Doch der schwärzeste Fleck ist ein gewollter. Die DDR und ihre Filme haben bei mir lange nur Scham hervorgerufen und erst Der geteilte Himmel machte mir deutlich, wie sehr ich mich für diese Filme schäme, für ihre erzwungene Verbohrtheit, ihre möglichen Rückschlüsse auf mich und wie unnötig dieses Schämen doch ist. Nie war mir Bourdieus Aussage: „[…] so stark zwingt sich noch den Angehörigen der unteren Klassen und deren Wortführern das Gefühl kultureller Unwürdigkeit auf.“, verständlicher. Und daran erinnert mich diese Aktion immer wieder: Unwissen, sinnlose Scham und den Willen beides abzuschütteln. Auf! Auf!

Und nun streng unchronologisch … die Perlen:
10. Pingpong (D 2006)

Ich konnte ihn bis zum Schreiben des oberen Textes nicht leiden. Jetzt habe ich mich aber selbst überzeugt, dass ich von ihm nicht los komme und dass alles, was ich zu ihm zu sagen habe, sich eigentlich ziemlich gut anhört. Hab ihn nie wieder gesehen, aber hiermit habe er einen Platz.



9. Gegen die Wand (D/TR 2004)

DAS Melodrama des neuen Jahrhunderts. Etwas sensibel inszeniert und gespielt (bis auf Sibel Kekilli, die sehr hölzern agiert), aber trotzdem mit der Schlagkraft eines Holzhammers. Der süßliche, nie hoffnungslose Fatalismus lässt eine energische Liebe Akins zu seinen Figuren und dem Leben mit all seinen Schmerzen spüren. Außerdem hat ein Film mit einem Lied der Birthday Party immer schon gewonnen.

8. Aguirre, der Zorn Gottes (BRD 1972)

Besessenheit soweit das Auge reicht. Der Regisseur, der Hauptdarsteller, die Hauptfigur, die Affen, alle werden von ihrem unstillbaren Durst nach Bedeutung angetrieben. Die manische Qualität des Films ist beängstigend, breitet sie sich doch epidemisch aus…  aus den Augen Kinskis, aus den Bildern und aus dem Soundtrack von Popol Vuh flirrt sie und lockt den Zuschauer in ihr irrationales Reich.

7. Vampyr (D 1932)

Im Grunde ist es kein deutscher Film. Auch kein dänischer. Was Dreyer gedreht hat, ist aus Zeit und Raum gefallen. Es wirkt alt, älter als jeder Stummfilm, aus grauer Vorzeit scheint es zu kommen. Jegliche Regeln des guten Filmmachens über den Haufen rennend, wird die Welt aus den Angeln gehoben. Die Nacht ist taghell und trotzdem nicht die schlechteste amerikanische Nacht der Filmgeschichte. Schatten wandern eigenständig und Bilder laufen rückwärts, doch es sind nicht nur optische Spielereien. Die Realität ist weit entfernt. Im Gegensatz zu Lang, Hitchcock oder Clair experimentiert Dreyer auch nicht mit den neuen Möglichkeiten des Tons, sondern scheint ihn verstecken zu wollen. War La passion de jean d’arc ein stummer Schrei aus dem Mittelalter, ist Vampyr ein erstickter Gesang aus einer Zwischenwelt.

6. Rocker (BRD 1972)

Ungestüm, roh und meilenweit entfernt von lupenreinen Geschichtenerzählen oder hochwertigem Schauspiel. Alles ist unfertig und geradezu lächerlich, aber mit einer solchen Dringlichkeit ausgestattet, dass Perfektion oder Kunstfertigkeit nur gestört hätten. Blut, Schweiß und Dreck strömen förmlich von der Leinwand auf den Zuschauer nieder … beziehungsweise aus dem Fernsehschirm, denn dieser Film über Rocker, Zuhälter und das Verloren sein auf der Straße wurde vom ZDF produziert, diesen experimentierfreudigsten aller deutschen Sender.

5. Der Stand der Dinge (BRD/P/USA 1982)

Erst bleiben die Dinge stehen. Das Filmmaterial und Geld bleiben aus. Ein Filmteam ist zur Untätigkeit verdammt. Die äußere und innere Leere versuchen die Gefangenen mit prätentiösen Gesten aufzufüllen um über den Anschein von Bedeutsamkeit Bedeutung zu erlangen. Das alles wäre vielleicht einer der schlimmsten Werke, die Wim Wenders mit seinem Willen zur Kunst mit der Brechstange je geschaffen hätte, wenn das Ende nicht wäre. Dort geht es um den (Zu-)Stand der Dinge und was gemeinhin als Abrechnung mit Coppola gelesen wird, ist tatsächlich eine bitterböse, spöttische Abrechnung mit der Filmindustrie, dem Zuschauer und vor allem von Wenders‘ mit sich selbst… und dem davor Gesehenem. “Hollywood, Hollywood, never been a place where people had it so good.”

4. Solo Sunny (DDR 1980)

Deutschland in postapokalyptischer Zeit, den 80er Jahren. Sunny möchte schlafen mit wem sie möchte, leben wie sie möchte und als Sängerin respektiert werden. Mit fast schon Ozu-hafter Sensibilität fängt Konrad Wolf ein, wie sie auf eine unnachgiebige Wirklichkeit trifft, in der die Dinge nicht immer so laufen wie sie will… in der sie nicht nur mit ihrer Umwelt, sondern auch mit sich kämpfen muss… ohne dabei wehklagend zu werden, denn dafür hat Solo Sunny zu viel Witz. So erzählt einer, der da Benno Bohne heißt, zu Beginn einen Witz und das Setting ist klar. Nicht die vergilbten Tapeten aus den 70ern, der von allen Häusern bröckelnde Putz oder das bornierte Verhalten der Menschen gehen an die Nieren mit ihrem erdrückenden Mief, sondern dieser Witz von Benno Bohne und wie er von Konrad Wolf eingefangen wird. Alles was folgt ist nur Ausarbeitung… lockerleichte, lyrische Ausarbeitung.

3. Die Ehe der Maria Braun (BRD 1979)

Fassbinders Auftakt seiner BRD-Trilogie hat mir auf Jahre hinweg Fassbinder vergrätzt. Ich empfand ihn als langatmig, nichtssagend und in vielerlei Hinsicht übertrieben… das Sinnbild einer spröden, wichtigtuerischen Künstlichkeit. Als ich ihn wiedersah, habe ich mich sofort in ihn verliebt. Plötzlich war er alles andere als spröde, sondern ein durch seine atemberaubende Kunstfertigkeit dicht angefülltes Wunderwerk. Obsessionen, Schuld und Sühne, der blanke Wille zum Leben, die Wunden des Lebens. All das wird zu einem ergreifenden Monument.

2. Abwege (D 1928)

Georg Wilhelm Pabst’ vergessenes Meisterwerk. Erst seit 1998 gibt es wieder eine vollständige Version und die hat es in sich. Irene Beck, gespielt von der Königin des Overacting Brigitte Helm, will sich nicht im ehelichem Heim einsperren lassen. Zu verlockend erscheinen die Einladungen ihrer Freunde. Folglich flüchtet sie in die Clubs von Berlin um Ausgelassenheit, Drogen und Orgien zu finden, die ebenso viel Leere bieten wie ihre Ehe. Auch die Affäre mit Maler Frank scheint sie nicht befriedigen zu können. Pabst und sein Kameramann Sparkuhl zeigen wo der Hammer hängt, nämlich an Bildern die je nach Situation kristallklar oder komplett entrückt sind. Raoul Coutard hat diesen Film entweder nie gesehen oder in sich aufgesogen. Das Ende ist schließlich so befriedigend wie eine vorzeitige Ejakulation und lässt es gar nicht zu, dass Abwege verarbeitet werden könnte. Er beißt sich im Kopf fest und will ihn nie wieder verlassen. (Das Abwege eine DVD-Veröffentlichung bekommt, sei hiermit gewünscht.)

1. Die dritte Generation (BRD 1979)

Deutschland am Rande des Nervenzusammenbruches. Eine Komödie des Unbehagens ohne Pointen. Jahrelang habe ich mich gewehrt und wollte diesen Film nur gut finden. Die Hysterie, bis zum Anschlag aufgedreht, war zu unbehaglich. Die gefühlt 5000 Tonspuren zu wirr. Die Figuren zu kläglich in ihrem Handeln. Die Schauspieler zu überdreht. Doch irgendwann wurde mir klar, dass es so sein muss. Dass es nicht anders sein kann. Ein tiefer Blick ins Herz der BRD. Oder wie sagt Gerhard Gast … für vieles hier so passend: „Am Ende braucht man, was man früher zum Kotzen fand.”

Kontrapunkt: Film vs. Buch – Frühstück bei Tiffany

Frühstück bei Tiffany Film vs. Buch

Die Popularität vom Kurzroman und seiner Adaption sind annähernd gleich groß: Hier das neben “Kaltblütig” bekannteste Werk des brillanten Literaten Truman Capote, dort ein Klassiker der Filmgeschichte von Blake Edwards, dessen oscarprämierter Song “Moon River” bis heute zum Mitsingen einlädt. Hier das nüchterne Porträt einer zerbrechlichen jungen Frau mit Widersprüchen aus der distanzierten Sicht eines Freundes, dort stark emotionalisiertes, weichgespültes Hollywoodkino. Und genau darin sind die meisten Unterschiede zu finden.

Hauptfiguren in beiden Medien sind Holly Golightly (Audrey Hepburn) und ihr bester, namenloser Freund, den Holly im Buch stets Fred – nach ihren Bruder – nennt und der im Film als Paul Varjak (George Peppard) auftritt. Die Umstände ihres Kennenlernens könnten aber nicht verschiedener beschrieben werden. Capote nähert sich Holly langsam an, über ihren Briefkasten, ihren Müll, ihre optische Erscheinung, hüllt sie in eine mysteriöse Aura. Der erste unmittelbare Kontakt erfolgt durch  ein nächtliches Klingeln. Eine Begegnung mit einem “ganz schrecklichen”, beißenden Mann (S. 21) lässt sie über die Feuertreppe zum Ich-Erzähler flüchten und ins Gespräch kommen. Im Film klingelt der neue Mieter Paul Varjak direkt bei Holly, da er noch keinen Haustürschlüssel besitzt. Ihre Begegnung wirkt somit weniger spröde und zufällig, sondern gestellt, auch weil sie ihm gleich von ihrer Bekanntschaft mit Mafiosi Sally Tomato erzählt, den sie in Sing Sing besuchen wird.

Auratische Annäherung

Diesem langsamen, fast schon götzenähnlichen Gestus bei der Annäherung im Buch folgend, ist das die Erzählung initiierende Moment ein Foto mit einem Motiv, welches Holly ähnelt. (Dieses fehlt im Film komplett.) Mr. Yunioshi hat in Afrika eine Holzskulptur fotografiert, welche “Holly Golightly zum Verwechseln ähnlich [sah], zumindest so ähnlich, wie ein dunkles, regloses Ding sein konnte.” (S. 9). Durch dieses ikonische Abbild wird das mentale Bild, die Erinnerung des Ich-Erzählers angestoßen. Eine Erinnerung übrigens, die in die Zeit des zweiten Weltkriegs zurückreicht (es ist von rationierten Lebensmitteln, Wehrdienst und einmal vom Jahr 1943 die Rede), während der Film zum Zeitpunkt seiner Entstehung (1961) spielt. Auffällig soll sich diese “Zeitverschiebung” später bei dem Telegramm um den Tod von Hollys Bruder Fred äußern, der im Buch als Soldat im Krieg gefallen ist, während im Film ein Autounfall seinen Tod herbeiführte.

Während der Ich-Erzähler im Buch öfter Kontakt mit Barbesitzer Joe Bell hat, wenn es um Schlüsselsituationen mit Holly geht (Joe ruft ihn an wegen des Fotos von Mr. Yunioshi; bei Joe versteckt sich Holly kurz vor ihrer Flucht aus dem Land), fehlt diese Figur in der Adaption ganz. An seiner statt wird, auch aufgrund der Fokussierung auf eine verwickelte romantische Geschichte, die “Dekorateurin” von Paul “dazuerfunden”. Eine narrative Bedeutung abseits des Verhinderns einer früheren Affäre zwischen Holly und Paul und der später daraus erwachsenden emotionalen Komponente hat sie jedoch nicht, auch, weil sie urplötzlich aus dem Film verschwindet.

“Tiffany’s” als Metapher

Capote schreibt mit Holly, die eigentlich Lulamae heißt, von einem unsteten, sprunghaften, ja verruchtem Wesen – ähnlich einer Prostituierten – mit einer schwierigen Biografie. Edwards erzählt von einem glatt gebügelten, ebenso naiven wie verletzlichen Pin-Up-Partygirl, dessen zweifelhafte Finanzierung ihres Lebens nur angedeutet wird (“50 Dollar für die Toilette”). Die Sehnsucht nach Sicherheit von Holly ist demzufolge eine andere: Bei Capote nach Beständigkeit im Krieg (sie will dem brasilianischen Diplomaten José nachreisen, um ihre Verstrickungen ins organisierte Verbrechen hinter sich zu lassen), bei Edwards nach Luxus und Flucht vor der eigenen Verantwortung. Das Schmuckunternehmen “Tiffany’s” steht bei Capote für dauerhafte Werte, auch in gefährlichen Zeiten, bei Edwards eher für Kritik an einer oberflächlichen Konsumgesellschaft, in der Besitz und Eigentum weniger zählt als individuelle Freiheit, was sich auch in einigen Diebstahl-Aktionen äußert. Umso bedenklicher und eigenwilliger, wie Paul im Buch die konservativen Werte der Liebesbeziehung als Hort der Sicherheit überbetont und die umtriebige Holly davon überzeugt. Capotes Ich-Erzähler war stets der teilnehmende Beobachter, der gute Freund, der Holly zum Flughafen bringt zu ihrem Flug nach Brasilien und schließlich aus den Augen verliert. Paul in der Verfilmung ist der unmittelbar Beteiligte, liebt Holly, gewinnt sie für sich für ein befriedigendes Happy End im kitschigen Stadtregen. Dort abgründiges Familien- und Psychodrama, hier romantische Liebeskomödie. Diese Genrezuschreibung des Films äußert sich insbesondere sowohl in dem als aufbrausende Witzfigur auftretenden Mr. Yunioshi (Mickey Rooney) als auch der grotesk überhöhten Partyszenerie mit brennenden Kopfbedeckungen und einem knutschenden Pärchen hinterm Duschvorhang.

Wie so oft wurden auch bei dieser Verfilmung einige Episoden aus dem Buch weggelassen oder abgeändert. Neben einer Verknappung des Films, welche sich auch in Dialogen wie um die Flucht Hollys, der nicht im Krankenhaus, sondern im Taxi stattfindet, äußert, fehlen einige Facetten ihrer Charakterzeichnung ganz. Von einer “kapriziös ungeschickten Kindergartenschrift” (S. 33) und einer sexuellen Dimension wie dem Einwickeln der Männer mit Baseball und Pferden (S. 44) erfährt man ebenso wenig wie von einer biestigen Gemeinheit eines stotternden weiblichen Partygasts gegenüber (S. 52/53) oder von einem Streit über die schöngeistige, aber brotlose Kunst des Ich-Erzählers (S. 72/73). Bei Blake Edwards fehlen Holly die Widerhaken, die nicht ganz in das Bild der auf dem Fensterbrett “Moon River” trällernden, verträumt dreinschauenden Rehaugen-Schönheit passen. Wenn Blake Edwards’ Film letztlich trotz der tiefsinnigen Vorlage nicht mehr ist als eine von Hollywoods klassischsten Liebesgeschichten, dann hat sich doch zumindest diese magische Szene ins kollektive Bewusstsein des Cineasten unsterblich eingebrannt.

Die Seitenzahlen und Zitate beziehen sich auf die 2009 im Goldmann-Verlag erschienene Übersetzung von Heidi Zerning.
Die zuletzt beschriebene Szene umMoon River“:

[youtube]http://www.youtube.com/watch?v=BOByH_iOn88[/youtube]